pse_157.001 Welt. Das kann nie aus einem Wort ausgeschaltet werden: pse_157.002 das ist der rationale Kern jeder Dichtung. Aber im Wort pse_157.003 steckt noch mehr! Auch die Wirkung des Erfahrungsstücks pse_157.004 auf uns, unsere gemüthafte Einstellung dazu wird ursprünglich pse_157.005 hineingeformt. Glinz hat einmal sehr schön an Goetheversen pse_157.006 gezeigt, wie wir uns dichterisch das Entstehen eines pse_157.007 Wortes vorstellen können; wie das Gebilde zuerst ahnend pse_157.008 umgriffen wird, wie unser Fühlen daran beteiligt ist und wie pse_157.009 erst aus dem tiefen Erleben als Erlösung gleichsam das Wort pse_157.010 ersteht:
pse_157.011
Der du von dem Himmel bist,pse_157.012 Alles Leid und Schmerzen stillest,pse_157.013 Den, der doppelt elend ist,pse_157.014 Doppelt mit Erquickung füllest,pse_157.015 Ach, ich bin des Treibens müde!pse_157.016 Was soll all der Schmerz und Lust?pse_157.017 Süßer Friede,pse_157.018 Komm, ach komm in meine Brust!
pse_157.019
(Goethe, Wanderers Nachtlied)
pse_157.020
Die Gefühlhaftigkeit des Wortgehalts ist schon da deutlich. pse_157.021 Aber denken wir auch an Worte wie Meeresrauschen, Fliederduft, pse_157.022 Sonnenschein. Da können wir sehen, daß die Gemüthaftigkeit pse_157.023 eines Wortes nicht bloß in der Lautung liegt, pse_157.024 sondern auch im Gehalt. Beides kann nicht getrennt werden, pse_157.025 keine Sicht dürfen wir ausschalten, wenn wir das volle Worterlebnis pse_157.026 erfassen sollen. Daß vielfach der Gefühlston im pse_157.027 Wortgehalt sogar vorherrscht, können zwei Kindersätze pse_157.028 zeigen. In einem Aufsatz über das Schwein -- es war an eine pse_157.029 naturgeschichtliche Wiederholung gedacht -- schrieb ein pse_157.030 Kind: "Das Schwein verdient seinen Namen mit Recht." pse_157.031 Wir spüren hier deutlich, wie wirklich im Alltagsverkehr pse_157.032 dieses Wort in seinem Gehalt auf einen bestimmten Gefühlston pse_157.033 eingeengt worden ist. Oder ein anderes Kind fragte auf pse_157.034 die Feststellung, daß der Esel gar kein dummes Tier sei: pse_157.035 "Warum heißt er aber dann Esel?" Auch die sogenannten pse_157.036 Synonyma, das heißt die scheinbar gleichbedeutenden Wörter, pse_157.037 können uns lehren, wie Gefühlsschattierungen zur Unterscheidung pse_157.038 maßgebend sind. Zwischen "freimütig" und "unverschämt" pse_157.039 besteht kein Unterschied der rational faßbaren
pse_157.001 Welt. Das kann nie aus einem Wort ausgeschaltet werden: pse_157.002 das ist der rationale Kern jeder Dichtung. Aber im Wort pse_157.003 steckt noch mehr! Auch die Wirkung des Erfahrungsstücks pse_157.004 auf uns, unsere gemüthafte Einstellung dazu wird ursprünglich pse_157.005 hineingeformt. Glinz hat einmal sehr schön an Goetheversen pse_157.006 gezeigt, wie wir uns dichterisch das Entstehen eines pse_157.007 Wortes vorstellen können; wie das Gebilde zuerst ahnend pse_157.008 umgriffen wird, wie unser Fühlen daran beteiligt ist und wie pse_157.009 erst aus dem tiefen Erleben als Erlösung gleichsam das Wort pse_157.010 ersteht:
pse_157.011
Der du von dem Himmel bist,pse_157.012 Alles Leid und Schmerzen stillest,pse_157.013 Den, der doppelt elend ist,pse_157.014 Doppelt mit Erquickung füllest,pse_157.015 Ach, ich bin des Treibens müde!pse_157.016 Was soll all der Schmerz und Lust?pse_157.017 Süßer Friede,pse_157.018 Komm, ach komm in meine Brust!
pse_157.019
(Goethe, Wanderers Nachtlied)
pse_157.020
Die Gefühlhaftigkeit des Wortgehalts ist schon da deutlich. pse_157.021 Aber denken wir auch an Worte wie Meeresrauschen, Fliederduft, pse_157.022 Sonnenschein. Da können wir sehen, daß die Gemüthaftigkeit pse_157.023 eines Wortes nicht bloß in der Lautung liegt, pse_157.024 sondern auch im Gehalt. Beides kann nicht getrennt werden, pse_157.025 keine Sicht dürfen wir ausschalten, wenn wir das volle Worterlebnis pse_157.026 erfassen sollen. Daß vielfach der Gefühlston im pse_157.027 Wortgehalt sogar vorherrscht, können zwei Kindersätze pse_157.028 zeigen. In einem Aufsatz über das Schwein — es war an eine pse_157.029 naturgeschichtliche Wiederholung gedacht — schrieb ein pse_157.030 Kind: »Das Schwein verdient seinen Namen mit Recht.« pse_157.031 Wir spüren hier deutlich, wie wirklich im Alltagsverkehr pse_157.032 dieses Wort in seinem Gehalt auf einen bestimmten Gefühlston pse_157.033 eingeengt worden ist. Oder ein anderes Kind fragte auf pse_157.034 die Feststellung, daß der Esel gar kein dummes Tier sei: pse_157.035 »Warum heißt er aber dann Esel?« Auch die sogenannten pse_157.036 Synonyma, das heißt die scheinbar gleichbedeutenden Wörter, pse_157.037 können uns lehren, wie Gefühlsschattierungen zur Unterscheidung pse_157.038 maßgebend sind. Zwischen »freimütig« und »unverschämt« pse_157.039 besteht kein Unterschied der rational faßbaren
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0173"n="157"/><lbn="pse_157.001"/>
Welt. Das kann nie aus einem Wort ausgeschaltet werden: <lbn="pse_157.002"/>
das ist der rationale Kern jeder Dichtung. Aber im Wort <lbn="pse_157.003"/>
steckt noch mehr! Auch die Wirkung des Erfahrungsstücks <lbn="pse_157.004"/>
auf uns, unsere gemüthafte Einstellung dazu wird ursprünglich <lbn="pse_157.005"/>
hineingeformt. Glinz hat einmal sehr schön an Goetheversen <lbn="pse_157.006"/>
gezeigt, wie wir uns dichterisch das Entstehen eines <lbn="pse_157.007"/>
Wortes vorstellen können; wie das Gebilde zuerst ahnend <lbn="pse_157.008"/>
umgriffen wird, wie unser Fühlen daran beteiligt ist und wie <lbn="pse_157.009"/>
erst aus dem tiefen Erleben als Erlösung gleichsam das Wort <lbn="pse_157.010"/>
ersteht:</p><lbn="pse_157.011"/><lg><l><hirendition="#aq">Der du von dem Himmel bist,</hi></l><lbn="pse_157.012"/><l><hirendition="#aq">Alles Leid und Schmerzen stillest,</hi></l><lbn="pse_157.013"/><l><hirendition="#aq">Den, der doppelt elend ist,</hi></l><lbn="pse_157.014"/><l><hirendition="#aq">Doppelt mit Erquickung füllest,</hi></l><lbn="pse_157.015"/><l><hirendition="#aq">Ach, ich bin des Treibens müde!</hi></l><lbn="pse_157.016"/><l><hirendition="#aq">Was soll all der Schmerz und Lust?</hi></l><lbn="pse_157.017"/><l><hirendition="#aq">Süßer Friede,</hi></l><lbn="pse_157.018"/><l><hirendition="#aq">Komm, ach komm in meine Brust!</hi></l></lg><lbn="pse_157.019"/><p><hirendition="#right"><spacedim="horizontal"/><hirendition="#aq">(Goethe, Wanderers Nachtlied)</hi></hi></p><lbn="pse_157.020"/><p>Die Gefühlhaftigkeit des Wortgehalts ist schon da deutlich. <lbn="pse_157.021"/>
Aber denken wir auch an Worte wie Meeresrauschen, Fliederduft, <lbn="pse_157.022"/>
Sonnenschein. Da können wir sehen, daß die Gemüthaftigkeit <lbn="pse_157.023"/>
eines Wortes nicht bloß in der Lautung liegt, <lbn="pse_157.024"/>
sondern auch im Gehalt. Beides kann nicht getrennt werden, <lbn="pse_157.025"/>
keine Sicht dürfen wir ausschalten, wenn wir das volle Worterlebnis <lbn="pse_157.026"/>
erfassen sollen. Daß vielfach der Gefühlston im <lbn="pse_157.027"/>
Wortgehalt sogar vorherrscht, können zwei Kindersätze <lbn="pse_157.028"/>
zeigen. In einem Aufsatz über das Schwein — es war an eine <lbn="pse_157.029"/>
naturgeschichtliche Wiederholung gedacht — schrieb ein <lbn="pse_157.030"/>
Kind: »Das Schwein verdient seinen Namen mit Recht.« <lbn="pse_157.031"/>
Wir spüren hier deutlich, wie wirklich im Alltagsverkehr <lbn="pse_157.032"/>
dieses Wort in seinem Gehalt auf einen bestimmten Gefühlston <lbn="pse_157.033"/>
eingeengt worden ist. Oder ein anderes Kind fragte auf <lbn="pse_157.034"/>
die Feststellung, daß der Esel gar kein dummes Tier sei: <lbn="pse_157.035"/>
»Warum heißt er aber dann Esel?« Auch die sogenannten <lbn="pse_157.036"/>
Synonyma, das heißt die scheinbar gleichbedeutenden Wörter, <lbn="pse_157.037"/>
können uns lehren, wie Gefühlsschattierungen zur Unterscheidung <lbn="pse_157.038"/>
maßgebend sind. Zwischen »freimütig« und »unverschämt« <lbn="pse_157.039"/>
besteht kein Unterschied der rational faßbaren
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[157/0173]
pse_157.001
Welt. Das kann nie aus einem Wort ausgeschaltet werden: pse_157.002
das ist der rationale Kern jeder Dichtung. Aber im Wort pse_157.003
steckt noch mehr! Auch die Wirkung des Erfahrungsstücks pse_157.004
auf uns, unsere gemüthafte Einstellung dazu wird ursprünglich pse_157.005
hineingeformt. Glinz hat einmal sehr schön an Goetheversen pse_157.006
gezeigt, wie wir uns dichterisch das Entstehen eines pse_157.007
Wortes vorstellen können; wie das Gebilde zuerst ahnend pse_157.008
umgriffen wird, wie unser Fühlen daran beteiligt ist und wie pse_157.009
erst aus dem tiefen Erleben als Erlösung gleichsam das Wort pse_157.010
ersteht:
pse_157.011
Der du von dem Himmel bist, pse_157.012
Alles Leid und Schmerzen stillest, pse_157.013
Den, der doppelt elend ist, pse_157.014
Doppelt mit Erquickung füllest, pse_157.015
Ach, ich bin des Treibens müde! pse_157.016
Was soll all der Schmerz und Lust? pse_157.017
Süßer Friede, pse_157.018
Komm, ach komm in meine Brust!
pse_157.019
(Goethe, Wanderers Nachtlied)
pse_157.020
Die Gefühlhaftigkeit des Wortgehalts ist schon da deutlich. pse_157.021
Aber denken wir auch an Worte wie Meeresrauschen, Fliederduft, pse_157.022
Sonnenschein. Da können wir sehen, daß die Gemüthaftigkeit pse_157.023
eines Wortes nicht bloß in der Lautung liegt, pse_157.024
sondern auch im Gehalt. Beides kann nicht getrennt werden, pse_157.025
keine Sicht dürfen wir ausschalten, wenn wir das volle Worterlebnis pse_157.026
erfassen sollen. Daß vielfach der Gefühlston im pse_157.027
Wortgehalt sogar vorherrscht, können zwei Kindersätze pse_157.028
zeigen. In einem Aufsatz über das Schwein — es war an eine pse_157.029
naturgeschichtliche Wiederholung gedacht — schrieb ein pse_157.030
Kind: »Das Schwein verdient seinen Namen mit Recht.« pse_157.031
Wir spüren hier deutlich, wie wirklich im Alltagsverkehr pse_157.032
dieses Wort in seinem Gehalt auf einen bestimmten Gefühlston pse_157.033
eingeengt worden ist. Oder ein anderes Kind fragte auf pse_157.034
die Feststellung, daß der Esel gar kein dummes Tier sei: pse_157.035
»Warum heißt er aber dann Esel?« Auch die sogenannten pse_157.036
Synonyma, das heißt die scheinbar gleichbedeutenden Wörter, pse_157.037
können uns lehren, wie Gefühlsschattierungen zur Unterscheidung pse_157.038
maßgebend sind. Zwischen »freimütig« und »unverschämt« pse_157.039
besteht kein Unterschied der rational faßbaren
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/173>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.