Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_334.001
hier hat ein bestimmter Gehalt seine ihm eigene vollendete pse_334.002
künstlerische Gestaltung gefunden. Wo aber deutlich wird, pse_334.003
daß die Gestaltung zwar gewollt, aber mißglückt ist, handelt pse_334.004
es sich um ein schlechtes Kunstwerk. Wo aber solche Gestaltung pse_334.005
überhaupt nicht beabsichtigt ist, ist von einem Kunstwerk pse_334.006
von vornherein nicht die Rede. Solch strenge Maßstäbe pse_334.007
sind bei kleinen Gedichten verhältnismäßig leicht anzulegen, pse_334.008
viel schwerer aber bei großen Dichtungen. Aus der pse_334.009
Begrenztheit menschlichen Schöpfertums ergibt sich ohne pse_334.010
weiteres, daß wohl jede große Dichtung -- wobei hier nicht pse_334.011
nur an den Umfang gedacht wird -- schwache Stellen aufweist. pse_334.012
Sie können nach dem italienischen Philosophen Benedetto pse_334.013
Croce zweierlei Art sein: Unvollendetheiten, wo eben der pse_334.014
Dichter nicht die Kraft hatte, auf gleicher Höhe zu bleiben. pse_334.015
Oft sind solche Teile vielleicht nur als vorläufige Übergänge pse_334.016
gedacht gewesen, dann aber aus irgendeinem Grunde stehen pse_334.017
geblieben. Dabei kann man beobachten, daß große Dichter pse_334.018
sich selbst über solche Schwächen meist sofort und pse_334.019
genau im klaren sind und das auch in nachfolgenden sachlichen pse_334.020
Aussagen deutlich aussprechen, so etwa Schiller in pse_334.021
seinen Selbstrezensionen. Aber zwischen theoretischer Einsicht pse_334.022
und höchstem schöpferischem Können bestehen eben Spannungen. pse_334.023
Solche Schwächen werden nur im Zusammenhang pse_334.024
des ganzen Werkes gewertet werden können. Es macht einen pse_334.025
Unterschied, ob sie zahlreich sind, ob es entscheidende Stellen pse_334.026
der Dichtung betrifft, ob es schweres Versagen in der Gestaltung pse_334.027
ist. Eine andere Art schwacher Stellen sind kleine pse_334.028
Aufbauglieder, die für Übergänge notwendig sind, auch pse_334.029
kleinere mehr gedankliche Teile, kurzum Stellen, die aus dem pse_334.030
Gefüge des Ganzen nicht wegzudenken, aber doch eben an pse_334.031
sich künstlerisch nicht durchgebildet sind.

pse_334.032
Die Frage nach gut und schlecht hat uns neuerlich auf die pse_334.033
Bedeutung der Form in der Dichtung geführt. Denn nur solche pse_334.034
Dichtungen können von vornherein als gut bezeichnet werden, pse_334.035
die dichterisch durchgestaltet sind. Dabei darf nun der pse_334.036
Ausdruck Form für die Wertung nicht zu sehr eingeengt pse_334.037
werden. Drei Fragen drängen sich in dieser Hinsicht auf.

pse_334.038
1. Die Frage nach den überlieferten Formen wie Topoi,

pse_334.001
hier hat ein bestimmter Gehalt seine ihm eigene vollendete pse_334.002
künstlerische Gestaltung gefunden. Wo aber deutlich wird, pse_334.003
daß die Gestaltung zwar gewollt, aber mißglückt ist, handelt pse_334.004
es sich um ein schlechtes Kunstwerk. Wo aber solche Gestaltung pse_334.005
überhaupt nicht beabsichtigt ist, ist von einem Kunstwerk pse_334.006
von vornherein nicht die Rede. Solch strenge Maßstäbe pse_334.007
sind bei kleinen Gedichten verhältnismäßig leicht anzulegen, pse_334.008
viel schwerer aber bei großen Dichtungen. Aus der pse_334.009
Begrenztheit menschlichen Schöpfertums ergibt sich ohne pse_334.010
weiteres, daß wohl jede große Dichtung — wobei hier nicht pse_334.011
nur an den Umfang gedacht wird — schwache Stellen aufweist. pse_334.012
Sie können nach dem italienischen Philosophen Benedetto pse_334.013
Croce zweierlei Art sein: Unvollendetheiten, wo eben der pse_334.014
Dichter nicht die Kraft hatte, auf gleicher Höhe zu bleiben. pse_334.015
Oft sind solche Teile vielleicht nur als vorläufige Übergänge pse_334.016
gedacht gewesen, dann aber aus irgendeinem Grunde stehen pse_334.017
geblieben. Dabei kann man beobachten, daß große Dichter pse_334.018
sich selbst über solche Schwächen meist sofort und pse_334.019
genau im klaren sind und das auch in nachfolgenden sachlichen pse_334.020
Aussagen deutlich aussprechen, so etwa Schiller in pse_334.021
seinen Selbstrezensionen. Aber zwischen theoretischer Einsicht pse_334.022
und höchstem schöpferischem Können bestehen eben Spannungen. pse_334.023
Solche Schwächen werden nur im Zusammenhang pse_334.024
des ganzen Werkes gewertet werden können. Es macht einen pse_334.025
Unterschied, ob sie zahlreich sind, ob es entscheidende Stellen pse_334.026
der Dichtung betrifft, ob es schweres Versagen in der Gestaltung pse_334.027
ist. Eine andere Art schwacher Stellen sind kleine pse_334.028
Aufbauglieder, die für Übergänge notwendig sind, auch pse_334.029
kleinere mehr gedankliche Teile, kurzum Stellen, die aus dem pse_334.030
Gefüge des Ganzen nicht wegzudenken, aber doch eben an pse_334.031
sich künstlerisch nicht durchgebildet sind.

pse_334.032
Die Frage nach gut und schlecht hat uns neuerlich auf die pse_334.033
Bedeutung der Form in der Dichtung geführt. Denn nur solche pse_334.034
Dichtungen können von vornherein als gut bezeichnet werden, pse_334.035
die dichterisch durchgestaltet sind. Dabei darf nun der pse_334.036
Ausdruck Form für die Wertung nicht zu sehr eingeengt pse_334.037
werden. Drei Fragen drängen sich in dieser Hinsicht auf.

pse_334.038
1. Die Frage nach den überlieferten Formen wie Topoi,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0350" n="334"/><lb n="pse_334.001"/>
hier hat ein bestimmter Gehalt seine ihm eigene vollendete <lb n="pse_334.002"/>
künstlerische Gestaltung gefunden. Wo aber deutlich wird, <lb n="pse_334.003"/>
daß die Gestaltung zwar gewollt, aber mißglückt ist, handelt <lb n="pse_334.004"/>
es sich um ein schlechtes Kunstwerk. Wo aber solche Gestaltung <lb n="pse_334.005"/>
überhaupt nicht beabsichtigt ist, ist von einem Kunstwerk <lb n="pse_334.006"/>
von vornherein nicht die Rede. Solch strenge Maßstäbe <lb n="pse_334.007"/>
sind bei kleinen Gedichten verhältnismäßig leicht anzulegen, <lb n="pse_334.008"/>
viel schwerer aber bei großen Dichtungen. Aus der <lb n="pse_334.009"/>
Begrenztheit menschlichen Schöpfertums ergibt sich ohne <lb n="pse_334.010"/>
weiteres, daß wohl jede große Dichtung &#x2014; wobei hier nicht <lb n="pse_334.011"/>
nur an den Umfang gedacht wird &#x2014; schwache Stellen aufweist. <lb n="pse_334.012"/>
Sie können nach dem italienischen Philosophen Benedetto <lb n="pse_334.013"/>
Croce zweierlei Art sein: Unvollendetheiten, wo eben der <lb n="pse_334.014"/>
Dichter nicht die Kraft hatte, auf gleicher Höhe zu bleiben. <lb n="pse_334.015"/>
Oft sind solche Teile vielleicht nur als vorläufige Übergänge <lb n="pse_334.016"/>
gedacht gewesen, dann aber aus irgendeinem Grunde stehen <lb n="pse_334.017"/>
geblieben. Dabei kann man beobachten, daß große Dichter <lb n="pse_334.018"/>
sich selbst über solche Schwächen meist sofort und <lb n="pse_334.019"/>
genau im klaren sind und das auch in nachfolgenden sachlichen <lb n="pse_334.020"/>
Aussagen deutlich aussprechen, so etwa Schiller in <lb n="pse_334.021"/>
seinen Selbstrezensionen. Aber zwischen theoretischer Einsicht <lb n="pse_334.022"/>
und höchstem schöpferischem Können bestehen eben Spannungen. <lb n="pse_334.023"/>
Solche Schwächen werden nur im Zusammenhang <lb n="pse_334.024"/>
des ganzen Werkes gewertet werden können. Es macht einen <lb n="pse_334.025"/>
Unterschied, ob sie zahlreich sind, ob es entscheidende Stellen <lb n="pse_334.026"/>
der Dichtung betrifft, ob es schweres Versagen in der Gestaltung <lb n="pse_334.027"/>
ist. Eine andere Art schwacher Stellen sind kleine <lb n="pse_334.028"/>
Aufbauglieder, die für Übergänge notwendig sind, auch <lb n="pse_334.029"/>
kleinere mehr gedankliche Teile, kurzum Stellen, die aus dem <lb n="pse_334.030"/>
Gefüge des Ganzen nicht wegzudenken, aber doch eben an <lb n="pse_334.031"/>
sich künstlerisch nicht durchgebildet sind.</p>
            <p><lb n="pse_334.032"/>
Die Frage nach gut und schlecht hat uns neuerlich auf die <lb n="pse_334.033"/>
Bedeutung der <hi rendition="#i">Form</hi> in der Dichtung geführt. Denn nur solche <lb n="pse_334.034"/>
Dichtungen können von vornherein als gut bezeichnet werden, <lb n="pse_334.035"/>
die dichterisch durchgestaltet sind. Dabei darf nun der <lb n="pse_334.036"/>
Ausdruck Form für die Wertung nicht zu sehr eingeengt <lb n="pse_334.037"/>
werden. Drei Fragen drängen sich in dieser Hinsicht auf.</p>
            <p><lb n="pse_334.038"/>
1. Die Frage nach den überlieferten Formen wie Topoi,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[334/0350] pse_334.001 hier hat ein bestimmter Gehalt seine ihm eigene vollendete pse_334.002 künstlerische Gestaltung gefunden. Wo aber deutlich wird, pse_334.003 daß die Gestaltung zwar gewollt, aber mißglückt ist, handelt pse_334.004 es sich um ein schlechtes Kunstwerk. Wo aber solche Gestaltung pse_334.005 überhaupt nicht beabsichtigt ist, ist von einem Kunstwerk pse_334.006 von vornherein nicht die Rede. Solch strenge Maßstäbe pse_334.007 sind bei kleinen Gedichten verhältnismäßig leicht anzulegen, pse_334.008 viel schwerer aber bei großen Dichtungen. Aus der pse_334.009 Begrenztheit menschlichen Schöpfertums ergibt sich ohne pse_334.010 weiteres, daß wohl jede große Dichtung — wobei hier nicht pse_334.011 nur an den Umfang gedacht wird — schwache Stellen aufweist. pse_334.012 Sie können nach dem italienischen Philosophen Benedetto pse_334.013 Croce zweierlei Art sein: Unvollendetheiten, wo eben der pse_334.014 Dichter nicht die Kraft hatte, auf gleicher Höhe zu bleiben. pse_334.015 Oft sind solche Teile vielleicht nur als vorläufige Übergänge pse_334.016 gedacht gewesen, dann aber aus irgendeinem Grunde stehen pse_334.017 geblieben. Dabei kann man beobachten, daß große Dichter pse_334.018 sich selbst über solche Schwächen meist sofort und pse_334.019 genau im klaren sind und das auch in nachfolgenden sachlichen pse_334.020 Aussagen deutlich aussprechen, so etwa Schiller in pse_334.021 seinen Selbstrezensionen. Aber zwischen theoretischer Einsicht pse_334.022 und höchstem schöpferischem Können bestehen eben Spannungen. pse_334.023 Solche Schwächen werden nur im Zusammenhang pse_334.024 des ganzen Werkes gewertet werden können. Es macht einen pse_334.025 Unterschied, ob sie zahlreich sind, ob es entscheidende Stellen pse_334.026 der Dichtung betrifft, ob es schweres Versagen in der Gestaltung pse_334.027 ist. Eine andere Art schwacher Stellen sind kleine pse_334.028 Aufbauglieder, die für Übergänge notwendig sind, auch pse_334.029 kleinere mehr gedankliche Teile, kurzum Stellen, die aus dem pse_334.030 Gefüge des Ganzen nicht wegzudenken, aber doch eben an pse_334.031 sich künstlerisch nicht durchgebildet sind. pse_334.032 Die Frage nach gut und schlecht hat uns neuerlich auf die pse_334.033 Bedeutung der Form in der Dichtung geführt. Denn nur solche pse_334.034 Dichtungen können von vornherein als gut bezeichnet werden, pse_334.035 die dichterisch durchgestaltet sind. Dabei darf nun der pse_334.036 Ausdruck Form für die Wertung nicht zu sehr eingeengt pse_334.037 werden. Drei Fragen drängen sich in dieser Hinsicht auf. pse_334.038 1. Die Frage nach den überlieferten Formen wie Topoi,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/350
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/350>, abgerufen am 21.11.2024.