pse_029.001 werden in den eben erörterten Formen viele der Kräfte, die pse_029.002 in der Sprache ruhen, ausgeschaltet. Nur mehr das an ihr wird pse_029.003 verwertet, was zum Zweck der Darstellung von etwas pse_029.004 Außersprachlichem nützlich ist. Da diese Art sprachlicher pse_029.005 Werke heute bei der weit entwickelten Zivilisationslage an pse_029.006 Menge unbedingt herrscht, haben wir damit einen Zug in pse_029.007 jeder Sprachentwicklung mit aufgegriffen: die Sprache zu pse_029.008 einem immer vollkommeneren Werkzeug im Dienst der pse_029.009 Mitteilung und der äußerlichen Verständigung zu machen; ihre pse_029.010 Formengebung ist nur mehr von wirtschaftlichen Gesetzen pse_029.011 im weitesten Sinn beherrscht. Es genügt zu wissen, was der pse_029.012 Sprechende meint, je deutlicher und einfacher er es sagt, pse_029.013 desto besser. Wir sprechen von der fortschreitenden Ökonomisierung pse_029.014 der Sprache.
pse_029.015 Aber nun ein möglichst scharfes Gegenbeispiel zum Polizeibericht, pse_029.016 von dem wir ausgegangen sind:
pse_029.017
Über allen Gipfelnpse_029.018 Ist Ruh,pse_029.019 In allen Wipfelnpse_029.020 Spürest dupse_029.021 Kaum einen Hauch;pse_029.022 Die Vögelein schweigen im Walde.pse_029.023 Warte nur, baldepse_029.024 Ruhest du auch.
(Goethe)
pse_029.025 Jeder, der für Dichtung aufgeschlossen ist und die deutsche pse_029.026 Sprache kennt, wird sofort erkennen, daß es hier nicht genügt, pse_029.027 einen Sachverhalt festzustellen und zu akzeptieren: daß über pse_029.028 den Bergen Ruhe herrscht, daß der Wind die Baumwipfel pse_029.029 nicht mehr bewegt, daß die Vögel schon in ihren Nestern pse_029.030 schlafen und daß auch der Mensch bald schlafen wird. Je pse_029.031 mehr diese "Paraphrase" als Schändung des Gedichtes empfunden pse_029.032 wird, desto besser für das, was wir hier herausarbeiten pse_029.033 wollen: Man kann unmöglich hier von einem nüchternen pse_029.034 Sachverhalt reden, der in verschiedenen sprachlichen Formen pse_029.035 mitgeteilt werden könnte. Denn in jeder anderen ginge viel pse_029.036 von dem verloren, was dieses Gedicht ist. In diesen wenigen pse_029.037 Versen ist Sprache viel mehr, als daß sie bloß in der zweckmäßigsten pse_029.038 Form etwas mitteilen wollte. Eine Fülle sprachlicher
pse_029.001 werden in den eben erörterten Formen viele der Kräfte, die pse_029.002 in der Sprache ruhen, ausgeschaltet. Nur mehr das an ihr wird pse_029.003 verwertet, was zum Zweck der Darstellung von etwas pse_029.004 Außersprachlichem nützlich ist. Da diese Art sprachlicher pse_029.005 Werke heute bei der weit entwickelten Zivilisationslage an pse_029.006 Menge unbedingt herrscht, haben wir damit einen Zug in pse_029.007 jeder Sprachentwicklung mit aufgegriffen: die Sprache zu pse_029.008 einem immer vollkommeneren Werkzeug im Dienst der pse_029.009 Mitteilung und der äußerlichen Verständigung zu machen; ihre pse_029.010 Formengebung ist nur mehr von wirtschaftlichen Gesetzen pse_029.011 im weitesten Sinn beherrscht. Es genügt zu wissen, was der pse_029.012 Sprechende meint, je deutlicher und einfacher er es sagt, pse_029.013 desto besser. Wir sprechen von der fortschreitenden Ökonomisierung pse_029.014 der Sprache.
pse_029.015 Aber nun ein möglichst scharfes Gegenbeispiel zum Polizeibericht, pse_029.016 von dem wir ausgegangen sind:
pse_029.017
Über allen Gipfelnpse_029.018 Ist Ruh,pse_029.019 In allen Wipfelnpse_029.020 Spürest dupse_029.021 Kaum einen Hauch;pse_029.022 Die Vögelein schweigen im Walde.pse_029.023 Warte nur, baldepse_029.024 Ruhest du auch.
(Goethe)
pse_029.025 Jeder, der für Dichtung aufgeschlossen ist und die deutsche pse_029.026 Sprache kennt, wird sofort erkennen, daß es hier nicht genügt, pse_029.027 einen Sachverhalt festzustellen und zu akzeptieren: daß über pse_029.028 den Bergen Ruhe herrscht, daß der Wind die Baumwipfel pse_029.029 nicht mehr bewegt, daß die Vögel schon in ihren Nestern pse_029.030 schlafen und daß auch der Mensch bald schlafen wird. Je pse_029.031 mehr diese »Paraphrase« als Schändung des Gedichtes empfunden pse_029.032 wird, desto besser für das, was wir hier herausarbeiten pse_029.033 wollen: Man kann unmöglich hier von einem nüchternen pse_029.034 Sachverhalt reden, der in verschiedenen sprachlichen Formen pse_029.035 mitgeteilt werden könnte. Denn in jeder anderen ginge viel pse_029.036 von dem verloren, was dieses Gedicht ist. In diesen wenigen pse_029.037 Versen ist Sprache viel mehr, als daß sie bloß in der zweckmäßigsten pse_029.038 Form etwas mitteilen wollte. Eine Fülle sprachlicher
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0045"n="29"/><lbn="pse_029.001"/>
werden in den eben erörterten Formen viele der Kräfte, die <lbn="pse_029.002"/>
in der Sprache ruhen, ausgeschaltet. Nur mehr das an ihr wird <lbn="pse_029.003"/>
verwertet, was zum Zweck der Darstellung von etwas <lbn="pse_029.004"/>
Außersprachlichem nützlich ist. Da diese Art sprachlicher <lbn="pse_029.005"/>
Werke heute bei der weit entwickelten Zivilisationslage an <lbn="pse_029.006"/>
Menge unbedingt herrscht, haben wir damit einen Zug in <lbn="pse_029.007"/>
jeder Sprachentwicklung mit aufgegriffen: die Sprache zu <lbn="pse_029.008"/>
einem immer vollkommeneren Werkzeug im Dienst der <lbn="pse_029.009"/>
Mitteilung und der äußerlichen Verständigung zu machen; ihre <lbn="pse_029.010"/>
Formengebung ist nur mehr von wirtschaftlichen Gesetzen <lbn="pse_029.011"/>
im weitesten Sinn beherrscht. Es genügt zu wissen, was der <lbn="pse_029.012"/>
Sprechende meint, je deutlicher und einfacher er es sagt, <lbn="pse_029.013"/>
desto besser. Wir sprechen von der fortschreitenden Ökonomisierung <lbn="pse_029.014"/>
der Sprache.</p><p><lbn="pse_029.015"/>
Aber nun ein möglichst scharfes Gegenbeispiel zum Polizeibericht, <lbn="pse_029.016"/>
von dem wir ausgegangen sind:</p><p><lbn="pse_029.017"/><lg><l><hirendition="#aq">Über allen Gipfeln</hi></l><lbn="pse_029.018"/><l><hirendition="#aq">Ist Ruh,</hi></l><lbn="pse_029.019"/><l><hirendition="#aq">In allen Wipfeln</hi></l><lbn="pse_029.020"/><l><hirendition="#aq">Spürest du</hi></l><lbn="pse_029.021"/><l><hirendition="#aq">Kaum einen Hauch;</hi></l><lbn="pse_029.022"/><l><hirendition="#aq">Die Vögelein schweigen im Walde.</hi></l><lbn="pse_029.023"/><l><hirendition="#aq">Warte nur, balde</hi></l><lbn="pse_029.024"/><l><hirendition="#aq">Ruhest du auch.</hi></l></lg> (Goethe) </p><p><lbn="pse_029.025"/>
Jeder, der für Dichtung aufgeschlossen ist und die deutsche <lbn="pse_029.026"/>
Sprache kennt, wird sofort erkennen, daß es hier nicht genügt, <lbn="pse_029.027"/>
einen Sachverhalt festzustellen und zu akzeptieren: daß über <lbn="pse_029.028"/>
den Bergen Ruhe herrscht, daß der Wind die Baumwipfel <lbn="pse_029.029"/>
nicht mehr bewegt, daß die Vögel schon in ihren Nestern <lbn="pse_029.030"/>
schlafen und daß auch der Mensch bald schlafen wird. Je <lbn="pse_029.031"/>
mehr diese »Paraphrase« als Schändung des Gedichtes empfunden <lbn="pse_029.032"/>
wird, desto besser für das, was wir hier herausarbeiten <lbn="pse_029.033"/>
wollen: Man kann unmöglich hier von einem nüchternen <lbn="pse_029.034"/>
Sachverhalt reden, der in verschiedenen sprachlichen Formen <lbn="pse_029.035"/>
mitgeteilt werden könnte. Denn in jeder anderen ginge viel <lbn="pse_029.036"/>
von dem verloren, was dieses Gedicht ist. In diesen wenigen <lbn="pse_029.037"/>
Versen ist Sprache viel mehr, als daß sie bloß in der zweckmäßigsten <lbn="pse_029.038"/>
Form etwas mitteilen wollte. Eine Fülle sprachlicher
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[29/0045]
pse_029.001
werden in den eben erörterten Formen viele der Kräfte, die pse_029.002
in der Sprache ruhen, ausgeschaltet. Nur mehr das an ihr wird pse_029.003
verwertet, was zum Zweck der Darstellung von etwas pse_029.004
Außersprachlichem nützlich ist. Da diese Art sprachlicher pse_029.005
Werke heute bei der weit entwickelten Zivilisationslage an pse_029.006
Menge unbedingt herrscht, haben wir damit einen Zug in pse_029.007
jeder Sprachentwicklung mit aufgegriffen: die Sprache zu pse_029.008
einem immer vollkommeneren Werkzeug im Dienst der pse_029.009
Mitteilung und der äußerlichen Verständigung zu machen; ihre pse_029.010
Formengebung ist nur mehr von wirtschaftlichen Gesetzen pse_029.011
im weitesten Sinn beherrscht. Es genügt zu wissen, was der pse_029.012
Sprechende meint, je deutlicher und einfacher er es sagt, pse_029.013
desto besser. Wir sprechen von der fortschreitenden Ökonomisierung pse_029.014
der Sprache.
pse_029.015
Aber nun ein möglichst scharfes Gegenbeispiel zum Polizeibericht, pse_029.016
von dem wir ausgegangen sind:
pse_029.017
Über allen Gipfeln pse_029.018
Ist Ruh, pse_029.019
In allen Wipfeln pse_029.020
Spürest du pse_029.021
Kaum einen Hauch; pse_029.022
Die Vögelein schweigen im Walde. pse_029.023
Warte nur, balde pse_029.024
Ruhest du auch.
(Goethe)
pse_029.025
Jeder, der für Dichtung aufgeschlossen ist und die deutsche pse_029.026
Sprache kennt, wird sofort erkennen, daß es hier nicht genügt, pse_029.027
einen Sachverhalt festzustellen und zu akzeptieren: daß über pse_029.028
den Bergen Ruhe herrscht, daß der Wind die Baumwipfel pse_029.029
nicht mehr bewegt, daß die Vögel schon in ihren Nestern pse_029.030
schlafen und daß auch der Mensch bald schlafen wird. Je pse_029.031
mehr diese »Paraphrase« als Schändung des Gedichtes empfunden pse_029.032
wird, desto besser für das, was wir hier herausarbeiten pse_029.033
wollen: Man kann unmöglich hier von einem nüchternen pse_029.034
Sachverhalt reden, der in verschiedenen sprachlichen Formen pse_029.035
mitgeteilt werden könnte. Denn in jeder anderen ginge viel pse_029.036
von dem verloren, was dieses Gedicht ist. In diesen wenigen pse_029.037
Versen ist Sprache viel mehr, als daß sie bloß in der zweckmäßigsten pse_029.038
Form etwas mitteilen wollte. Eine Fülle sprachlicher
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/45>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.