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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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pse_139.001
eines Dramas, einer Ballade und bis zu einem gewissen Grade pse_139.002
auch eines lyrischen Gedichts irgendwie von dem Wie, von pse_139.003
der Art, wie der Dichter die Geschichte erzählt, das Drama pse_139.004
aufbaut, sein Gefühl ausdrückt (das soll beileibe noch keine pse_139.005
Definition der Dichtungsgattungen sein!) unterscheiden: pse_139.006
Inhalt -- Form.

pse_139.007
Die Schwierigkeit beginnt schon beim Worte Form. Das pse_139.008
Wort hat die mannigfaltigsten Seiten in seinem Gehalt. Man pse_139.009
sagt, es habe eine Fülle von Bedeutungen. Die Geschichte der pse_139.010
Ästhetik und Poetik kann uns zeigen, was alles man mit pse_139.011
diesem Wort in der Kunstwissenschaft meint. Für den italienischen pse_139.012
Philosophen Croce ist Form Gehalt, Valery betont pse_139.013
die formalen Gebilde, die der Engländer als patterns bezeichnet, pse_139.014
Eliot denkt an den schöpferischen Prozeß, Richards an die pse_139.015
psychologische Wirkung auf den Leser, Amerikaner unterscheiden pse_139.016
zwischen texture und structure, andere sehen in der pse_139.017
Form den inneren Zusammenhang, für Böckmann ist Form pse_139.018
Welterfassung, G. Müller und Oppel sehen in ihr einen pse_139.019
Organismus. Am radikalsten sind die russischen Formalisten: pse_139.020
für sie ist Form überhaupt das Prinzip des Kunstwerks, Inhalt pse_139.021
nur ein Aspekt der Form, für den der Dichter nicht verantwortlich pse_139.022
ist. Endlich hat auch die Unterscheidung von innerer pse_139.023
und äußerer Form die Gemüter der Theoretiker erregt. Das pse_139.024
ist nur eine Auslese! Was also ist nun Form?

pse_139.025
Wir geben zunächst eine Übersicht über die wichtigen und pse_139.026
grundlegenden Bedeutungen dieses Wortes für die Dichtungsbetrachtung. pse_139.027
Ausscheiden wollen wir die Gleichsetzung von pse_139.028
Form mit Formung. Formung ist der Vorgang, der zu einer pse_139.029
Form führt, nicht diese selbst. Eine erste Bedeutung ist die pse_139.030
von Form der Materie, das ist einleuchtend und braucht pse_139.031
nicht weiter erklärt zu werden: jedes Stück Materie hat eine pse_139.032
Form, jeder Stein, jedes Holz usw. Auch für die Künste ist pse_139.033
diese Bedeutung verwendbar: Für eine Statue wird ein pse_139.034
Block Marmor in eine Form gebracht. Aber bei der Dichtung pse_139.035
besteht hier schon die Schwierigkeit, daß Sprache keine bloße pse_139.036
Materie ist, sondern schon geformte; denn ihre Gebilde sind pse_139.037
nach bestimmten Regeln angeordnet (Regeln der Biegung, pse_139.038
der Satzstellung usw.), aber das hat mit Formung von

pse_139.001
eines Dramas, einer Ballade und bis zu einem gewissen Grade pse_139.002
auch eines lyrischen Gedichts irgendwie von dem Wie, von pse_139.003
der Art, wie der Dichter die Geschichte erzählt, das Drama pse_139.004
aufbaut, sein Gefühl ausdrückt (das soll beileibe noch keine pse_139.005
Definition der Dichtungsgattungen sein!) unterscheiden: pse_139.006
Inhalt — Form.

pse_139.007
Die Schwierigkeit beginnt schon beim Worte Form. Das pse_139.008
Wort hat die mannigfaltigsten Seiten in seinem Gehalt. Man pse_139.009
sagt, es habe eine Fülle von Bedeutungen. Die Geschichte der pse_139.010
Ästhetik und Poetik kann uns zeigen, was alles man mit pse_139.011
diesem Wort in der Kunstwissenschaft meint. Für den italienischen pse_139.012
Philosophen Croce ist Form Gehalt, Valéry betont pse_139.013
die formalen Gebilde, die der Engländer als patterns bezeichnet, pse_139.014
Eliot denkt an den schöpferischen Prozeß, Richards an die pse_139.015
psychologische Wirkung auf den Leser, Amerikaner unterscheiden pse_139.016
zwischen texture und structure, andere sehen in der pse_139.017
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Welterfassung, G. Müller und Oppel sehen in ihr einen pse_139.019
Organismus. Am radikalsten sind die russischen Formalisten: pse_139.020
für sie ist Form überhaupt das Prinzip des Kunstwerks, Inhalt pse_139.021
nur ein Aspekt der Form, für den der Dichter nicht verantwortlich pse_139.022
ist. Endlich hat auch die Unterscheidung von innerer pse_139.023
und äußerer Form die Gemüter der Theoretiker erregt. Das pse_139.024
ist nur eine Auslese! Was also ist nun Form?

pse_139.025
Wir geben zunächst eine Übersicht über die wichtigen und pse_139.026
grundlegenden Bedeutungen dieses Wortes für die Dichtungsbetrachtung. pse_139.027
Ausscheiden wollen wir die Gleichsetzung von pse_139.028
Form mit Formung. Formung ist der Vorgang, der zu einer pse_139.029
Form führt, nicht diese selbst. Eine erste Bedeutung ist die pse_139.030
von Form der Materie, das ist einleuchtend und braucht pse_139.031
nicht weiter erklärt zu werden: jedes Stück Materie hat eine pse_139.032
Form, jeder Stein, jedes Holz usw. Auch für die Künste ist pse_139.033
diese Bedeutung verwendbar: Für eine Statue wird ein pse_139.034
Block Marmor in eine Form gebracht. Aber bei der Dichtung pse_139.035
besteht hier schon die Schwierigkeit, daß Sprache keine bloße pse_139.036
Materie ist, sondern schon geformte; denn ihre Gebilde sind pse_139.037
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[139/0155] pse_139.001 eines Dramas, einer Ballade und bis zu einem gewissen Grade pse_139.002 auch eines lyrischen Gedichts irgendwie von dem Wie, von pse_139.003 der Art, wie der Dichter die Geschichte erzählt, das Drama pse_139.004 aufbaut, sein Gefühl ausdrückt (das soll beileibe noch keine pse_139.005 Definition der Dichtungsgattungen sein!) unterscheiden: pse_139.006 Inhalt — Form. pse_139.007 Die Schwierigkeit beginnt schon beim Worte Form. Das pse_139.008 Wort hat die mannigfaltigsten Seiten in seinem Gehalt. Man pse_139.009 sagt, es habe eine Fülle von Bedeutungen. Die Geschichte der pse_139.010 Ästhetik und Poetik kann uns zeigen, was alles man mit pse_139.011 diesem Wort in der Kunstwissenschaft meint. Für den italienischen pse_139.012 Philosophen Croce ist Form Gehalt, Valéry betont pse_139.013 die formalen Gebilde, die der Engländer als patterns bezeichnet, pse_139.014 Eliot denkt an den schöpferischen Prozeß, Richards an die pse_139.015 psychologische Wirkung auf den Leser, Amerikaner unterscheiden pse_139.016 zwischen texture und structure, andere sehen in der pse_139.017 Form den inneren Zusammenhang, für Böckmann ist Form pse_139.018 Welterfassung, G. Müller und Oppel sehen in ihr einen pse_139.019 Organismus. Am radikalsten sind die russischen Formalisten: pse_139.020 für sie ist Form überhaupt das Prinzip des Kunstwerks, Inhalt pse_139.021 nur ein Aspekt der Form, für den der Dichter nicht verantwortlich pse_139.022 ist. Endlich hat auch die Unterscheidung von innerer pse_139.023 und äußerer Form die Gemüter der Theoretiker erregt. Das pse_139.024 ist nur eine Auslese! Was also ist nun Form? pse_139.025 Wir geben zunächst eine Übersicht über die wichtigen und pse_139.026 grundlegenden Bedeutungen dieses Wortes für die Dichtungsbetrachtung. pse_139.027 Ausscheiden wollen wir die Gleichsetzung von pse_139.028 Form mit Formung. Formung ist der Vorgang, der zu einer pse_139.029 Form führt, nicht diese selbst. Eine erste Bedeutung ist die pse_139.030 von Form der Materie, das ist einleuchtend und braucht pse_139.031 nicht weiter erklärt zu werden: jedes Stück Materie hat eine pse_139.032 Form, jeder Stein, jedes Holz usw. Auch für die Künste ist pse_139.033 diese Bedeutung verwendbar: Für eine Statue wird ein pse_139.034 Block Marmor in eine Form gebracht. Aber bei der Dichtung pse_139.035 besteht hier schon die Schwierigkeit, daß Sprache keine bloße pse_139.036 Materie ist, sondern schon geformte; denn ihre Gebilde sind pse_139.037 nach bestimmten Regeln angeordnet (Regeln der Biegung, pse_139.038 der Satzstellung usw.), aber das hat mit Formung von

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/155>, abgerufen am 21.11.2024.