pse_225.001 Wieder ganz anders die sogenannte erlebte Rede, die, wie pse_225.002 wir sehen werden, für moderne Erzählkunst besonders bezeichnend pse_225.003 ist. "Paco zieht die Brauen zusammen: das Fenster pse_225.004 liegt allerdings hoch in der Mauer, wohl über zehn Meter. pse_225.005 Er blickt sich suchend in der Zelle um: der Strohsack, natürlich, pse_225.006 das wußt man aus den zahlreichen Fluchtgeschichten der pse_225.007 Matrosen! Man mußte nur ein Messer haben, der Drilch ist pse_225.008 sehr dick ..." (St. Andres, Wir sind Utopia). Man spürt: es pse_225.009 ist das Reden einer Person gestaltet, aber eingeformt in die pse_225.010 Darstellung durch den Sprachkünstler: es fehlen Anrufe, aber pse_225.011 nicht die Ausrufe; auch Satzstellung und Wortwahl deuten pse_225.012 die Rede an. Mit anderen Worten: keine Stilkraft ist deutlich pse_225.013 herausgestellt, es bleibt absichtlich etwas Verschwimmendes, pse_225.014 gerade dadurch eben, daß die Stilkräfte der Rededarstellung pse_225.015 nicht scharf ausgeprägt da sind, aber doch wieder pse_225.016 spürbar.
pse_225.017 Maßgebend für die künstlerische Art eines Gedichts ist pse_225.018 auch die Gewichtsverteilung der einzelnen Stilkräfte.
pse_225.019
Und daß mir auch zu retten mein sterblich Herz,pse_225.020 Wie andern eine bleibende Stätte sei,pse_225.021 Und heimatlos die Seele mir nichtpse_225.022 Über das Leben hinweg sich sehne,
pse_225.023 Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! sei du,pse_225.024 Beglückender! mit sorgender Liebe mirpse_225.025 Gepflegt, der Garten, wo ich, wandelndpse_225.026 Unter den Blüten, den immerjungen,
pse_225.027 In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mirpse_225.028 Mit ihren Wellen allen die mächtige Zeit,pse_225.029 Die Wandelbare fern rauscht und diepse_225.030 Stillere Sonne mein Wirken fördert
pse_225.031 (Höderlin, Mein Eigentum, 3 Strophen)
pse_225.032
Wirkungsbestimmend ist hier die Aufeinanderfolge von Ausruf, pse_225.033 der die Grundlage schafft, über die Satzdynamik der pse_225.034 ersten vier Verse, die Bewegtheit und in der Gliedsatzstruktur pse_225.035 auch Spannung erzeugt, zum Anruf als der zentralen stilistischen pse_225.036 Stelle, die nun löst und bittende Hingabe schafft, und pse_225.037 zum sprachlichen Bild, das sich in das durch den Anruf beschworene pse_225.038 Du hineinschmiegt. Dabei ist es möglich, daß dasselbe
pse_225.001 Wieder ganz anders die sogenannte erlebte Rede, die, wie pse_225.002 wir sehen werden, für moderne Erzählkunst besonders bezeichnend pse_225.003 ist. »Paco zieht die Brauen zusammen: das Fenster pse_225.004 liegt allerdings hoch in der Mauer, wohl über zehn Meter. pse_225.005 Er blickt sich suchend in der Zelle um: der Strohsack, natürlich, pse_225.006 das wußt man aus den zahlreichen Fluchtgeschichten der pse_225.007 Matrosen! Man mußte nur ein Messer haben, der Drilch ist pse_225.008 sehr dick ...« (St. Andres, Wir sind Utopia). Man spürt: es pse_225.009 ist das Reden einer Person gestaltet, aber eingeformt in die pse_225.010 Darstellung durch den Sprachkünstler: es fehlen Anrufe, aber pse_225.011 nicht die Ausrufe; auch Satzstellung und Wortwahl deuten pse_225.012 die Rede an. Mit anderen Worten: keine Stilkraft ist deutlich pse_225.013 herausgestellt, es bleibt absichtlich etwas Verschwimmendes, pse_225.014 gerade dadurch eben, daß die Stilkräfte der Rededarstellung pse_225.015 nicht scharf ausgeprägt da sind, aber doch wieder pse_225.016 spürbar.
pse_225.017 Maßgebend für die künstlerische Art eines Gedichts ist pse_225.018 auch die Gewichtsverteilung der einzelnen Stilkräfte.
pse_225.019
Und daß mir auch zu retten mein sterblich Herz,pse_225.020 Wie andern eine bleibende Stätte sei,pse_225.021 Und heimatlos die Seele mir nichtpse_225.022 Über das Leben hinweg sich sehne,
pse_225.023 Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! sei du,pse_225.024 Beglückender! mit sorgender Liebe mirpse_225.025 Gepflegt, der Garten, wo ich, wandelndpse_225.026 Unter den Blüten, den immerjungen,
pse_225.027 In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mirpse_225.028 Mit ihren Wellen allen die mächtige Zeit,pse_225.029 Die Wandelbare fern rauscht und diepse_225.030 Stillere Sonne mein Wirken fördert
pse_225.031 (Höderlin, Mein Eigentum, 3 Strophen)
pse_225.032
Wirkungsbestimmend ist hier die Aufeinanderfolge von Ausruf, pse_225.033 der die Grundlage schafft, über die Satzdynamik der pse_225.034 ersten vier Verse, die Bewegtheit und in der Gliedsatzstruktur pse_225.035 auch Spannung erzeugt, zum Anruf als der zentralen stilistischen pse_225.036 Stelle, die nun löst und bittende Hingabe schafft, und pse_225.037 zum sprachlichen Bild, das sich in das durch den Anruf beschworene pse_225.038 Du hineinschmiegt. Dabei ist es möglich, daß dasselbe
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0241"n="225"/><lbn="pse_225.001"/>
Wieder ganz anders die sogenannte erlebte Rede, die, wie <lbn="pse_225.002"/>
wir sehen werden, für moderne Erzählkunst besonders bezeichnend <lbn="pse_225.003"/>
ist. »Paco zieht die Brauen zusammen: das Fenster <lbn="pse_225.004"/>
liegt allerdings hoch in der Mauer, wohl über zehn Meter. <lbn="pse_225.005"/>
Er blickt sich suchend in der Zelle um: der Strohsack, natürlich, <lbn="pse_225.006"/>
das wußt man aus den zahlreichen Fluchtgeschichten der <lbn="pse_225.007"/>
Matrosen! Man mußte nur ein Messer haben, der Drilch ist <lbn="pse_225.008"/>
sehr dick ...« (St. Andres, Wir sind Utopia). Man spürt: es <lbn="pse_225.009"/>
ist das Reden einer Person gestaltet, aber eingeformt in die <lbn="pse_225.010"/>
Darstellung durch den Sprachkünstler: es fehlen Anrufe, aber <lbn="pse_225.011"/>
nicht die Ausrufe; auch Satzstellung und Wortwahl deuten <lbn="pse_225.012"/>
die Rede an. Mit anderen Worten: keine Stilkraft ist deutlich <lbn="pse_225.013"/>
herausgestellt, es bleibt absichtlich etwas Verschwimmendes, <lbn="pse_225.014"/>
gerade dadurch eben, daß die Stilkräfte der Rededarstellung <lbn="pse_225.015"/>
nicht scharf ausgeprägt da sind, aber doch wieder <lbn="pse_225.016"/>
spürbar.</p><p><lbn="pse_225.017"/>
Maßgebend für die künstlerische Art eines Gedichts ist <lbn="pse_225.018"/>
auch die <hirendition="#i">Gewichtsverteilung</hi> der einzelnen Stilkräfte.</p><lbn="pse_225.019"/><p><hirendition="#aq"><lg><l>Und daß mir auch zu retten mein sterblich Herz,</l><lbn="pse_225.020"/><l> Wie andern eine bleibende Stätte sei,</l><lbn="pse_225.021"/><l> Und heimatlos die Seele mir nicht</l><lbn="pse_225.022"/><l><spacedim="horizontal"/>Über das Leben hinweg sich sehne, </l></lg><lg><lbn="pse_225.023"/><l>Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! sei du,</l><lbn="pse_225.024"/><l> Beglückender! mit sorgender Liebe mir</l><lbn="pse_225.025"/><l> Gepflegt, der Garten, wo ich, wandelnd</l><lbn="pse_225.026"/><l><spacedim="horizontal"/>Unter den Blüten, den immerjungen, </l></lg><lg><lbn="pse_225.027"/><l>In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mir</l><lbn="pse_225.028"/><l> Mit ihren Wellen allen die mächtige Zeit,</l><lbn="pse_225.029"/><l> Die Wandelbare fern rauscht und die</l><lbn="pse_225.030"/><l><spacedim="horizontal"/>Stillere Sonne mein Wirken fördert</l></lg></hi><lbn="pse_225.031"/><hirendition="#right"><spacedim="horizontal"/><hirendition="#aq">(Höderlin, Mein Eigentum, 3 Strophen)</hi></hi></p><lbn="pse_225.032"/><p>Wirkungsbestimmend ist hier die Aufeinanderfolge von Ausruf, <lbn="pse_225.033"/>
der die Grundlage schafft, über die Satzdynamik der <lbn="pse_225.034"/>
ersten vier Verse, die Bewegtheit und in der Gliedsatzstruktur <lbn="pse_225.035"/>
auch Spannung erzeugt, zum Anruf als der zentralen stilistischen <lbn="pse_225.036"/>
Stelle, die nun löst und bittende Hingabe schafft, und <lbn="pse_225.037"/>
zum sprachlichen Bild, das sich in das durch den Anruf beschworene <lbn="pse_225.038"/>
Du hineinschmiegt. Dabei ist es möglich, daß dasselbe
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[225/0241]
pse_225.001
Wieder ganz anders die sogenannte erlebte Rede, die, wie pse_225.002
wir sehen werden, für moderne Erzählkunst besonders bezeichnend pse_225.003
ist. »Paco zieht die Brauen zusammen: das Fenster pse_225.004
liegt allerdings hoch in der Mauer, wohl über zehn Meter. pse_225.005
Er blickt sich suchend in der Zelle um: der Strohsack, natürlich, pse_225.006
das wußt man aus den zahlreichen Fluchtgeschichten der pse_225.007
Matrosen! Man mußte nur ein Messer haben, der Drilch ist pse_225.008
sehr dick ...« (St. Andres, Wir sind Utopia). Man spürt: es pse_225.009
ist das Reden einer Person gestaltet, aber eingeformt in die pse_225.010
Darstellung durch den Sprachkünstler: es fehlen Anrufe, aber pse_225.011
nicht die Ausrufe; auch Satzstellung und Wortwahl deuten pse_225.012
die Rede an. Mit anderen Worten: keine Stilkraft ist deutlich pse_225.013
herausgestellt, es bleibt absichtlich etwas Verschwimmendes, pse_225.014
gerade dadurch eben, daß die Stilkräfte der Rededarstellung pse_225.015
nicht scharf ausgeprägt da sind, aber doch wieder pse_225.016
spürbar.
pse_225.017
Maßgebend für die künstlerische Art eines Gedichts ist pse_225.018
auch die Gewichtsverteilung der einzelnen Stilkräfte.
pse_225.019
Und daß mir auch zu retten mein sterblich Herz, pse_225.020
Wie andern eine bleibende Stätte sei, pse_225.021
Und heimatlos die Seele mir nicht pse_225.022
Über das Leben hinweg sich sehne,
pse_225.023
Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl! sei du, pse_225.024
Beglückender! mit sorgender Liebe mir pse_225.025
Gepflegt, der Garten, wo ich, wandelnd pse_225.026
Unter den Blüten, den immerjungen,
pse_225.027
In sichrer Einfalt wohne, wenn draußen mir pse_225.028
Mit ihren Wellen allen die mächtige Zeit, pse_225.029
Die Wandelbare fern rauscht und die pse_225.030
Stillere Sonne mein Wirken fördert
pse_225.031
(Höderlin, Mein Eigentum, 3 Strophen)
pse_225.032
Wirkungsbestimmend ist hier die Aufeinanderfolge von Ausruf, pse_225.033
der die Grundlage schafft, über die Satzdynamik der pse_225.034
ersten vier Verse, die Bewegtheit und in der Gliedsatzstruktur pse_225.035
auch Spannung erzeugt, zum Anruf als der zentralen stilistischen pse_225.036
Stelle, die nun löst und bittende Hingabe schafft, und pse_225.037
zum sprachlichen Bild, das sich in das durch den Anruf beschworene pse_225.038
Du hineinschmiegt. Dabei ist es möglich, daß dasselbe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/241>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.