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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Bewegungscharakter gegeben. Aus Gehalt der pse_258.002
Wörter und Sinn der Wortfügungen ergeben sich Ablaufsrhythmus, pse_258.003
Zeitmaß, Pausen, Stocken oder Fließen. Zugleich pse_258.004
entsteht so auch eine bestimmte Ausrichtung des Gehalts, der pse_258.005
Ablauf eines Vorgangs oder der Wandel von Stimmungen pse_258.006
als Grundgerüst für das im Gedicht Gestaltete. Hiermit berühren pse_258.007
wir das Problem, das Lessing in aller Gründlichkeit pse_258.008
im "Laokoon" erörtert hat. Da die Sprache mit Zeichen in pse_258.009
der Zeit arbeitet, könne sie nur zeitlich Verlaufendes darstellen pse_258.010
im Gegensatz zu den bildenden Künsten. Man hat Lessing pse_258.011
vorgeworfen, er sehe da die Sprache nur als Lautung, nicht pse_258.012
das in ihr Dargestellte, das der Zeit enthoben sein könne. Aber pse_258.013
auch dieser Einwand ist einseitig. Denn tatsächlich ist Sprache pse_258.014
immer und in jedem Augenblick auch Lautung und daher zeitlich pse_258.015
verlaufend. Aber nun kommt die Tatsache dazu, daß pse_258.016
die Sprache auch Ruhendes beschreiben könne. Dazu ist pse_258.017
zweierlei zu sagen. 1. Tatsächlich ist die Sprache imstande, pse_258.018
auch Ruhendes zu gestalten. Das ist ihr möglich zunächst pse_258.019
schon durch die Bedeutung der Gegenstandswörter, die immer pse_258.020
eben das dauernde Abgehobensein eines "Gegenstandes" pse_258.021
gestalten; ferner auch durch den Gehalt mancher Vorgangswörter, pse_258.022
in denen das Vorgangshafte, der Lebensvorgang pse_258.023
mehr als ein Ruhendes erscheint oder oft gänzlich abgeblaßt ist, pse_258.024
so vor allem im Verbum "sein". Endlich kann durch die gesamte pse_258.025
Erfahrungsgestaltung, durch den Satzbau eine Abrundung pse_258.026
entstehen, damit der Charakter der Geschlossenheit, pse_258.027
des Beendigtseins. Aber auch von früher weiterwirkende Gehalte pse_258.028
und Stimmungen können mit denen, die darauf folgen, pse_258.029
zu einem ruhenden Ganzen verschmelzen. Auch der Reim pse_258.030
hat oft eine rückgreifende, daher schließende Wirkung; so pse_258.031
kommt eine Ablaufsreihe zum Abschluß, und im Zurruhekommen pse_258.032
steht das Ganze als ruhende Einheit da. Vor allem pse_258.033
in kleinen Gliedern, auch in kleinen Gedichten wie "Wanderers pse_258.034
Nachtlied" oder Mörikes "Septembermorgen". 2. Aber pse_258.035
es ist doch noch etwas anderes zu bedenken: wenn etwa eine pse_258.036
Blume sprachlich beschrieben wird, wie in der beschreibenden pse_258.037
Dichtung des 18. Jahrhunderts, etwa in Hallers "Alpen", pse_258.038
so liegt nicht so sehr abstrakte Beschreibung vor. Nicht ein

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Bewegungscharakter gegeben. Aus Gehalt der pse_258.002
Wörter und Sinn der Wortfügungen ergeben sich Ablaufsrhythmus, pse_258.003
Zeitmaß, Pausen, Stocken oder Fließen. Zugleich pse_258.004
entsteht so auch eine bestimmte Ausrichtung des Gehalts, der pse_258.005
Ablauf eines Vorgangs oder der Wandel von Stimmungen pse_258.006
als Grundgerüst für das im Gedicht Gestaltete. Hiermit berühren pse_258.007
wir das Problem, das Lessing in aller Gründlichkeit pse_258.008
im »Laokoon« erörtert hat. Da die Sprache mit Zeichen in pse_258.009
der Zeit arbeitet, könne sie nur zeitlich Verlaufendes darstellen pse_258.010
im Gegensatz zu den bildenden Künsten. Man hat Lessing pse_258.011
vorgeworfen, er sehe da die Sprache nur als Lautung, nicht pse_258.012
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immer und in jedem Augenblick auch Lautung und daher zeitlich pse_258.015
verlaufend. Aber nun kommt die Tatsache dazu, daß pse_258.016
die Sprache auch Ruhendes beschreiben könne. Dazu ist pse_258.017
zweierlei zu sagen. 1. Tatsächlich ist die Sprache imstande, pse_258.018
auch Ruhendes zu gestalten. Das ist ihr möglich zunächst pse_258.019
schon durch die Bedeutung der Gegenstandswörter, die immer pse_258.020
eben das dauernde Abgehobensein eines »Gegenstandes« pse_258.021
gestalten; ferner auch durch den Gehalt mancher Vorgangswörter, pse_258.022
in denen das Vorgangshafte, der Lebensvorgang pse_258.023
mehr als ein Ruhendes erscheint oder oft gänzlich abgeblaßt ist, pse_258.024
so vor allem im Verbum »sein«. Endlich kann durch die gesamte pse_258.025
Erfahrungsgestaltung, durch den Satzbau eine Abrundung pse_258.026
entstehen, damit der Charakter der Geschlossenheit, pse_258.027
des Beendigtseins. Aber auch von früher weiterwirkende Gehalte pse_258.028
und Stimmungen können mit denen, die darauf folgen, pse_258.029
zu einem ruhenden Ganzen verschmelzen. Auch der Reim pse_258.030
hat oft eine rückgreifende, daher schließende Wirkung; so pse_258.031
kommt eine Ablaufsreihe zum Abschluß, und im Zurruhekommen pse_258.032
steht das Ganze als ruhende Einheit da. Vor allem pse_258.033
in kleinen Gliedern, auch in kleinen Gedichten wie »Wanderers pse_258.034
Nachtlied« oder Mörikes »Septembermorgen«. 2. Aber pse_258.035
es ist doch noch etwas anderes zu bedenken: wenn etwa eine pse_258.036
Blume sprachlich beschrieben wird, wie in der beschreibenden pse_258.037
Dichtung des 18. Jahrhunderts, etwa in Hallers »Alpen«, pse_258.038
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[258/0274] pse_258.001 Bewegungscharakter gegeben. Aus Gehalt der pse_258.002 Wörter und Sinn der Wortfügungen ergeben sich Ablaufsrhythmus, pse_258.003 Zeitmaß, Pausen, Stocken oder Fließen. Zugleich pse_258.004 entsteht so auch eine bestimmte Ausrichtung des Gehalts, der pse_258.005 Ablauf eines Vorgangs oder der Wandel von Stimmungen pse_258.006 als Grundgerüst für das im Gedicht Gestaltete. Hiermit berühren pse_258.007 wir das Problem, das Lessing in aller Gründlichkeit pse_258.008 im »Laokoon« erörtert hat. Da die Sprache mit Zeichen in pse_258.009 der Zeit arbeitet, könne sie nur zeitlich Verlaufendes darstellen pse_258.010 im Gegensatz zu den bildenden Künsten. Man hat Lessing pse_258.011 vorgeworfen, er sehe da die Sprache nur als Lautung, nicht pse_258.012 das in ihr Dargestellte, das der Zeit enthoben sein könne. Aber pse_258.013 auch dieser Einwand ist einseitig. Denn tatsächlich ist Sprache pse_258.014 immer und in jedem Augenblick auch Lautung und daher zeitlich pse_258.015 verlaufend. Aber nun kommt die Tatsache dazu, daß pse_258.016 die Sprache auch Ruhendes beschreiben könne. Dazu ist pse_258.017 zweierlei zu sagen. 1. Tatsächlich ist die Sprache imstande, pse_258.018 auch Ruhendes zu gestalten. Das ist ihr möglich zunächst pse_258.019 schon durch die Bedeutung der Gegenstandswörter, die immer pse_258.020 eben das dauernde Abgehobensein eines »Gegenstandes« pse_258.021 gestalten; ferner auch durch den Gehalt mancher Vorgangswörter, pse_258.022 in denen das Vorgangshafte, der Lebensvorgang pse_258.023 mehr als ein Ruhendes erscheint oder oft gänzlich abgeblaßt ist, pse_258.024 so vor allem im Verbum »sein«. Endlich kann durch die gesamte pse_258.025 Erfahrungsgestaltung, durch den Satzbau eine Abrundung pse_258.026 entstehen, damit der Charakter der Geschlossenheit, pse_258.027 des Beendigtseins. Aber auch von früher weiterwirkende Gehalte pse_258.028 und Stimmungen können mit denen, die darauf folgen, pse_258.029 zu einem ruhenden Ganzen verschmelzen. Auch der Reim pse_258.030 hat oft eine rückgreifende, daher schließende Wirkung; so pse_258.031 kommt eine Ablaufsreihe zum Abschluß, und im Zurruhekommen pse_258.032 steht das Ganze als ruhende Einheit da. Vor allem pse_258.033 in kleinen Gliedern, auch in kleinen Gedichten wie »Wanderers pse_258.034 Nachtlied« oder Mörikes »Septembermorgen«. 2. Aber pse_258.035 es ist doch noch etwas anderes zu bedenken: wenn etwa eine pse_258.036 Blume sprachlich beschrieben wird, wie in der beschreibenden pse_258.037 Dichtung des 18. Jahrhunderts, etwa in Hallers »Alpen«, pse_258.038 so liegt nicht so sehr abstrakte Beschreibung vor. Nicht ein

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/274>, abgerufen am 21.11.2024.