pse_185.001 Spannung; durch jedes sprachkünstlerische Gebilde geht so pse_185.002 ein doppeltes Kontinuum. Daraus entstehen Gefahren: Verswidriges pse_185.003 und Satzwidriges, etwa Widerspruch zwischen der pse_185.004 Betonung eines Wortes im Satz oder im Vers. Der Vers kann pse_185.005 den Satz, der Satz den Vers verletzen. In dieser Spannung pse_185.006 liegen künstlerische Möglichkeiten. Vor allem ergeben sich pse_185.007 daraus zwei deutliche Entwicklungslinien: die eine, in der der pse_185.008 Versbau immer entscheidender wird und der Satzbau sich einfügt, pse_185.009 die andere, in der der Satzbau immer klarer vordrängt pse_185.010 und eine starke Satzrhythmik herrscht.
pse_185.011 Zuerst verbleiben wir auf einer Stufe vor der eigentlichen pse_185.012 Versgestaltung: im Bereich der Prosa. Prosa ohne Rhythmus, pse_185.013 d. h. in unserem Sinn also ohne gemüthafte Gliederung des pse_185.014 Sprachablaufs, hat bloße Akzentführung: der Text einer pse_185.015 Wegtafel, einer behördlichen Mitteilung. Aber auch Prosa pse_185.016 kann Rhythmus haben: sobald sie Sprachkunst ist, wird aus pse_185.017 dem Wesen der Sprachkunst auch Rhythmus da sein. Schon pse_185.018 hier also liegt eine Gestaltung vor, die aus dem Innersten des pse_185.019 schöpferischen Menschen erwächst. Man denke an die gänzlich pse_185.020 andere rhythmische Führung der Prosa Kleists und Stifters, pse_185.021 um zu erkennen, wie da in der Gliederung des sprachlichen pse_185.022 Ablaufs als Lautung eine innerste Seelenhaltung Form pse_185.023 wird. Auch Broch, Thomas Mann und Döblin können als pse_185.024 Beispiele für ausgeprägten Prosarhythmus genannt werden. pse_185.025 So haben sich im Laufe der Zeiten ganz bestimmte feste pse_185.026 Formen der Prosaführung ausgebildet, besonders für die Satzschlüsse. pse_185.027 Sie sind in der Spätantike zu festen Formeln geworden, pse_185.028 Klauseln oder Kursus genannt. Sie wirken auch in pse_185.029 der Prosa der einzelnen abendländischen Sprachen bis in die pse_185.030 Neuzeit herein, überindividuelle Stilistika, deren Stilwert pse_185.031 zunächst einmal in einem bestimmten Grad der Geprägtheit pse_185.032 auch der Prosa besteht. Sie sind gekennzeichnet durch eine pse_185.033 bestimmte Folge von Hebungen und Senkungen am Satzende. pse_185.034 Folgende lateinische Gruppen mögen als Beispiel dienen: pse_185.035 requiescat in pace (cursus planus); velocitate reduceret (cursus pse_185.036 tardus); esse videatur oder nisi cum grano salis (cursus velox). Ein pse_185.037 ausgeprägterer Grad des Prosarhythmus ist die sogenannte pse_185.038 rhythmische Prosa, wie sie uns in den "Hymnen an die Nacht"
pse_185.001 Spannung; durch jedes sprachkünstlerische Gebilde geht so pse_185.002 ein doppeltes Kontinuum. Daraus entstehen Gefahren: Verswidriges pse_185.003 und Satzwidriges, etwa Widerspruch zwischen der pse_185.004 Betonung eines Wortes im Satz oder im Vers. Der Vers kann pse_185.005 den Satz, der Satz den Vers verletzen. In dieser Spannung pse_185.006 liegen künstlerische Möglichkeiten. Vor allem ergeben sich pse_185.007 daraus zwei deutliche Entwicklungslinien: die eine, in der der pse_185.008 Versbau immer entscheidender wird und der Satzbau sich einfügt, pse_185.009 die andere, in der der Satzbau immer klarer vordrängt pse_185.010 und eine starke Satzrhythmik herrscht.
pse_185.011 Zuerst verbleiben wir auf einer Stufe vor der eigentlichen pse_185.012 Versgestaltung: im Bereich der Prosa. Prosa ohne Rhythmus, pse_185.013 d. h. in unserem Sinn also ohne gemüthafte Gliederung des pse_185.014 Sprachablaufs, hat bloße Akzentführung: der Text einer pse_185.015 Wegtafel, einer behördlichen Mitteilung. Aber auch Prosa pse_185.016 kann Rhythmus haben: sobald sie Sprachkunst ist, wird aus pse_185.017 dem Wesen der Sprachkunst auch Rhythmus da sein. Schon pse_185.018 hier also liegt eine Gestaltung vor, die aus dem Innersten des pse_185.019 schöpferischen Menschen erwächst. Man denke an die gänzlich pse_185.020 andere rhythmische Führung der Prosa Kleists und Stifters, pse_185.021 um zu erkennen, wie da in der Gliederung des sprachlichen pse_185.022 Ablaufs als Lautung eine innerste Seelenhaltung Form pse_185.023 wird. Auch Broch, Thomas Mann und Döblin können als pse_185.024 Beispiele für ausgeprägten Prosarhythmus genannt werden. pse_185.025 So haben sich im Laufe der Zeiten ganz bestimmte feste pse_185.026 Formen der Prosaführung ausgebildet, besonders für die Satzschlüsse. pse_185.027 Sie sind in der Spätantike zu festen Formeln geworden, pse_185.028 Klauseln oder Kursus genannt. Sie wirken auch in pse_185.029 der Prosa der einzelnen abendländischen Sprachen bis in die pse_185.030 Neuzeit herein, überindividuelle Stilistika, deren Stilwert pse_185.031 zunächst einmal in einem bestimmten Grad der Geprägtheit pse_185.032 auch der Prosa besteht. Sie sind gekennzeichnet durch eine pse_185.033 bestimmte Folge von Hebungen und Senkungen am Satzende. pse_185.034 Folgende lateinische Gruppen mögen als Beispiel dienen: pse_185.035 requiescat in pace (cursus planus); velocitate reduceret (cursus pse_185.036 tardus); esse videatur oder nisi cum grano salis (cursus velox). Ein pse_185.037 ausgeprägterer Grad des Prosarhythmus ist die sogenannte pse_185.038 rhythmische Prosa, wie sie uns in den »Hymnen an die Nacht«
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ein doppeltes Kontinuum. Daraus entstehen Gefahren: Verswidriges pse_185.003
und Satzwidriges, etwa Widerspruch zwischen der pse_185.004
Betonung eines Wortes im Satz oder im Vers. Der Vers kann pse_185.005
den Satz, der Satz den Vers verletzen. In dieser Spannung pse_185.006
liegen künstlerische Möglichkeiten. Vor allem ergeben sich pse_185.007
daraus zwei deutliche Entwicklungslinien: die eine, in der der pse_185.008
Versbau immer entscheidender wird und der Satzbau sich einfügt, pse_185.009
die andere, in der der Satzbau immer klarer vordrängt pse_185.010
und eine starke Satzrhythmik herrscht.
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schöpferischen Menschen erwächst. Man denke an die gänzlich pse_185.020
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/201>, abgerufen am 22.11.2024.
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