Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_459.001
Hintergrund treten, der Hörer oder Leser wird sich allmählich pse_459.002
immer eindeutiger der in der Sprache geschaffenen Wirklichkeit pse_459.003
hingeben und damit vollkommen angefüllt sein. pse_459.004
Man kann Ereignisse erzählen, die wirklich stattgefunden pse_459.005
haben, und auch erfundene. Das ist aber für die Struktur des pse_459.006
Erzählens nicht das Maßgebende. Die Frage nach dem Bezug pse_459.007
zur außersprachlichen Wirklichkeit tritt zurück. Ob etwas pse_459.008
gut erzählt ist, hängt nicht davon ab, ob das "wirklich" geschehen pse_459.009
ist. Ein langweiliger Roman eines erfundenen Stoffes pse_459.010
ist eben schlecht erzählt, und der Verlauf einer Schlacht oder pse_459.011
eines politischen Kongresses kann wirkungsvoll und meisterhaft pse_459.012
erzählt werden. Aber dann werden wir in diesem Fall die pse_459.013
außersprachliche Intention aufgeben, wir werden ganz von pse_459.014
dem gebannt sein, was erzählt wird, das in der Sprache Gestaltete pse_459.015
wird uns zur Wirklichkeit. Ob also eine neue Wirklichkeit pse_459.016
im Erzählen entsteht und sie damit völlige Selbständigkeit pse_459.017
in ihrer Gesamtheit -- nicht in ihren Elementen -- gewinnt, pse_459.018
hängt ganz von der Art des Erzählens, genauer des sprachkünstlerischen pse_459.019
Gestaltens ab. Wenn es dem Dichter einmal pse_459.020
gelungen ist, diese dichterische Welt vor uns ablaufen zu pse_459.021
lassen, bleibt sie für uns eine eigene Wirklichkeit: die sprachgeschaffene, pse_459.022
dichterische.

pse_459.023
Etwas trägt noch wesentlich dazu bei, diese dichterische pse_459.024
Wirklichkeit für sich zu erleben und nicht als Bericht über pse_459.025
eine außersprachliche. Nämlich daß in der Gestaltung einer pse_459.026
solchen Welt eine scharfe Auswahl gegenüber der tatsächlichen pse_459.027
außersprachlichen Wirklichkeit getroffen wird. Wenn pse_459.028
das Leben eines Menschen in einem Roman erzählt wird, so pse_459.029
spielt dessen Essen und Schlafen in der Erzählung normalerweise pse_459.030
kaum eine Rolle, während die Zeiten, die wir mit Essen pse_459.031
und Schlafen verbringen, "in Wirklichkeit" einen sehr großen pse_459.032
Teil unseres Lebens ausmachen. Der Ablauf eines Romanlebens pse_459.033
ist also schon in dieser Hinsicht ganz anders gebaut als pse_459.034
ein Leben der Realität. Aus der Tatsache, daß im Erzählen eine pse_459.035
Wirklichkeit in einer Weise gebaut wird, die sich vom Ablauf pse_459.036
der Vorgänge der außersprachlichen Wirklichkeit deutlich pse_459.037
abhebt, ergeben sich einige Begriffe, die für die Erzählkunst pse_459.038
wichtig sind. Eine Geschichte (story) ist in der sprachlichen

pse_459.001
Hintergrund treten, der Hörer oder Leser wird sich allmählich pse_459.002
immer eindeutiger der in der Sprache geschaffenen Wirklichkeit pse_459.003
hingeben und damit vollkommen angefüllt sein. pse_459.004
Man kann Ereignisse erzählen, die wirklich stattgefunden pse_459.005
haben, und auch erfundene. Das ist aber für die Struktur des pse_459.006
Erzählens nicht das Maßgebende. Die Frage nach dem Bezug pse_459.007
zur außersprachlichen Wirklichkeit tritt zurück. Ob etwas pse_459.008
gut erzählt ist, hängt nicht davon ab, ob das »wirklich« geschehen pse_459.009
ist. Ein langweiliger Roman eines erfundenen Stoffes pse_459.010
ist eben schlecht erzählt, und der Verlauf einer Schlacht oder pse_459.011
eines politischen Kongresses kann wirkungsvoll und meisterhaft pse_459.012
erzählt werden. Aber dann werden wir in diesem Fall die pse_459.013
außersprachliche Intention aufgeben, wir werden ganz von pse_459.014
dem gebannt sein, was erzählt wird, das in der Sprache Gestaltete pse_459.015
wird uns zur Wirklichkeit. Ob also eine neue Wirklichkeit pse_459.016
im Erzählen entsteht und sie damit völlige Selbständigkeit pse_459.017
in ihrer Gesamtheit — nicht in ihren Elementen — gewinnt, pse_459.018
hängt ganz von der Art des Erzählens, genauer des sprachkünstlerischen pse_459.019
Gestaltens ab. Wenn es dem Dichter einmal pse_459.020
gelungen ist, diese dichterische Welt vor uns ablaufen zu pse_459.021
lassen, bleibt sie für uns eine eigene Wirklichkeit: die sprachgeschaffene, pse_459.022
dichterische.

pse_459.023
Etwas trägt noch wesentlich dazu bei, diese dichterische pse_459.024
Wirklichkeit für sich zu erleben und nicht als Bericht über pse_459.025
eine außersprachliche. Nämlich daß in der Gestaltung einer pse_459.026
solchen Welt eine scharfe Auswahl gegenüber der tatsächlichen pse_459.027
außersprachlichen Wirklichkeit getroffen wird. Wenn pse_459.028
das Leben eines Menschen in einem Roman erzählt wird, so pse_459.029
spielt dessen Essen und Schlafen in der Erzählung normalerweise pse_459.030
kaum eine Rolle, während die Zeiten, die wir mit Essen pse_459.031
und Schlafen verbringen, »in Wirklichkeit« einen sehr großen pse_459.032
Teil unseres Lebens ausmachen. Der Ablauf eines Romanlebens pse_459.033
ist also schon in dieser Hinsicht ganz anders gebaut als pse_459.034
ein Leben der Realität. Aus der Tatsache, daß im Erzählen eine pse_459.035
Wirklichkeit in einer Weise gebaut wird, die sich vom Ablauf pse_459.036
der Vorgänge der außersprachlichen Wirklichkeit deutlich pse_459.037
abhebt, ergeben sich einige Begriffe, die für die Erzählkunst pse_459.038
wichtig sind. Eine Geschichte (story) ist in der sprachlichen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0475" n="459"/><lb n="pse_459.001"/>
Hintergrund treten, der Hörer oder Leser wird sich allmählich <lb n="pse_459.002"/>
immer eindeutiger der in der Sprache geschaffenen Wirklichkeit <lb n="pse_459.003"/>
hingeben und damit vollkommen angefüllt sein. <lb n="pse_459.004"/>
Man kann Ereignisse erzählen, die wirklich stattgefunden <lb n="pse_459.005"/>
haben, und auch erfundene. Das ist aber für die Struktur des <lb n="pse_459.006"/>
Erzählens nicht das Maßgebende. Die Frage nach dem Bezug <lb n="pse_459.007"/>
zur außersprachlichen Wirklichkeit tritt zurück. Ob etwas <lb n="pse_459.008"/>
gut erzählt ist, hängt nicht davon ab, ob das »wirklich« geschehen <lb n="pse_459.009"/>
ist. Ein langweiliger Roman eines erfundenen Stoffes <lb n="pse_459.010"/>
ist eben schlecht erzählt, und der Verlauf einer Schlacht oder <lb n="pse_459.011"/>
eines politischen Kongresses kann wirkungsvoll und meisterhaft <lb n="pse_459.012"/>
erzählt werden. Aber dann werden wir in diesem Fall die <lb n="pse_459.013"/>
außersprachliche Intention aufgeben, wir werden ganz von <lb n="pse_459.014"/>
dem gebannt sein, was erzählt wird, das in der Sprache Gestaltete <lb n="pse_459.015"/>
wird uns zur Wirklichkeit. Ob also eine neue Wirklichkeit <lb n="pse_459.016"/>
im Erzählen entsteht und sie damit völlige Selbständigkeit <lb n="pse_459.017"/>
in ihrer Gesamtheit &#x2014; nicht in ihren Elementen &#x2014; gewinnt, <lb n="pse_459.018"/>
hängt ganz von der Art des Erzählens, genauer des sprachkünstlerischen <lb n="pse_459.019"/>
Gestaltens ab. Wenn es dem Dichter einmal <lb n="pse_459.020"/>
gelungen ist, diese dichterische Welt vor uns ablaufen zu <lb n="pse_459.021"/>
lassen, bleibt sie für uns eine eigene Wirklichkeit: die sprachgeschaffene, <lb n="pse_459.022"/>
dichterische.</p>
            <p><lb n="pse_459.023"/>
Etwas trägt noch wesentlich dazu bei, diese dichterische <lb n="pse_459.024"/>
Wirklichkeit für sich zu erleben und nicht als Bericht über <lb n="pse_459.025"/>
eine außersprachliche. Nämlich daß in der Gestaltung einer <lb n="pse_459.026"/>
solchen Welt eine scharfe Auswahl gegenüber der tatsächlichen <lb n="pse_459.027"/>
außersprachlichen Wirklichkeit getroffen wird. Wenn <lb n="pse_459.028"/>
das Leben eines Menschen in einem Roman erzählt wird, so <lb n="pse_459.029"/>
spielt dessen Essen und Schlafen in der Erzählung normalerweise <lb n="pse_459.030"/>
kaum eine Rolle, während die Zeiten, die wir mit Essen <lb n="pse_459.031"/>
und Schlafen verbringen, »in Wirklichkeit« einen sehr großen <lb n="pse_459.032"/>
Teil unseres Lebens ausmachen. Der Ablauf eines Romanlebens <lb n="pse_459.033"/>
ist also schon in dieser Hinsicht ganz anders gebaut als <lb n="pse_459.034"/>
ein Leben der Realität. Aus der Tatsache, daß im Erzählen eine <lb n="pse_459.035"/>
Wirklichkeit in einer Weise gebaut wird, die sich vom Ablauf <lb n="pse_459.036"/>
der Vorgänge der außersprachlichen Wirklichkeit deutlich <lb n="pse_459.037"/>
abhebt, ergeben sich einige Begriffe, die für die Erzählkunst <lb n="pse_459.038"/>
wichtig sind. Eine Geschichte (story) ist in der sprachlichen
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[459/0475] pse_459.001 Hintergrund treten, der Hörer oder Leser wird sich allmählich pse_459.002 immer eindeutiger der in der Sprache geschaffenen Wirklichkeit pse_459.003 hingeben und damit vollkommen angefüllt sein. pse_459.004 Man kann Ereignisse erzählen, die wirklich stattgefunden pse_459.005 haben, und auch erfundene. Das ist aber für die Struktur des pse_459.006 Erzählens nicht das Maßgebende. Die Frage nach dem Bezug pse_459.007 zur außersprachlichen Wirklichkeit tritt zurück. Ob etwas pse_459.008 gut erzählt ist, hängt nicht davon ab, ob das »wirklich« geschehen pse_459.009 ist. Ein langweiliger Roman eines erfundenen Stoffes pse_459.010 ist eben schlecht erzählt, und der Verlauf einer Schlacht oder pse_459.011 eines politischen Kongresses kann wirkungsvoll und meisterhaft pse_459.012 erzählt werden. Aber dann werden wir in diesem Fall die pse_459.013 außersprachliche Intention aufgeben, wir werden ganz von pse_459.014 dem gebannt sein, was erzählt wird, das in der Sprache Gestaltete pse_459.015 wird uns zur Wirklichkeit. Ob also eine neue Wirklichkeit pse_459.016 im Erzählen entsteht und sie damit völlige Selbständigkeit pse_459.017 in ihrer Gesamtheit — nicht in ihren Elementen — gewinnt, pse_459.018 hängt ganz von der Art des Erzählens, genauer des sprachkünstlerischen pse_459.019 Gestaltens ab. Wenn es dem Dichter einmal pse_459.020 gelungen ist, diese dichterische Welt vor uns ablaufen zu pse_459.021 lassen, bleibt sie für uns eine eigene Wirklichkeit: die sprachgeschaffene, pse_459.022 dichterische. pse_459.023 Etwas trägt noch wesentlich dazu bei, diese dichterische pse_459.024 Wirklichkeit für sich zu erleben und nicht als Bericht über pse_459.025 eine außersprachliche. Nämlich daß in der Gestaltung einer pse_459.026 solchen Welt eine scharfe Auswahl gegenüber der tatsächlichen pse_459.027 außersprachlichen Wirklichkeit getroffen wird. Wenn pse_459.028 das Leben eines Menschen in einem Roman erzählt wird, so pse_459.029 spielt dessen Essen und Schlafen in der Erzählung normalerweise pse_459.030 kaum eine Rolle, während die Zeiten, die wir mit Essen pse_459.031 und Schlafen verbringen, »in Wirklichkeit« einen sehr großen pse_459.032 Teil unseres Lebens ausmachen. Der Ablauf eines Romanlebens pse_459.033 ist also schon in dieser Hinsicht ganz anders gebaut als pse_459.034 ein Leben der Realität. Aus der Tatsache, daß im Erzählen eine pse_459.035 Wirklichkeit in einer Weise gebaut wird, die sich vom Ablauf pse_459.036 der Vorgänge der außersprachlichen Wirklichkeit deutlich pse_459.037 abhebt, ergeben sich einige Begriffe, die für die Erzählkunst pse_459.038 wichtig sind. Eine Geschichte (story) ist in der sprachlichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/475
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/475>, abgerufen am 22.11.2024.