pse_164.001 einen wesentlichen Unterschied, ob man sagte: ich habe das pse_164.002 Sprechen in mir (oder vor) -- je dirai, oder: ich soll sprechen -- pse_164.003 I shall speak, oder: du willst sprechen -- you will speak, oder: pse_164.004 ich werde sprechen. Es gibt kein Futurum, sondern nur pse_164.005 sprachliche Sichtweisen. Natürlich vereinfacht das die rationale pse_164.006 Grammatik, aber es können tatsächlich alte Werte pse_164.007 der Formen in künstlerischer Sprache wieder lebendig werden. pse_164.008 Luther übersetzt einmal: "Ich will meinen Geist auf ihn pse_164.009 legen, und er soll den Heiden das Gericht verkündigen. Er pse_164.010 wird nicht zanken und schreien, und man wird sein Geschrei pse_164.011 nicht hören auf den Gassen." Sowohl im griechischen als im pse_164.012 lateinischen Text stehen alle Vorgangswörter im sogenannten pse_164.013 Futurum; Luther übersetzt dreimal anders. Dieser Vergleich pse_164.014 zwingt uns geradezu, die ursprünglich durch die verschiedenen pse_164.015 Hilfsverben gestalteten Erfassungsweisen wieder zu erleben. pse_164.016 Auch die verschiedenen Passivbildungen (ich werde pse_164.017 geliebt -- je suis aime) verraten andere Blick- und Gestaltungsweisen. pse_164.018 Sehr ergiebig für die Erkenntnis der Stilwerte der pse_164.019 sogenannten Zeitformen, in denen eigentlich die sogenannten pse_164.020 Aspekte enthalten sind, ist ihre Beleuchtung in der Erzählung. pse_164.021 Wenn der Erzähler plötzlich aus dem Präteritum ins Präsens pse_164.022 springt, spüren wir, wie der Vorgang uns auf einmal grell pse_164.023 entgegentritt, gleichsam überbelichtet wird. Daraus ergibt pse_164.024 sich eine ermüdende Grellheit in einer nur im Präsens erzählten pse_164.025 Geschichte, aber erregende Wirkung an bestimmten pse_164.026 Stellen. Eigenartig unterscheiden sich auch Präteritum und pse_164.027 zusammengesetztes Perfekt in der Erzählung. Trotz neueren pse_164.028 Auffassungen müssen wir im Präteritum doch immer noch pse_164.029 deshalb die natürlichste Erzählform erkennen, weil ja der Dichter pse_164.030 gleichsam aus rückblickender Haltung erzählt; denn eine pse_164.031 künstlerische Erzählung formt das Erzählen selbst mit hinein, pse_164.032 und dazu gehört das erzählerische Wissen ums Ganze, also um pse_164.033 etwas schon Vergangenes. Aber das Präteritum schafft einen pse_164.034 ruhigen, unabgelenkten Blick in das in irgendeiner Vergangenheit pse_164.035 Vorsichgehende. Ganz anders das zusammengesetzte pse_164.036 Perfekt. Die Präsensform des Hilfszeitwortes schafft die Einstellung pse_164.037 zum Vergangenen vom Jetzt aus. Das konnte ursprünglich pse_164.038 sehr emotional sein: ergriffener Rückblick vom Heute aus:
pse_164.001 einen wesentlichen Unterschied, ob man sagte: ich habe das pse_164.002 Sprechen in mir (oder vor) — je dirai, oder: ich soll sprechen — pse_164.003 I shall speak, oder: du willst sprechen — you will speak, oder: pse_164.004 ich werde sprechen. Es gibt kein Futurum, sondern nur pse_164.005 sprachliche Sichtweisen. Natürlich vereinfacht das die rationale pse_164.006 Grammatik, aber es können tatsächlich alte Werte pse_164.007 der Formen in künstlerischer Sprache wieder lebendig werden. pse_164.008 Luther übersetzt einmal: »Ich will meinen Geist auf ihn pse_164.009 legen, und er soll den Heiden das Gericht verkündigen. Er pse_164.010 wird nicht zanken und schreien, und man wird sein Geschrei pse_164.011 nicht hören auf den Gassen.« Sowohl im griechischen als im pse_164.012 lateinischen Text stehen alle Vorgangswörter im sogenannten pse_164.013 Futurum; Luther übersetzt dreimal anders. Dieser Vergleich pse_164.014 zwingt uns geradezu, die ursprünglich durch die verschiedenen pse_164.015 Hilfsverben gestalteten Erfassungsweisen wieder zu erleben. pse_164.016 Auch die verschiedenen Passivbildungen (ich werde pse_164.017 geliebt — je suis aimé) verraten andere Blick- und Gestaltungsweisen. pse_164.018 Sehr ergiebig für die Erkenntnis der Stilwerte der pse_164.019 sogenannten Zeitformen, in denen eigentlich die sogenannten pse_164.020 Aspekte enthalten sind, ist ihre Beleuchtung in der Erzählung. pse_164.021 Wenn der Erzähler plötzlich aus dem Präteritum ins Präsens pse_164.022 springt, spüren wir, wie der Vorgang uns auf einmal grell pse_164.023 entgegentritt, gleichsam überbelichtet wird. Daraus ergibt pse_164.024 sich eine ermüdende Grellheit in einer nur im Präsens erzählten pse_164.025 Geschichte, aber erregende Wirkung an bestimmten pse_164.026 Stellen. Eigenartig unterscheiden sich auch Präteritum und pse_164.027 zusammengesetztes Perfekt in der Erzählung. Trotz neueren pse_164.028 Auffassungen müssen wir im Präteritum doch immer noch pse_164.029 deshalb die natürlichste Erzählform erkennen, weil ja der Dichter pse_164.030 gleichsam aus rückblickender Haltung erzählt; denn eine pse_164.031 künstlerische Erzählung formt das Erzählen selbst mit hinein, pse_164.032 und dazu gehört das erzählerische Wissen ums Ganze, also um pse_164.033 etwas schon Vergangenes. Aber das Präteritum schafft einen pse_164.034 ruhigen, unabgelenkten Blick in das in irgendeiner Vergangenheit pse_164.035 Vorsichgehende. Ganz anders das zusammengesetzte pse_164.036 Perfekt. Die Präsensform des Hilfszeitwortes schafft die Einstellung pse_164.037 zum Vergangenen vom Jetzt aus. Das konnte ursprünglich pse_164.038 sehr emotional sein: ergriffener Rückblick vom Heute aus:
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einen wesentlichen Unterschied, ob man sagte: ich habe das pse_164.002
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ich werde sprechen. Es gibt kein Futurum, sondern nur pse_164.005
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Luther übersetzt einmal: »Ich will meinen Geist auf ihn pse_164.009
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Futurum; Luther übersetzt dreimal anders. Dieser Vergleich pse_164.014
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/180>, abgerufen am 21.11.2024.
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