pse_121.001 sondern in der Gestalt solcher Kunstwerke scheint dieses pse_121.002 Tiefe durch; je vollendeter die Form einer Dichtung, desto pse_121.003 eindringlicher erscheinen in ihr die Gründe der Welt. Nur in pse_121.004 dieser Form sind in Dichtungen auch andere Wertgebiete pse_121.005 eingeordnet. Dichtung lehrt nie Weltanschauung, doch kann pse_121.006 sie durch die Verwesentlichung in ihrer Gestalt gleichsam pse_121.007 Lebens- und Leitbilder vor uns hinstellen. Wir dürfen in pse_121.008 Dichtungen nie philosophische "Richtigkeit" erwarten. Sie pse_121.009 ringen nicht um letzte Erkenntnis, sondern sie überzeugen pse_121.010 durch die Kunstgestalt. Sie setzen das Werk der Sprache fort: pse_121.011 schon in der Sprache baut der Mensch die geistige Welt auf, pse_121.012 die ihm die wirkliche ordnet und verstehbar macht oder mindestens pse_121.013 in ihrer Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit öffnet. pse_121.014 Die Dichtung setzt hier auf einem Weg fort, die Philosophie pse_121.015 auf einem anderen. Diese sucht über die sprachgebundene pse_121.016 Geisteswelt zu reinen Erkenntnissen vorzudringen, jene pse_121.017 die Tiefen der Welt durch noch vollendetere Gestaltung pse_121.018 erlebbar zu machen. Die Spannung zwischen der philosophischen pse_121.019 Wahrheit und der im Schleier der Dichtung greifbaren pse_121.020 bleibt bestehen: es ist die Spannung zwischen zwei pse_121.021 Weisen, die Welt zu erfassen. Dem philosophischen Streben pse_121.022 bleibt das Ringen um eine vielleicht nie erreichbare reine pse_121.023 Wahrheit, der Dichtung eignet eine vollendete Gestalt, die pse_121.024 wir als Schönheit bezeichnen dürfen; in ihr rundet sich ein pse_121.025 Weltbild, gleichgültig in welchem Umfang, das den Charakter pse_121.026 des Abschlusses hat. "Die nicht-ästhetische Wahrheitsfrage pse_121.027 hat einen anderen Sinn als die ästhetische, und beide pse_121.028 Fragen können nicht auf ein und derselben logischen Ebene pse_121.029 miteinander polarisiert werden. Das Wahre, das im Sinngefüge pse_121.030 des Schönen erscheint, ergibt sich einer anderen Situation, pse_121.031 einer anderen Ursprünglichkeit des Selbst- und Wertbewußtseins pse_121.032 als das Wahre im Sinngefüge des philosophischen pse_121.033 Satzes oder das Wahre im Kairos der religiösen Entscheidung" pse_121.034 (Holthusen).
pse_121.035 Im folgenden bleiben wir bei der Frage nach dem Weltbild pse_121.036 der Dichtung und lassen die Frage nach Weltanschauung, pse_121.037 also nach einer Art aktiver Weltgestaltung, im Hintergrund. pse_121.038 Kann man von einem Weltbild der Dichtung reden? Muß
pse_121.001 sondern in der Gestalt solcher Kunstwerke scheint dieses pse_121.002 Tiefe durch; je vollendeter die Form einer Dichtung, desto pse_121.003 eindringlicher erscheinen in ihr die Gründe der Welt. Nur in pse_121.004 dieser Form sind in Dichtungen auch andere Wertgebiete pse_121.005 eingeordnet. Dichtung lehrt nie Weltanschauung, doch kann pse_121.006 sie durch die Verwesentlichung in ihrer Gestalt gleichsam pse_121.007 Lebens- und Leitbilder vor uns hinstellen. Wir dürfen in pse_121.008 Dichtungen nie philosophische »Richtigkeit« erwarten. Sie pse_121.009 ringen nicht um letzte Erkenntnis, sondern sie überzeugen pse_121.010 durch die Kunstgestalt. Sie setzen das Werk der Sprache fort: pse_121.011 schon in der Sprache baut der Mensch die geistige Welt auf, pse_121.012 die ihm die wirkliche ordnet und verstehbar macht oder mindestens pse_121.013 in ihrer Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit öffnet. pse_121.014 Die Dichtung setzt hier auf einem Weg fort, die Philosophie pse_121.015 auf einem anderen. Diese sucht über die sprachgebundene pse_121.016 Geisteswelt zu reinen Erkenntnissen vorzudringen, jene pse_121.017 die Tiefen der Welt durch noch vollendetere Gestaltung pse_121.018 erlebbar zu machen. Die Spannung zwischen der philosophischen pse_121.019 Wahrheit und der im Schleier der Dichtung greifbaren pse_121.020 bleibt bestehen: es ist die Spannung zwischen zwei pse_121.021 Weisen, die Welt zu erfassen. Dem philosophischen Streben pse_121.022 bleibt das Ringen um eine vielleicht nie erreichbare reine pse_121.023 Wahrheit, der Dichtung eignet eine vollendete Gestalt, die pse_121.024 wir als Schönheit bezeichnen dürfen; in ihr rundet sich ein pse_121.025 Weltbild, gleichgültig in welchem Umfang, das den Charakter pse_121.026 des Abschlusses hat. »Die nicht-ästhetische Wahrheitsfrage pse_121.027 hat einen anderen Sinn als die ästhetische, und beide pse_121.028 Fragen können nicht auf ein und derselben logischen Ebene pse_121.029 miteinander polarisiert werden. Das Wahre, das im Sinngefüge pse_121.030 des Schönen erscheint, ergibt sich einer anderen Situation, pse_121.031 einer anderen Ursprünglichkeit des Selbst- und Wertbewußtseins pse_121.032 als das Wahre im Sinngefüge des philosophischen pse_121.033 Satzes oder das Wahre im Kairos der religiösen Entscheidung« pse_121.034 (Holthusen).
pse_121.035 Im folgenden bleiben wir bei der Frage nach dem Weltbild pse_121.036 der Dichtung und lassen die Frage nach Weltanschauung, pse_121.037 also nach einer Art aktiver Weltgestaltung, im Hintergrund. pse_121.038 Kann man von einem Weltbild der Dichtung reden? Muß
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dieser Form sind in Dichtungen auch andere Wertgebiete pse_121.005
eingeordnet. Dichtung lehrt nie Weltanschauung, doch kann pse_121.006
sie durch die Verwesentlichung in ihrer Gestalt gleichsam pse_121.007
Lebens- und Leitbilder vor uns hinstellen. Wir dürfen in pse_121.008
Dichtungen nie philosophische »Richtigkeit« erwarten. Sie pse_121.009
ringen nicht um letzte Erkenntnis, sondern sie überzeugen pse_121.010
durch die Kunstgestalt. Sie setzen das Werk der Sprache fort: pse_121.011
schon in der Sprache baut der Mensch die geistige Welt auf, pse_121.012
die ihm die wirkliche ordnet und verstehbar macht oder mindestens pse_121.013
in ihrer Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit öffnet. pse_121.014
Die Dichtung setzt hier auf einem Weg fort, die Philosophie pse_121.015
auf einem anderen. Diese sucht über die sprachgebundene pse_121.016
Geisteswelt zu reinen Erkenntnissen vorzudringen, jene pse_121.017
die Tiefen der Welt durch noch vollendetere Gestaltung pse_121.018
erlebbar zu machen. Die Spannung zwischen der philosophischen pse_121.019
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Weisen, die Welt zu erfassen. Dem philosophischen Streben pse_121.022
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Wahrheit, der Dichtung eignet eine vollendete Gestalt, die pse_121.024
wir als Schönheit bezeichnen dürfen; in ihr rundet sich ein pse_121.025
Weltbild, gleichgültig in welchem Umfang, das den Charakter pse_121.026
des Abschlusses hat. »Die nicht-ästhetische Wahrheitsfrage pse_121.027
hat einen anderen Sinn als die ästhetische, und beide pse_121.028
Fragen können nicht auf ein und derselben logischen Ebene pse_121.029
miteinander polarisiert werden. Das Wahre, das im Sinngefüge pse_121.030
des Schönen erscheint, ergibt sich einer anderen Situation, pse_121.031
einer anderen Ursprünglichkeit des Selbst- und Wertbewußtseins pse_121.032
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Satzes oder das Wahre im Kairos der religiösen Entscheidung« pse_121.034
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pse_121.035
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der Dichtung und lassen die Frage nach Weltanschauung, pse_121.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/137>, abgerufen am 21.11.2024.
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