Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_277.001
ein Beweis dafür, daß in der sprachlichen Gestaltung, besonders pse_277.002
in der künstlerischen, nicht bloß eine Wirklichkeit pse_277.003
dargestellt wird, sondern auch unsere Einstellung dazu, und pse_277.004
daß der Gehalt volle Wirklichkeit immer erst in einer und pse_277.005
durch eine bestimmte Gestalt wird. Ein anderer künstlerisch pse_277.006
wirkungsvoller Widerspruch besteht darin, daß man den pse_277.007
Gehalt einer hohen Dichtung völlig erniedrigt, daß man ihn pse_277.008
vergröbert und lächerlich macht, aber dabei den hohen Ton pse_277.009
aufrechthält. Das ist die Parodie, wie sie besonders auch pse_277.010
Nestroy pflegte. Hier wird ein niedriger Gehalt, der durch pse_277.011
Umformung eines hohen entstand, in gespreizten und überhitzten pse_277.012
Ton gebracht. Wäre der Ton dem Gehalt angemessen, pse_277.013
hätte man den Eindruck einer geschlossenen Dichtung, die pse_277.014
höchstens als völlige Umformung einer anderen gelten könnte, pse_277.015
aber durchaus auch Eigenwesen hätte. Aber durch den überhöhten pse_277.016
Ton wird der niedere Gehalt wieder in eine auffällige pse_277.017
Beleuchtung gerückt und der Anspruch des menschlich pse_277.018
Niederen bloßgestellt.

pse_277.019
Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit, der, wie pse_277.020
wir betont haben, in jeder Dichtung schon durch das Wesen pse_277.021
der Sprache vorhanden ist, kann auch in anderer Weise gestört pse_277.022
werden. Man spricht dafür heute häufig von Deformation pse_277.023
oder Verfremdung. Beide Ausdrücke bedeuten sehr pse_277.024
Ähnliches, nur liegt beim ersten der vergleichende Blick vor pse_277.025
allem auf der außersprachlichen Wirklichkeit, beim zweiten pse_277.026
auf dem Eindruck auf den Erlebenden. Aber beide werden pse_277.027
nicht einheitlich gebraucht. Manchmal wird unter Deformation pse_277.028
rein die Tatsache gemeint, daß ja die Dichtung die pse_277.029
außersprachliche Wirklichkeit geistig neu aufbaut in der pse_277.030
sprachlichen Welt, und daß sie dabei die außersprachliche pse_277.031
Wirklichkeit ändert. Das Wesentliche ist aber nicht, daß die pse_277.032
außersprachliche Wirklichkeit umgeändert, sondern daß eine pse_277.033
neue geistige Welt sprachlich-dichterisch aufgebaut wird. pse_277.034
Aber Deformation hat auch einen anderen Sinn für Dichtung: pse_277.035
da kommt es dem Dichter geradezu darauf an, die zu gestaltende pse_277.036
Wirklichkeit zu verzerren; also die verzerrte außersprachliche pse_277.037
Wirklichkeit ist der wesentliche Gehalt, der Ton pse_277.038
liegt auf der Verzerrung oder Verfremdung. Dazu gehört z. B.

pse_277.001
ein Beweis dafür, daß in der sprachlichen Gestaltung, besonders pse_277.002
in der künstlerischen, nicht bloß eine Wirklichkeit pse_277.003
dargestellt wird, sondern auch unsere Einstellung dazu, und pse_277.004
daß der Gehalt volle Wirklichkeit immer erst in einer und pse_277.005
durch eine bestimmte Gestalt wird. Ein anderer künstlerisch pse_277.006
wirkungsvoller Widerspruch besteht darin, daß man den pse_277.007
Gehalt einer hohen Dichtung völlig erniedrigt, daß man ihn pse_277.008
vergröbert und lächerlich macht, aber dabei den hohen Ton pse_277.009
aufrechthält. Das ist die Parodie, wie sie besonders auch pse_277.010
Nestroy pflegte. Hier wird ein niedriger Gehalt, der durch pse_277.011
Umformung eines hohen entstand, in gespreizten und überhitzten pse_277.012
Ton gebracht. Wäre der Ton dem Gehalt angemessen, pse_277.013
hätte man den Eindruck einer geschlossenen Dichtung, die pse_277.014
höchstens als völlige Umformung einer anderen gelten könnte, pse_277.015
aber durchaus auch Eigenwesen hätte. Aber durch den überhöhten pse_277.016
Ton wird der niedere Gehalt wieder in eine auffällige pse_277.017
Beleuchtung gerückt und der Anspruch des menschlich pse_277.018
Niederen bloßgestellt.

pse_277.019
Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit, der, wie pse_277.020
wir betont haben, in jeder Dichtung schon durch das Wesen pse_277.021
der Sprache vorhanden ist, kann auch in anderer Weise gestört pse_277.022
werden. Man spricht dafür heute häufig von Deformation pse_277.023
oder Verfremdung. Beide Ausdrücke bedeuten sehr pse_277.024
Ähnliches, nur liegt beim ersten der vergleichende Blick vor pse_277.025
allem auf der außersprachlichen Wirklichkeit, beim zweiten pse_277.026
auf dem Eindruck auf den Erlebenden. Aber beide werden pse_277.027
nicht einheitlich gebraucht. Manchmal wird unter Deformation pse_277.028
rein die Tatsache gemeint, daß ja die Dichtung die pse_277.029
außersprachliche Wirklichkeit geistig neu aufbaut in der pse_277.030
sprachlichen Welt, und daß sie dabei die außersprachliche pse_277.031
Wirklichkeit ändert. Das Wesentliche ist aber nicht, daß die pse_277.032
außersprachliche Wirklichkeit umgeändert, sondern daß eine pse_277.033
neue geistige Welt sprachlich-dichterisch aufgebaut wird. pse_277.034
Aber Deformation hat auch einen anderen Sinn für Dichtung: pse_277.035
da kommt es dem Dichter geradezu darauf an, die zu gestaltende pse_277.036
Wirklichkeit zu verzerren; also die verzerrte außersprachliche pse_277.037
Wirklichkeit ist der wesentliche Gehalt, der Ton pse_277.038
liegt auf der Verzerrung oder Verfremdung. Dazu gehört z. B.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0293" n="277"/><lb n="pse_277.001"/>
ein Beweis dafür, daß in der sprachlichen Gestaltung, besonders <lb n="pse_277.002"/>
in der künstlerischen, nicht bloß eine Wirklichkeit <lb n="pse_277.003"/>
dargestellt wird, sondern auch unsere Einstellung dazu, und <lb n="pse_277.004"/>
daß der Gehalt volle Wirklichkeit immer erst in einer und <lb n="pse_277.005"/>
durch eine bestimmte Gestalt wird. Ein anderer künstlerisch <lb n="pse_277.006"/>
wirkungsvoller Widerspruch besteht darin, daß man den <lb n="pse_277.007"/>
Gehalt einer hohen Dichtung völlig erniedrigt, daß man ihn <lb n="pse_277.008"/>
vergröbert und lächerlich macht, aber dabei den hohen Ton <lb n="pse_277.009"/>
aufrechthält. Das ist die Parodie, wie sie besonders auch <lb n="pse_277.010"/>
Nestroy pflegte. Hier wird ein niedriger Gehalt, der durch <lb n="pse_277.011"/>
Umformung eines hohen entstand, in gespreizten und überhitzten <lb n="pse_277.012"/>
Ton gebracht. Wäre der Ton dem Gehalt angemessen, <lb n="pse_277.013"/>
hätte man den Eindruck einer geschlossenen Dichtung, die <lb n="pse_277.014"/>
höchstens als völlige Umformung einer anderen gelten könnte, <lb n="pse_277.015"/>
aber durchaus auch Eigenwesen hätte. Aber durch den überhöhten <lb n="pse_277.016"/>
Ton wird der niedere Gehalt wieder in eine auffällige <lb n="pse_277.017"/>
Beleuchtung gerückt und der Anspruch des menschlich <lb n="pse_277.018"/>
Niederen bloßgestellt.</p>
              <p><lb n="pse_277.019"/>
Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit, der, wie <lb n="pse_277.020"/>
wir betont haben, in jeder Dichtung schon durch das Wesen <lb n="pse_277.021"/>
der Sprache vorhanden ist, kann auch in anderer Weise gestört <lb n="pse_277.022"/>
werden. Man spricht dafür heute häufig von Deformation <lb n="pse_277.023"/>
oder Verfremdung. Beide Ausdrücke bedeuten sehr <lb n="pse_277.024"/>
Ähnliches, nur liegt beim ersten der vergleichende Blick vor <lb n="pse_277.025"/>
allem auf der außersprachlichen Wirklichkeit, beim zweiten <lb n="pse_277.026"/>
auf dem Eindruck auf den Erlebenden. Aber beide werden <lb n="pse_277.027"/>
nicht einheitlich gebraucht. Manchmal wird unter Deformation <lb n="pse_277.028"/>
rein die Tatsache gemeint, daß ja die Dichtung die <lb n="pse_277.029"/>
außersprachliche Wirklichkeit geistig neu aufbaut in der <lb n="pse_277.030"/>
sprachlichen Welt, und daß sie dabei die außersprachliche <lb n="pse_277.031"/>
Wirklichkeit ändert. Das Wesentliche ist aber nicht, daß die <lb n="pse_277.032"/>
außersprachliche Wirklichkeit umgeändert, sondern daß eine <lb n="pse_277.033"/>
neue geistige Welt sprachlich-dichterisch aufgebaut wird. <lb n="pse_277.034"/>
Aber Deformation hat auch einen anderen Sinn für Dichtung: <lb n="pse_277.035"/>
da kommt es dem Dichter geradezu darauf an, die zu gestaltende <lb n="pse_277.036"/>
Wirklichkeit zu verzerren; also die verzerrte außersprachliche <lb n="pse_277.037"/>
Wirklichkeit ist der wesentliche Gehalt, der Ton <lb n="pse_277.038"/>
liegt auf der Verzerrung oder Verfremdung. Dazu gehört z. B.
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[277/0293] pse_277.001 ein Beweis dafür, daß in der sprachlichen Gestaltung, besonders pse_277.002 in der künstlerischen, nicht bloß eine Wirklichkeit pse_277.003 dargestellt wird, sondern auch unsere Einstellung dazu, und pse_277.004 daß der Gehalt volle Wirklichkeit immer erst in einer und pse_277.005 durch eine bestimmte Gestalt wird. Ein anderer künstlerisch pse_277.006 wirkungsvoller Widerspruch besteht darin, daß man den pse_277.007 Gehalt einer hohen Dichtung völlig erniedrigt, daß man ihn pse_277.008 vergröbert und lächerlich macht, aber dabei den hohen Ton pse_277.009 aufrechthält. Das ist die Parodie, wie sie besonders auch pse_277.010 Nestroy pflegte. Hier wird ein niedriger Gehalt, der durch pse_277.011 Umformung eines hohen entstand, in gespreizten und überhitzten pse_277.012 Ton gebracht. Wäre der Ton dem Gehalt angemessen, pse_277.013 hätte man den Eindruck einer geschlossenen Dichtung, die pse_277.014 höchstens als völlige Umformung einer anderen gelten könnte, pse_277.015 aber durchaus auch Eigenwesen hätte. Aber durch den überhöhten pse_277.016 Ton wird der niedere Gehalt wieder in eine auffällige pse_277.017 Beleuchtung gerückt und der Anspruch des menschlich pse_277.018 Niederen bloßgestellt. pse_277.019 Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit, der, wie pse_277.020 wir betont haben, in jeder Dichtung schon durch das Wesen pse_277.021 der Sprache vorhanden ist, kann auch in anderer Weise gestört pse_277.022 werden. Man spricht dafür heute häufig von Deformation pse_277.023 oder Verfremdung. Beide Ausdrücke bedeuten sehr pse_277.024 Ähnliches, nur liegt beim ersten der vergleichende Blick vor pse_277.025 allem auf der außersprachlichen Wirklichkeit, beim zweiten pse_277.026 auf dem Eindruck auf den Erlebenden. Aber beide werden pse_277.027 nicht einheitlich gebraucht. Manchmal wird unter Deformation pse_277.028 rein die Tatsache gemeint, daß ja die Dichtung die pse_277.029 außersprachliche Wirklichkeit geistig neu aufbaut in der pse_277.030 sprachlichen Welt, und daß sie dabei die außersprachliche pse_277.031 Wirklichkeit ändert. Das Wesentliche ist aber nicht, daß die pse_277.032 außersprachliche Wirklichkeit umgeändert, sondern daß eine pse_277.033 neue geistige Welt sprachlich-dichterisch aufgebaut wird. pse_277.034 Aber Deformation hat auch einen anderen Sinn für Dichtung: pse_277.035 da kommt es dem Dichter geradezu darauf an, die zu gestaltende pse_277.036 Wirklichkeit zu verzerren; also die verzerrte außersprachliche pse_277.037 Wirklichkeit ist der wesentliche Gehalt, der Ton pse_277.038 liegt auf der Verzerrung oder Verfremdung. Dazu gehört z. B.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/293
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/293>, abgerufen am 24.11.2024.