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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Anders ist die Kalendergeschichte geformt. Ihre Meister sind pse_518.002
Hebel, dann Gotthelf, wieder Wilhelm Schäfer und auch pse_518.003
B. Brecht, der einen deutlichen Propagandahintergrund pse_518.004
schafft. Sie gibt sich harmlos und schlicht, es scheint zunächst pse_518.005
vor allem auf das liebenswürdige, unterhaltsame Erzählen pse_518.006
anzukommen. Aber in dieser Einfalt offenbart sich die Seele pse_518.007
einer ganzen Sprachgemeinschaft und zugleich die Ehrfurcht pse_518.008
vor allen Geheimnissen und allen Geschehnissen in der Welt.

pse_518.009
Ein Erzeugnis unserer modernen Zivilisation ist die Kurzgeschichte. pse_518.010
Das Wort, so deutsch es klingt, ist eine Lehnübersetzung pse_518.011
aus dem angloamerikanischen "short story". Dort bezeichnet pse_518.012
das Wort ursprünglich die Novelle, seit Poe dann pse_518.013
auch diese neue Form knappen Erzählens, so daß das Wort pse_518.014
dort zweideutig ist. Dagegen bezeichnen wir mit dem deutschen pse_518.015
Wort eindeutig eine bestimmte Art knappen und strengen pse_518.016
Prosaerzählens, und auch das englische Wort wird zusehends pse_518.017
immer mehr dafür eingesetzt. Die Erzählart war zuerst pse_518.018
künstlerisch belastet, weil man vielfach auch üble Magazingeschichten pse_518.019
so nannte. In den dreißiger Jahren unseres pse_518.020
Jahrhunderts ist sie außer in Deutschland Mode geworden. pse_518.021
Das äußere Werden hängt mit dem Anwachsen des Zeitungs- pse_518.022
und Magazinkonsums zusammen, mit der Gehetztheit unseres pse_518.023
Lebens, mit dem Lesehunger auf der Fahrt in die Arbeit. pse_518.024
Für die künstlerische Ausbildung ist die Tatsache wichtig, daß pse_518.025
im Naturalismus die strenge Novellenform verfällt und an pse_518.026
ihre Stelle die Skizze tritt: sie gibt nur Stimmung, keine pse_518.027
Handlung. Die Kurzgeschichte ist durch ganz bestimmte pse_518.028
Merkmale deutlich umschrieben. Sie ist kürzer als die Novelle, pse_518.029
nach amerikanischer Weise schränkt man sie sogar genau auf pse_518.030
Wortzahlen ein: zwischen 1000 und 20 000 Worten liegt ihr pse_518.031
Gebiet. Solche Schranken haben auch für Inhalt und Gestaltung pse_518.032
Bedeutung. Der Kurzgeschichte fehlt jegliche Einleitung, pse_518.033
sie erzählt linear, nicht in verschiedenen Schichten, denn sie pse_518.034
greift nur ein Charakteristikum heraus und steuert auf dieses pse_518.035
zu. Sie gibt nur Wesentliches. Sie ist also ein deutliches Kunstprodukt, pse_518.036
das nach ganz bestimmten strengen Gesetzen zu pse_518.037
gestalten ist. Von der Anekdote unterscheidet sich die Kurzgeschichte pse_518.038
durch das Fehlen einer Pointe, die die Art einer

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Anders ist die Kalendergeschichte geformt. Ihre Meister sind pse_518.002
Hebel, dann Gotthelf, wieder Wilhelm Schäfer und auch pse_518.003
B. Brecht, der einen deutlichen Propagandahintergrund pse_518.004
schafft. Sie gibt sich harmlos und schlicht, es scheint zunächst pse_518.005
vor allem auf das liebenswürdige, unterhaltsame Erzählen pse_518.006
anzukommen. Aber in dieser Einfalt offenbart sich die Seele pse_518.007
einer ganzen Sprachgemeinschaft und zugleich die Ehrfurcht pse_518.008
vor allen Geheimnissen und allen Geschehnissen in der Welt.

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Ein Erzeugnis unserer modernen Zivilisation ist die Kurzgeschichte. pse_518.010
Das Wort, so deutsch es klingt, ist eine Lehnübersetzung pse_518.011
aus dem angloamerikanischen »short story«. Dort bezeichnet pse_518.012
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auch diese neue Form knappen Erzählens, so daß das Wort pse_518.014
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Prosaerzählens, und auch das englische Wort wird zusehends pse_518.017
immer mehr dafür eingesetzt. Die Erzählart war zuerst pse_518.018
künstlerisch belastet, weil man vielfach auch üble Magazingeschichten pse_518.019
so nannte. In den dreißiger Jahren unseres pse_518.020
Jahrhunderts ist sie außer in Deutschland Mode geworden. pse_518.021
Das äußere Werden hängt mit dem Anwachsen des Zeitungs- pse_518.022
und Magazinkonsums zusammen, mit der Gehetztheit unseres pse_518.023
Lebens, mit dem Lesehunger auf der Fahrt in die Arbeit. pse_518.024
Für die künstlerische Ausbildung ist die Tatsache wichtig, daß pse_518.025
im Naturalismus die strenge Novellenform verfällt und an pse_518.026
ihre Stelle die Skizze tritt: sie gibt nur Stimmung, keine pse_518.027
Handlung. Die Kurzgeschichte ist durch ganz bestimmte pse_518.028
Merkmale deutlich umschrieben. Sie ist kürzer als die Novelle, pse_518.029
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Wortzahlen ein: zwischen 1000 und 20 000 Worten liegt ihr pse_518.031
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Bedeutung. Der Kurzgeschichte fehlt jegliche Einleitung, pse_518.033
sie erzählt linear, nicht in verschiedenen Schichten, denn sie pse_518.034
greift nur ein Charakteristikum heraus und steuert auf dieses pse_518.035
zu. Sie gibt nur Wesentliches. Sie ist also ein deutliches Kunstprodukt, pse_518.036
das nach ganz bestimmten strengen Gesetzen zu pse_518.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/534>, abgerufen am 13.06.2024.