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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Im Mittelalter war die Lehrdichtung eine voll berechtigte pse_439.002
Gattung. Thomasin von Zerkläres "Welscher Gast" ist neben pse_439.003
Freidanks Spruchsammlung "Bescheidenheit" besonders bekannt. pse_439.004
Aber auch die "Divina Commedia" von Dante hat pse_439.005
viel von Didaktischem an sich, denn sie will ja doch ein dichterisches pse_439.006
Gesamtbild der Welt und aller ihrer Reiche geben. pse_439.007
Das setzt sich noch in die frühere Neuzeit fort. Erst im pse_439.008
späten 18. und 19. Jahrhundert tritt diese Gattung in Zahl pse_439.009
der Dichtungen und in der Wertschätzung sehr zurück. Neuerdings pse_439.010
aber scheint sie wieder mehr Boden zu gewinnen, man pse_439.011
denke an die russischen Lehrstücke. Es zeigt sich also, daß pse_439.012
vom geschichtlichen Standpunkt aus die Aussonderung der pse_439.013
Didaktik berechtigt ist. Ist sie es auch vom ästhetischen, d. h. pse_439.014
ist sie auch ihrer künstlerischen Gestaltung nach eine eigene pse_439.015
Gattung? Goethe lehnt sie als eigene Gattung oder Naturform pse_439.016
neben den drei anderen ab. Denn diese drei Naturformen pse_439.017
seien nach der Form bestimmbar und zu kennzeichnen, die pse_439.018
Lehrdichtung aber nach ihrem Inhalt. Er gesteht ihr nur den pse_439.019
Platz einer Nebengattung zwischen Poesie und Rhetorik zu. pse_439.020
Die Feststellung, Didaktik sei nach einem anderen Gesichtspunkt pse_439.021
als die drei anderen Gattungen abgehoben und umgrenzt, pse_439.022
wäre allerdings sehr bedenklich. Denn ein solcher pse_439.023
Sprung im Einteilungsgrund einer Begriffsreihe wäre ein pse_439.024
logischer Fehler.

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Es fragt sich aber wirklich, ob die Grundsätze, nach denen pse_439.026
man zur Einteilung der drei Gattungen kam, selber ganz pse_439.027
einwandfrei und klar sind. Wir haben bei der Betrachtung pse_439.028
der Einteilungsmöglichkeiten das Gegenteil erkannt. Bei der pse_439.029
langsamen Ausprägung der heute als üblich anerkannten pse_439.030
Gattungen haben die verschiedensten Kräfte und Gesichtspunkte pse_439.031
zusammengewirkt, und nicht immer logisch einwandfrei. pse_439.032
Ferner haben wir bei drei Blickpunkten, nämlich pse_439.033
bei den menschlichen Grundhaltungen, bei den Urformen pse_439.034
sprachkünstlerischer Gestaltung und bei den Arten sprachkünstlerisch pse_439.035
geformter Wirklichkeit erkannt, daß die Dreiteilung pse_439.036
nicht unbedingt eindeutig feststeht.

pse_439.037
Innerhalb der Grundhaltungen haben wir neben der Verinnerung, pse_439.038
dem Zuschauen und der Angespanntheit, die wir

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Im Mittelalter war die Lehrdichtung eine voll berechtigte pse_439.002
Gattung. Thomasin von Zerkläres »Welscher Gast« ist neben pse_439.003
Freidanks Spruchsammlung »Bescheidenheit« besonders bekannt. pse_439.004
Aber auch die »Divina Commedia« von Dante hat pse_439.005
viel von Didaktischem an sich, denn sie will ja doch ein dichterisches pse_439.006
Gesamtbild der Welt und aller ihrer Reiche geben. pse_439.007
Das setzt sich noch in die frühere Neuzeit fort. Erst im pse_439.008
späten 18. und 19. Jahrhundert tritt diese Gattung in Zahl pse_439.009
der Dichtungen und in der Wertschätzung sehr zurück. Neuerdings pse_439.010
aber scheint sie wieder mehr Boden zu gewinnen, man pse_439.011
denke an die russischen Lehrstücke. Es zeigt sich also, daß pse_439.012
vom geschichtlichen Standpunkt aus die Aussonderung der pse_439.013
Didaktik berechtigt ist. Ist sie es auch vom ästhetischen, d. h. pse_439.014
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Gattung? Goethe lehnt sie als eigene Gattung oder Naturform pse_439.016
neben den drei anderen ab. Denn diese drei Naturformen pse_439.017
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Lehrdichtung aber nach ihrem Inhalt. Er gesteht ihr nur den pse_439.019
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Die Feststellung, Didaktik sei nach einem anderen Gesichtspunkt pse_439.021
als die drei anderen Gattungen abgehoben und umgrenzt, pse_439.022
wäre allerdings sehr bedenklich. Denn ein solcher pse_439.023
Sprung im Einteilungsgrund einer Begriffsreihe wäre ein pse_439.024
logischer Fehler.

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Es fragt sich aber wirklich, ob die Grundsätze, nach denen pse_439.026
man zur Einteilung der drei Gattungen kam, selber ganz pse_439.027
einwandfrei und klar sind. Wir haben bei der Betrachtung pse_439.028
der Einteilungsmöglichkeiten das Gegenteil erkannt. Bei der pse_439.029
langsamen Ausprägung der heute als üblich anerkannten pse_439.030
Gattungen haben die verschiedensten Kräfte und Gesichtspunkte pse_439.031
zusammengewirkt, und nicht immer logisch einwandfrei. pse_439.032
Ferner haben wir bei drei Blickpunkten, nämlich pse_439.033
bei den menschlichen Grundhaltungen, bei den Urformen pse_439.034
sprachkünstlerischer Gestaltung und bei den Arten sprachkünstlerisch pse_439.035
geformter Wirklichkeit erkannt, daß die Dreiteilung pse_439.036
nicht unbedingt eindeutig feststeht.

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dem Zuschauen und der Angespanntheit, die wir

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[439/0455] pse_439.001 Im Mittelalter war die Lehrdichtung eine voll berechtigte pse_439.002 Gattung. Thomasin von Zerkläres »Welscher Gast« ist neben pse_439.003 Freidanks Spruchsammlung »Bescheidenheit« besonders bekannt. pse_439.004 Aber auch die »Divina Commedia« von Dante hat pse_439.005 viel von Didaktischem an sich, denn sie will ja doch ein dichterisches pse_439.006 Gesamtbild der Welt und aller ihrer Reiche geben. pse_439.007 Das setzt sich noch in die frühere Neuzeit fort. Erst im pse_439.008 späten 18. und 19. Jahrhundert tritt diese Gattung in Zahl pse_439.009 der Dichtungen und in der Wertschätzung sehr zurück. Neuerdings pse_439.010 aber scheint sie wieder mehr Boden zu gewinnen, man pse_439.011 denke an die russischen Lehrstücke. Es zeigt sich also, daß pse_439.012 vom geschichtlichen Standpunkt aus die Aussonderung der pse_439.013 Didaktik berechtigt ist. Ist sie es auch vom ästhetischen, d. h. pse_439.014 ist sie auch ihrer künstlerischen Gestaltung nach eine eigene pse_439.015 Gattung? Goethe lehnt sie als eigene Gattung oder Naturform pse_439.016 neben den drei anderen ab. Denn diese drei Naturformen pse_439.017 seien nach der Form bestimmbar und zu kennzeichnen, die pse_439.018 Lehrdichtung aber nach ihrem Inhalt. Er gesteht ihr nur den pse_439.019 Platz einer Nebengattung zwischen Poesie und Rhetorik zu. pse_439.020 Die Feststellung, Didaktik sei nach einem anderen Gesichtspunkt pse_439.021 als die drei anderen Gattungen abgehoben und umgrenzt, pse_439.022 wäre allerdings sehr bedenklich. Denn ein solcher pse_439.023 Sprung im Einteilungsgrund einer Begriffsreihe wäre ein pse_439.024 logischer Fehler. pse_439.025 Es fragt sich aber wirklich, ob die Grundsätze, nach denen pse_439.026 man zur Einteilung der drei Gattungen kam, selber ganz pse_439.027 einwandfrei und klar sind. Wir haben bei der Betrachtung pse_439.028 der Einteilungsmöglichkeiten das Gegenteil erkannt. Bei der pse_439.029 langsamen Ausprägung der heute als üblich anerkannten pse_439.030 Gattungen haben die verschiedensten Kräfte und Gesichtspunkte pse_439.031 zusammengewirkt, und nicht immer logisch einwandfrei. pse_439.032 Ferner haben wir bei drei Blickpunkten, nämlich pse_439.033 bei den menschlichen Grundhaltungen, bei den Urformen pse_439.034 sprachkünstlerischer Gestaltung und bei den Arten sprachkünstlerisch pse_439.035 geformter Wirklichkeit erkannt, daß die Dreiteilung pse_439.036 nicht unbedingt eindeutig feststeht. pse_439.037 Innerhalb der Grundhaltungen haben wir neben der Verinnerung, pse_439.038 dem Zuschauen und der Angespanntheit, die wir

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/455>, abgerufen am 22.11.2024.