Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_243.001
der Satzbau. Vor allem aber ist es eine andere erfaßte pse_243.002
Welt und eine andere Art, sie zu erleben. Die Werte der pse_243.003
Mundart in der Dichtung sind die einer größeren Vertraulichkeit pse_243.004
und einer engeren Bindung an die Umwelt auch in der pse_243.005
sprachlich geformten Wirklichkeit. Mundartenteile in einer pse_243.006
Dichtung schalten also meist sehr deutlich auf diese andere, pse_243.007
engere Welt um und schaffen dadurch eine gewisse Spannung pse_243.008
und Mannigfaltigkeit. Bei reinen Mundartdichtungen gibt es pse_243.009
verschiedene Stilmöglichkeiten: vollendete Umgrenztheit im pse_243.010
Stammesbereich wie in den Gedichten des Klaus Groth und pse_243.011
im Schaffen Fritz Reuters; bewußte Abhebung von der Hochsprache, pse_243.012
also Betonung der engeren Stammesart; endlich zugleich pse_243.013
eine soziale Abhebung der Mundartsprechenden, damit pse_243.014
Einschränkung des Gedichts auf eine bestimmte gesellschaftliche pse_243.015
Ebene, oft sogar mit deutlich proletarischem Ton.

pse_243.016
Der Zusammenhang des Stils mit den Bildungsgemeinschaften pse_243.017
zeigt sich in den verschiedensten Richtungen. Bis in die pse_243.018
Einzelheiten könnte das die Frage der Verhüllungen und Enthüllungen pse_243.019
lehren, denn sie sind rein gesellschaftlich bedingt. pse_243.020
Bestimmte Erfahrungsbereiche werden je nach der Gesellschaftsschicht pse_243.021
verschieden -- entweder verhüllend oder offen -- pse_243.022
erfaßt und geprägt. Damit ist es möglich, in Art und Grad pse_243.023
solcher Enthüllungen und Verhüllungen feinste gesellschaftliche pse_243.024
Bindungen selbst in die Sprachgebilde einzuformen. Die pse_243.025
Verhüllungen aus Ehrfurcht vor den Lebensgeheimnissen pse_243.026
gehören nicht hieher. Dabei ist zweierlei zu beachten: solche pse_243.027
Verhüllungen werden mit der Zeit schadhaft und durchsichtig, pse_243.028
dann werden entweder neue geschaffen, oder der ursprüngliche pse_243.029
Ausdruck drängt wieder vor. Hohe Dichtung greift in pse_243.030
bezug auf hohe, große und erregende Bereiche (auch Liebe pse_243.031
und Geschlechtsleben) kaum zu Verhüllungen, sie steht über pse_243.032
gesellschaftlichem Bereich.

pse_243.033
Soziale Stilwerte sind weiterhin deutlich zu erkennen an den pse_243.034
religiösen Gemeinschaften, an den Berufsschichten und Gesellschaftsschichten. pse_243.035
Ein katholisches Kirchenlied dichterischen pse_243.036
Wertes ruht auch auf sprachkünstlerischen Grundlagen, die pse_243.037
nur dem werthaft sind, der entweder im katholischen Glauben pse_243.038
geborgen ist oder zumindest imstande ist, diese Werthaftigkeit

pse_243.001
der Satzbau. Vor allem aber ist es eine andere erfaßte pse_243.002
Welt und eine andere Art, sie zu erleben. Die Werte der pse_243.003
Mundart in der Dichtung sind die einer größeren Vertraulichkeit pse_243.004
und einer engeren Bindung an die Umwelt auch in der pse_243.005
sprachlich geformten Wirklichkeit. Mundartenteile in einer pse_243.006
Dichtung schalten also meist sehr deutlich auf diese andere, pse_243.007
engere Welt um und schaffen dadurch eine gewisse Spannung pse_243.008
und Mannigfaltigkeit. Bei reinen Mundartdichtungen gibt es pse_243.009
verschiedene Stilmöglichkeiten: vollendete Umgrenztheit im pse_243.010
Stammesbereich wie in den Gedichten des Klaus Groth und pse_243.011
im Schaffen Fritz Reuters; bewußte Abhebung von der Hochsprache, pse_243.012
also Betonung der engeren Stammesart; endlich zugleich pse_243.013
eine soziale Abhebung der Mundartsprechenden, damit pse_243.014
Einschränkung des Gedichts auf eine bestimmte gesellschaftliche pse_243.015
Ebene, oft sogar mit deutlich proletarischem Ton.

pse_243.016
Der Zusammenhang des Stils mit den Bildungsgemeinschaften pse_243.017
zeigt sich in den verschiedensten Richtungen. Bis in die pse_243.018
Einzelheiten könnte das die Frage der Verhüllungen und Enthüllungen pse_243.019
lehren, denn sie sind rein gesellschaftlich bedingt. pse_243.020
Bestimmte Erfahrungsbereiche werden je nach der Gesellschaftsschicht pse_243.021
verschieden — entweder verhüllend oder offen — pse_243.022
erfaßt und geprägt. Damit ist es möglich, in Art und Grad pse_243.023
solcher Enthüllungen und Verhüllungen feinste gesellschaftliche pse_243.024
Bindungen selbst in die Sprachgebilde einzuformen. Die pse_243.025
Verhüllungen aus Ehrfurcht vor den Lebensgeheimnissen pse_243.026
gehören nicht hieher. Dabei ist zweierlei zu beachten: solche pse_243.027
Verhüllungen werden mit der Zeit schadhaft und durchsichtig, pse_243.028
dann werden entweder neue geschaffen, oder der ursprüngliche pse_243.029
Ausdruck drängt wieder vor. Hohe Dichtung greift in pse_243.030
bezug auf hohe, große und erregende Bereiche (auch Liebe pse_243.031
und Geschlechtsleben) kaum zu Verhüllungen, sie steht über pse_243.032
gesellschaftlichem Bereich.

pse_243.033
Soziale Stilwerte sind weiterhin deutlich zu erkennen an den pse_243.034
religiösen Gemeinschaften, an den Berufsschichten und Gesellschaftsschichten. pse_243.035
Ein katholisches Kirchenlied dichterischen pse_243.036
Wertes ruht auch auf sprachkünstlerischen Grundlagen, die pse_243.037
nur dem werthaft sind, der entweder im katholischen Glauben pse_243.038
geborgen ist oder zumindest imstande ist, diese Werthaftigkeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0259" n="243"/><lb n="pse_243.001"/>
der Satzbau. Vor allem aber ist es eine andere erfaßte <lb n="pse_243.002"/>
Welt und eine andere Art, sie zu erleben. Die Werte der <lb n="pse_243.003"/>
Mundart in der Dichtung sind die einer größeren Vertraulichkeit <lb n="pse_243.004"/>
und einer engeren Bindung an die Umwelt auch in der <lb n="pse_243.005"/>
sprachlich geformten Wirklichkeit. Mundartenteile in einer <lb n="pse_243.006"/>
Dichtung schalten also meist sehr deutlich auf diese andere, <lb n="pse_243.007"/>
engere Welt um und schaffen dadurch eine gewisse Spannung <lb n="pse_243.008"/>
und Mannigfaltigkeit. Bei reinen Mundartdichtungen gibt es <lb n="pse_243.009"/>
verschiedene Stilmöglichkeiten: vollendete Umgrenztheit im <lb n="pse_243.010"/>
Stammesbereich wie in den Gedichten des Klaus Groth und <lb n="pse_243.011"/>
im Schaffen Fritz Reuters; bewußte Abhebung von der Hochsprache, <lb n="pse_243.012"/>
also Betonung der engeren Stammesart; endlich zugleich <lb n="pse_243.013"/>
eine soziale Abhebung der Mundartsprechenden, damit <lb n="pse_243.014"/>
Einschränkung des Gedichts auf eine bestimmte gesellschaftliche <lb n="pse_243.015"/>
Ebene, oft sogar mit deutlich proletarischem Ton.</p>
            <p><lb n="pse_243.016"/>
Der Zusammenhang des Stils mit den <hi rendition="#i">Bildungsgemeinschaften</hi> <lb n="pse_243.017"/>
zeigt sich in den verschiedensten Richtungen. Bis in die <lb n="pse_243.018"/>
Einzelheiten könnte das die Frage der Verhüllungen und Enthüllungen <lb n="pse_243.019"/>
lehren, denn sie sind rein gesellschaftlich bedingt. <lb n="pse_243.020"/>
Bestimmte Erfahrungsbereiche werden je nach der Gesellschaftsschicht <lb n="pse_243.021"/>
verschieden &#x2014; entweder verhüllend oder offen &#x2014; <lb n="pse_243.022"/>
erfaßt und geprägt. Damit ist es möglich, in Art und Grad <lb n="pse_243.023"/>
solcher Enthüllungen und Verhüllungen feinste gesellschaftliche <lb n="pse_243.024"/>
Bindungen selbst in die Sprachgebilde einzuformen. Die <lb n="pse_243.025"/>
Verhüllungen aus Ehrfurcht vor den Lebensgeheimnissen <lb n="pse_243.026"/>
gehören nicht hieher. Dabei ist zweierlei zu beachten: solche <lb n="pse_243.027"/>
Verhüllungen werden mit der Zeit schadhaft und durchsichtig, <lb n="pse_243.028"/>
dann werden entweder neue geschaffen, oder der ursprüngliche <lb n="pse_243.029"/>
Ausdruck drängt wieder vor. Hohe Dichtung greift in <lb n="pse_243.030"/>
bezug auf hohe, große und erregende Bereiche (auch Liebe <lb n="pse_243.031"/>
und Geschlechtsleben) kaum zu Verhüllungen, sie steht über <lb n="pse_243.032"/>
gesellschaftlichem Bereich.</p>
            <p><lb n="pse_243.033"/>
Soziale Stilwerte sind weiterhin deutlich zu erkennen an den <lb n="pse_243.034"/>
religiösen Gemeinschaften, an den Berufsschichten und Gesellschaftsschichten. <lb n="pse_243.035"/>
Ein katholisches Kirchenlied dichterischen <lb n="pse_243.036"/>
Wertes ruht auch auf sprachkünstlerischen Grundlagen, die <lb n="pse_243.037"/>
nur dem werthaft sind, der entweder im katholischen Glauben <lb n="pse_243.038"/>
geborgen ist oder zumindest imstande ist, diese Werthaftigkeit
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[243/0259] pse_243.001 der Satzbau. Vor allem aber ist es eine andere erfaßte pse_243.002 Welt und eine andere Art, sie zu erleben. Die Werte der pse_243.003 Mundart in der Dichtung sind die einer größeren Vertraulichkeit pse_243.004 und einer engeren Bindung an die Umwelt auch in der pse_243.005 sprachlich geformten Wirklichkeit. Mundartenteile in einer pse_243.006 Dichtung schalten also meist sehr deutlich auf diese andere, pse_243.007 engere Welt um und schaffen dadurch eine gewisse Spannung pse_243.008 und Mannigfaltigkeit. Bei reinen Mundartdichtungen gibt es pse_243.009 verschiedene Stilmöglichkeiten: vollendete Umgrenztheit im pse_243.010 Stammesbereich wie in den Gedichten des Klaus Groth und pse_243.011 im Schaffen Fritz Reuters; bewußte Abhebung von der Hochsprache, pse_243.012 also Betonung der engeren Stammesart; endlich zugleich pse_243.013 eine soziale Abhebung der Mundartsprechenden, damit pse_243.014 Einschränkung des Gedichts auf eine bestimmte gesellschaftliche pse_243.015 Ebene, oft sogar mit deutlich proletarischem Ton. pse_243.016 Der Zusammenhang des Stils mit den Bildungsgemeinschaften pse_243.017 zeigt sich in den verschiedensten Richtungen. Bis in die pse_243.018 Einzelheiten könnte das die Frage der Verhüllungen und Enthüllungen pse_243.019 lehren, denn sie sind rein gesellschaftlich bedingt. pse_243.020 Bestimmte Erfahrungsbereiche werden je nach der Gesellschaftsschicht pse_243.021 verschieden — entweder verhüllend oder offen — pse_243.022 erfaßt und geprägt. Damit ist es möglich, in Art und Grad pse_243.023 solcher Enthüllungen und Verhüllungen feinste gesellschaftliche pse_243.024 Bindungen selbst in die Sprachgebilde einzuformen. Die pse_243.025 Verhüllungen aus Ehrfurcht vor den Lebensgeheimnissen pse_243.026 gehören nicht hieher. Dabei ist zweierlei zu beachten: solche pse_243.027 Verhüllungen werden mit der Zeit schadhaft und durchsichtig, pse_243.028 dann werden entweder neue geschaffen, oder der ursprüngliche pse_243.029 Ausdruck drängt wieder vor. Hohe Dichtung greift in pse_243.030 bezug auf hohe, große und erregende Bereiche (auch Liebe pse_243.031 und Geschlechtsleben) kaum zu Verhüllungen, sie steht über pse_243.032 gesellschaftlichem Bereich. pse_243.033 Soziale Stilwerte sind weiterhin deutlich zu erkennen an den pse_243.034 religiösen Gemeinschaften, an den Berufsschichten und Gesellschaftsschichten. pse_243.035 Ein katholisches Kirchenlied dichterischen pse_243.036 Wertes ruht auch auf sprachkünstlerischen Grundlagen, die pse_243.037 nur dem werthaft sind, der entweder im katholischen Glauben pse_243.038 geborgen ist oder zumindest imstande ist, diese Werthaftigkeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/259
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/259>, abgerufen am 24.11.2024.