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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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auch das ganze Innere, das Gemüt, das Wahrnehmen, Vorstellen pse_026.002
und das Denken des Erfassenden mitgestaltet. Wir pse_026.003
können vermuten, daß es so beim Urmenschen war, daß es pse_026.004
heute noch bei Naturvölkern so ist. Solche Sprachprägung pse_026.005
kann man Ursprache nennen, nämlich ursprünglichste pse_026.006
Sprachformung. Der Ausdruck "Ursprache" bezieht sich also pse_026.007
nicht nur auf den Urmenschen und er ist auch beileibe kein pse_026.008
Ausdruck bloß phantastischer Haltung im Gegensatz zu pse_026.009
wissenschaftlicher.

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Aber aus dieser ursprünglichen Haltung, die wir ursprüngliches pse_026.011
Erleben nennen können und die ihre Prägung in der pse_026.012
Sprache findet, gliedern sich mit der Zeit verschiedene Möglichkeiten pse_026.013
des Erfassens aus, die dann selbstverständlich auch pse_026.014
sprachlich sich ausformen. Man kann sie auf zwei hauptsächliche pse_026.015
zurückführen. Wenn dieses Erfassen den gemüthaften pse_026.016
Anteil zurückdrängt, so daß es ein rein urteilendes pse_026.017
Feststellen wird, daß also die rationalen Seiten des Menschen pse_026.018
allein in Anspruch genommen werden, nennen wir dieses pse_026.019
Erfassen Erkennen. Die Grundhaltung des Menschen bei pse_026.020
solchem Erkennen ist das Denken. Dabei muß allerdings pse_026.021
terminologisch folgendes beachtet werden: "Denken" wird in pse_026.022
zweifacher Weise verwendet: einmal in diesem strengen Sinn pse_026.023
als urteilendes, erkennendes Verhalten. So wollen wir das pse_026.024
Wort hier brauchen. Aber vielfach findet man es auch in pse_026.025
einem weiteren Sinn, nämlich ungefähr dem entsprechend, pse_026.026
was wir hier Erfassen nennen, d. h. also alles geistige Bewältigen pse_026.027
der Welt. Nur in diesem Sinn kann man sagen, daß der pse_026.028
geistige Aufbau der Welt in der Sprache ein Erkenntnis- oder pse_026.029
Denkakt ist. Die strenge Form des Denkens ist dann das logische pse_026.030
Denken, das sich genau nach den Gesetzen richtigen pse_026.031
Denkens verhält (Logik). Daneben aber findet sich auch in pse_026.032
weit entwickelten Geistes- und Zivilisationslagen immer noch pse_026.033
eine andere Art des Erfassens, nämlich mit starker und unmittelbarer pse_026.034
Anteilnahme des Gemüts: der Anblick von etwas pse_026.035
Furchtbarem, Großartigem, Überraschendem, Heiterem geschieht pse_026.036
beim Menschen unmittelbar immer aus gemüthafter pse_026.037
Haltung. Wir nennen es das Erleben. Daß auch hier erkennende pse_026.038
Akte mit einfließen, ist klar, muß aber betont werden. Alle

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auch das ganze Innere, das Gemüt, das Wahrnehmen, Vorstellen pse_026.002
und das Denken des Erfassenden mitgestaltet. Wir pse_026.003
können vermuten, daß es so beim Urmenschen war, daß es pse_026.004
heute noch bei Naturvölkern so ist. Solche Sprachprägung pse_026.005
kann man Ursprache nennen, nämlich ursprünglichste pse_026.006
Sprachformung. Der Ausdruck »Ursprache« bezieht sich also pse_026.007
nicht nur auf den Urmenschen und er ist auch beileibe kein pse_026.008
Ausdruck bloß phantastischer Haltung im Gegensatz zu pse_026.009
wissenschaftlicher.

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Aber aus dieser ursprünglichen Haltung, die wir ursprüngliches pse_026.011
Erleben nennen können und die ihre Prägung in der pse_026.012
Sprache findet, gliedern sich mit der Zeit verschiedene Möglichkeiten pse_026.013
des Erfassens aus, die dann selbstverständlich auch pse_026.014
sprachlich sich ausformen. Man kann sie auf zwei hauptsächliche pse_026.015
zurückführen. Wenn dieses Erfassen den gemüthaften pse_026.016
Anteil zurückdrängt, so daß es ein rein urteilendes pse_026.017
Feststellen wird, daß also die rationalen Seiten des Menschen pse_026.018
allein in Anspruch genommen werden, nennen wir dieses pse_026.019
Erfassen Erkennen. Die Grundhaltung des Menschen bei pse_026.020
solchem Erkennen ist das Denken. Dabei muß allerdings pse_026.021
terminologisch folgendes beachtet werden: »Denken« wird in pse_026.022
zweifacher Weise verwendet: einmal in diesem strengen Sinn pse_026.023
als urteilendes, erkennendes Verhalten. So wollen wir das pse_026.024
Wort hier brauchen. Aber vielfach findet man es auch in pse_026.025
einem weiteren Sinn, nämlich ungefähr dem entsprechend, pse_026.026
was wir hier Erfassen nennen, d. h. also alles geistige Bewältigen pse_026.027
der Welt. Nur in diesem Sinn kann man sagen, daß der pse_026.028
geistige Aufbau der Welt in der Sprache ein Erkenntnis- oder pse_026.029
Denkakt ist. Die strenge Form des Denkens ist dann das logische pse_026.030
Denken, das sich genau nach den Gesetzen richtigen pse_026.031
Denkens verhält (Logik). Daneben aber findet sich auch in pse_026.032
weit entwickelten Geistes- und Zivilisationslagen immer noch pse_026.033
eine andere Art des Erfassens, nämlich mit starker und unmittelbarer pse_026.034
Anteilnahme des Gemüts: der Anblick von etwas pse_026.035
Furchtbarem, Großartigem, Überraschendem, Heiterem geschieht pse_026.036
beim Menschen unmittelbar immer aus gemüthafter pse_026.037
Haltung. Wir nennen es das Erleben. Daß auch hier erkennende pse_026.038
Akte mit einfließen, ist klar, muß aber betont werden. Alle

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[26/0042] pse_026.001 auch das ganze Innere, das Gemüt, das Wahrnehmen, Vorstellen pse_026.002 und das Denken des Erfassenden mitgestaltet. Wir pse_026.003 können vermuten, daß es so beim Urmenschen war, daß es pse_026.004 heute noch bei Naturvölkern so ist. Solche Sprachprägung pse_026.005 kann man Ursprache nennen, nämlich ursprünglichste pse_026.006 Sprachformung. Der Ausdruck »Ursprache« bezieht sich also pse_026.007 nicht nur auf den Urmenschen und er ist auch beileibe kein pse_026.008 Ausdruck bloß phantastischer Haltung im Gegensatz zu pse_026.009 wissenschaftlicher. pse_026.010 Aber aus dieser ursprünglichen Haltung, die wir ursprüngliches pse_026.011 Erleben nennen können und die ihre Prägung in der pse_026.012 Sprache findet, gliedern sich mit der Zeit verschiedene Möglichkeiten pse_026.013 des Erfassens aus, die dann selbstverständlich auch pse_026.014 sprachlich sich ausformen. Man kann sie auf zwei hauptsächliche pse_026.015 zurückführen. Wenn dieses Erfassen den gemüthaften pse_026.016 Anteil zurückdrängt, so daß es ein rein urteilendes pse_026.017 Feststellen wird, daß also die rationalen Seiten des Menschen pse_026.018 allein in Anspruch genommen werden, nennen wir dieses pse_026.019 Erfassen Erkennen. Die Grundhaltung des Menschen bei pse_026.020 solchem Erkennen ist das Denken. Dabei muß allerdings pse_026.021 terminologisch folgendes beachtet werden: »Denken« wird in pse_026.022 zweifacher Weise verwendet: einmal in diesem strengen Sinn pse_026.023 als urteilendes, erkennendes Verhalten. So wollen wir das pse_026.024 Wort hier brauchen. Aber vielfach findet man es auch in pse_026.025 einem weiteren Sinn, nämlich ungefähr dem entsprechend, pse_026.026 was wir hier Erfassen nennen, d. h. also alles geistige Bewältigen pse_026.027 der Welt. Nur in diesem Sinn kann man sagen, daß der pse_026.028 geistige Aufbau der Welt in der Sprache ein Erkenntnis- oder pse_026.029 Denkakt ist. Die strenge Form des Denkens ist dann das logische pse_026.030 Denken, das sich genau nach den Gesetzen richtigen pse_026.031 Denkens verhält (Logik). Daneben aber findet sich auch in pse_026.032 weit entwickelten Geistes- und Zivilisationslagen immer noch pse_026.033 eine andere Art des Erfassens, nämlich mit starker und unmittelbarer pse_026.034 Anteilnahme des Gemüts: der Anblick von etwas pse_026.035 Furchtbarem, Großartigem, Überraschendem, Heiterem geschieht pse_026.036 beim Menschen unmittelbar immer aus gemüthafter pse_026.037 Haltung. Wir nennen es das Erleben. Daß auch hier erkennende pse_026.038 Akte mit einfließen, ist klar, muß aber betont werden. Alle

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/42>, abgerufen am 21.11.2024.