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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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pse_409.001

Sicher sind in dieser Strophe auch anschauliche Bilder vorhanden, pse_409.002
solche, die also irgendwelche Sinnesvorstellungen pse_409.003
wecken und aus deren Art eine Stimmung aufsteigt. Auch pse_409.004
wirkt hier die Lautung sehr stark; trotzdem kann man schon pse_409.005
hier erkennen, daß vor allem der Gehalt der Worte und damit pse_409.006
der gefühlhafte Sinn der Wortfügungen geschlossene Bilder pse_409.007
schafft. Noch viel deutlicher ist das für den Beginn von pse_409.008
Mörikes "An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang":

pse_409.009
O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe! pse_409.010
Welch neue Welt bewegest du in mir? pse_409.011
Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir pse_409.012
Von sanfter Wollust meines Daseins glühe? pse_409.013
Einem Kristall gleicht meine Seele nun, pse_409.014
Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen; pse_409.015
Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn, pse_409.016
Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen, pse_409.017
Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft pse_409.018
Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft.
pse_409.019

Nur in ganz wenigen Versen beruht der dichterische Wert pse_409.020
in der Gestaltung sinnlicher Vorstellungen. Die entscheidenden pse_409.021
Verse aber sind völlig unanschaulich, besonders die Verse pse_409.022
1, 4, 7-10. "Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen" ist pse_409.023
unanschaulich. Aber die einzelnen Worte werden in ihrem pse_409.024
Gehalt vertieft durch die Zusammenfügung: "Eindruck" bekommt pse_409.025
erst die richtige Fülle durch das folgende "Wunderkräfte", pse_409.026
diese wieder klingen zusammen mit "naher", es besteht pse_409.027
eine Spannung zwischen der Nähe und dem Wunderbaren; pse_409.028
beides wirkt -- aus dem Wortgehalt heraus -- zusammen pse_409.029
um so erregender. Und endlich "offen": es schließt das pse_409.030
Bild, das mit "Eindruck" begonnen hat, beide Worte, der pse_409.031
erste und der letzte Sinnträger erhöhen sich gegenseitig, wobei pse_409.032
hier vielleicht wirklich beinahe ein sinnlicher Eindruck pse_409.033
entsteht. Aber "offen" ist auch mit "Wunderkräfte" verbunden: pse_409.034
daraus erwächst das Geheimnisvolle, Ergreifende, wie pse_409.035
nun das Innere des Menschen sich öffnet und Wunderkräfte pse_409.036
in sich aufnimmt. Nur in dem Wortgehalt und dem Zusammenklingen pse_409.037
dieser und in der Tatsache, daß hier vor allem die pse_409.038
Gefühlswerte der Worte lebendig werden, ruht die dichterische pse_409.039
Wirkung und zugleich die gebildehafte Geschlossenheit.

pse_409.001

Sicher sind in dieser Strophe auch anschauliche Bilder vorhanden, pse_409.002
solche, die also irgendwelche Sinnesvorstellungen pse_409.003
wecken und aus deren Art eine Stimmung aufsteigt. Auch pse_409.004
wirkt hier die Lautung sehr stark; trotzdem kann man schon pse_409.005
hier erkennen, daß vor allem der Gehalt der Worte und damit pse_409.006
der gefühlhafte Sinn der Wortfügungen geschlossene Bilder pse_409.007
schafft. Noch viel deutlicher ist das für den Beginn von pse_409.008
Mörikes »An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang«:

pse_409.009
O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe! pse_409.010
Welch neue Welt bewegest du in mir? pse_409.011
Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir pse_409.012
Von sanfter Wollust meines Daseins glühe? pse_409.013
Einem Kristall gleicht meine Seele nun, pse_409.014
Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen; pse_409.015
Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn, pse_409.016
Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen, pse_409.017
Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft pse_409.018
Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft.
pse_409.019

Nur in ganz wenigen Versen beruht der dichterische Wert pse_409.020
in der Gestaltung sinnlicher Vorstellungen. Die entscheidenden pse_409.021
Verse aber sind völlig unanschaulich, besonders die Verse pse_409.022
1, 4, 7–10. »Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen« ist pse_409.023
unanschaulich. Aber die einzelnen Worte werden in ihrem pse_409.024
Gehalt vertieft durch die Zusammenfügung: »Eindruck« bekommt pse_409.025
erst die richtige Fülle durch das folgende »Wunderkräfte«, pse_409.026
diese wieder klingen zusammen mit »naher«, es besteht pse_409.027
eine Spannung zwischen der Nähe und dem Wunderbaren; pse_409.028
beides wirkt — aus dem Wortgehalt heraus — zusammen pse_409.029
um so erregender. Und endlich »offen«: es schließt das pse_409.030
Bild, das mit »Eindruck« begonnen hat, beide Worte, der pse_409.031
erste und der letzte Sinnträger erhöhen sich gegenseitig, wobei pse_409.032
hier vielleicht wirklich beinahe ein sinnlicher Eindruck pse_409.033
entsteht. Aber »offen« ist auch mit »Wunderkräfte« verbunden: pse_409.034
daraus erwächst das Geheimnisvolle, Ergreifende, wie pse_409.035
nun das Innere des Menschen sich öffnet und Wunderkräfte pse_409.036
in sich aufnimmt. Nur in dem Wortgehalt und dem Zusammenklingen pse_409.037
dieser und in der Tatsache, daß hier vor allem die pse_409.038
Gefühlswerte der Worte lebendig werden, ruht die dichterische pse_409.039
Wirkung und zugleich die gebildehafte Geschlossenheit.

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[409/0425] pse_409.001 Sicher sind in dieser Strophe auch anschauliche Bilder vorhanden, pse_409.002 solche, die also irgendwelche Sinnesvorstellungen pse_409.003 wecken und aus deren Art eine Stimmung aufsteigt. Auch pse_409.004 wirkt hier die Lautung sehr stark; trotzdem kann man schon pse_409.005 hier erkennen, daß vor allem der Gehalt der Worte und damit pse_409.006 der gefühlhafte Sinn der Wortfügungen geschlossene Bilder pse_409.007 schafft. Noch viel deutlicher ist das für den Beginn von pse_409.008 Mörikes »An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang«: pse_409.009 O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe! pse_409.010 Welch neue Welt bewegest du in mir? pse_409.011 Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir pse_409.012 Von sanfter Wollust meines Daseins glühe? pse_409.013 Einem Kristall gleicht meine Seele nun, pse_409.014 Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen; pse_409.015 Zu fluten scheint mein Geist, er scheint zu ruhn, pse_409.016 Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen, pse_409.017 Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft pse_409.018 Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft. pse_409.019 Nur in ganz wenigen Versen beruht der dichterische Wert pse_409.020 in der Gestaltung sinnlicher Vorstellungen. Die entscheidenden pse_409.021 Verse aber sind völlig unanschaulich, besonders die Verse pse_409.022 1, 4, 7–10. »Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen« ist pse_409.023 unanschaulich. Aber die einzelnen Worte werden in ihrem pse_409.024 Gehalt vertieft durch die Zusammenfügung: »Eindruck« bekommt pse_409.025 erst die richtige Fülle durch das folgende »Wunderkräfte«, pse_409.026 diese wieder klingen zusammen mit »naher«, es besteht pse_409.027 eine Spannung zwischen der Nähe und dem Wunderbaren; pse_409.028 beides wirkt — aus dem Wortgehalt heraus — zusammen pse_409.029 um so erregender. Und endlich »offen«: es schließt das pse_409.030 Bild, das mit »Eindruck« begonnen hat, beide Worte, der pse_409.031 erste und der letzte Sinnträger erhöhen sich gegenseitig, wobei pse_409.032 hier vielleicht wirklich beinahe ein sinnlicher Eindruck pse_409.033 entsteht. Aber »offen« ist auch mit »Wunderkräfte« verbunden: pse_409.034 daraus erwächst das Geheimnisvolle, Ergreifende, wie pse_409.035 nun das Innere des Menschen sich öffnet und Wunderkräfte pse_409.036 in sich aufnimmt. Nur in dem Wortgehalt und dem Zusammenklingen pse_409.037 dieser und in der Tatsache, daß hier vor allem die pse_409.038 Gefühlswerte der Worte lebendig werden, ruht die dichterische pse_409.039 Wirkung und zugleich die gebildehafte Geschlossenheit.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/425>, abgerufen am 22.11.2024.