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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Die volkstümliche Lyrik im weiten Sinn hat aus ihrem Wesen pse_402.002
heraus immer die Möglichkeit, in einer Gemeinschaft lebendiger pse_402.003
Besitz zu werden. So unterscheiden sich schon die pse_402.004
Sprichwörter von den Epigrammen. Auch auf dem Gebiet pse_402.005
der Epik und Dramatik gibt es volkstümliche Arten: Volksballade, pse_402.006
Volksbuch, Volksstück. Hier allerdings ist mehr an pse_402.007
die Wirkungsmöglichkeit auf breite soziale Schichten gedacht, pse_402.008
im Volkslied im engen Sinn aber an das Singen in einer pse_402.009
Gruppe, die gerade dadurch immer wieder zur Gemeinschaft pse_402.010
wird. Nicht also in der Entstehung aus dem Volk, wie man pse_402.011
romantisch meinte, sondern im Leben im Volk im breitesten pse_402.012
Sinn liegt das Entscheidende. Dazu gehört vor allem ein pse_402.013
Gefühlsgehalt, der alle Menschen sofort anspricht: Liebe, pse_402.014
Abschied, Tod, Frühling, Krieg, Tanz, Erntefest, Weihnachten pse_402.015
usw. Nicht alle Völker und Zeiten sind dem Volkslied pse_402.016
gleich günstig. Besonders lebendig war es vom 13. zum pse_402.017
17. Jahrhundert im deutschen Volk. Diese Gehalte werden pse_402.018
lebendig in ganz bestimmten Kunstformen. So gehört zum pse_402.019
Volkslied immer die Melodie -- ein Volkslied, das nicht gesungen pse_402.020
wird, ist kein echtes --, dann eine verhältnismäßig einfache pse_402.021
Form: meist klar gebaute und gereimte Strophen. Der pse_402.022
Kehrreim ist häufig, und von ihm aus kann es am leichtesten pse_402.023
zu Umformungen kommen: er wird erweitert, umgesungen, pse_402.024
mit anderem Text versehen. Wenn sich diese Umformungen pse_402.025
auf das ganze Lied ausdehnen, kommt es zum sogenannten pse_402.026
Zersingen. Was hat Uhlands "Guter Kamerad" im Lauf verschiedener pse_402.027
Kriege alles an Umformungen und Erweiterungen pse_402.028
über sich ergehen lassen müssen! Das beste Zeichen echter und pse_402.029
lebendiger Volkstümlichkeit. Schlichtheit der Form bedeutet pse_402.030
aber weder Ärmlichkeit noch Kunstlosigkeit. Man hat erkannt, pse_402.031
daß dem Volkslied eine organische Form eignet. Jede pse_402.032
Zeile bildet eine Ganzheit für sich, zwei schließen sich zur pse_402.033
nächsthöheren zusammen, beide Paare zur Strophe, mehrere pse_402.034
Strophen zum Lied; so wachsen Einheiten zu immer pse_402.035
höheren zusammen. Das kann zum Kriterium eines echten pse_402.036
Volkslieds werden. Ein Beispiel aus dem Ambraser Liederbuch pse_402.037
von 1582:

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Die volkstümliche Lyrik im weiten Sinn hat aus ihrem Wesen pse_402.002
heraus immer die Möglichkeit, in einer Gemeinschaft lebendiger pse_402.003
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Volksbuch, Volksstück. Hier allerdings ist mehr an pse_402.007
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Gefühlsgehalt, der alle Menschen sofort anspricht: Liebe, pse_402.014
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Kehrreim ist häufig, und von ihm aus kann es am leichtesten pse_402.023
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über sich ergehen lassen müssen! Das beste Zeichen echter und pse_402.029
lebendiger Volkstümlichkeit. Schlichtheit der Form bedeutet pse_402.030
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daß dem Volkslied eine organische Form eignet. Jede pse_402.032
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Strophen zum Lied; so wachsen Einheiten zu immer pse_402.035
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/418>, abgerufen am 22.11.2024.