Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_520.001
das Volksmärchen als Erzählart kennzeichnen, bewußt auf, pse_520.002
steigert sie zu klarer Form und schafft so ein betontes Kunstgebilde. pse_520.003
So sind auch die Kinder- und Hausmärchen der pse_520.004
Brüder Grimm zwar inhaltlich Volksmärchen, im bewußten pse_520.005
volkstümlichen Erzählen aber ausgesprochene Kunstwerke. pse_520.006
Es genügt nicht, wenn man phantastisches Erzählen außerhalb pse_520.007
der Naturgesetze und solches Erzählen, in dem alles ausgeht, pse_520.008
wie man sichs wünscht, als Wesenszüge feststellt. Neuere pse_520.009
Forschung hat tiefer gesehen und uns die künstlerischen Züge pse_520.010
dieser reinen Erzählkunst herausgearbeitet (Lüthi). Das Märchen pse_520.011
erzählt eindimensional. Das Diesseits und das Jenseits pse_520.012
sind zwar äußerlich voneinander entfernt, aber im Inneren pse_520.013
besteht kein Unterschied: das Jenseits wird so gesehen wie das pse_520.014
Diesseits. Das Märchen erzählt flächenhaft, es bohrt nicht in pse_520.015
Tiefen der Seele, die Hauptsache ist die reine Handlung, die pse_520.016
Menschen sind Figuren ohne Atmosphäre um sich. Alle pse_520.017
Dinge und Menschen stehen im Märchen für sich, auch die pse_520.018
Episoden bleiben isoliert. Man erkennt das daran, daß Märchenfiguren pse_520.019
keine Erfahrungen machen, nichts hinzulernen. pse_520.020
Daraus aber ergibt sich die Leichtigkeit, alles mit allem zu verknüpfen. pse_520.021
So erscheint alles im geheimen einander zugeordnet, pse_520.022
wenn es auch äußerlich wie Zufall aussehen mag. Mithin pse_520.023
formt sich ein ganz bestimmter Erzählstil: die Figuren werden pse_520.024
nicht beschrieben, sondern nur genannt, die Gegenstände pse_520.025
haben klare Umrißlinien, solche, die sie an sich schon haben, pse_520.026
sind besonders beliebt: Steine und Metalle. Auch die Handlungslinie pse_520.027
ist deutlich und scharf gezogen. Dadurch entsteht pse_520.028
größte Wirklichkeitsschärfe; die Wunderdinge sind dafür pse_520.029
notwendige Hilfsmittel, alles Krasse gibt eben scharfe Konturierung. pse_520.030
Dazu die Vorliebe für starre Formeln, formelhafte pse_520.031
Anfänge und Schlüsse. Solcher Stil ist hell und bestimmt, er pse_520.032
sieht von allem ab, was die Figuren, die Dinge und die Handlung pse_520.033
verunklären könnte: abstrakter Stil in diesem Sinn. Hier pse_520.034
dürften sich beim Kunstmärchen, besonders etwa bei Novalis, pse_520.035
erhebliche Abweichungen finden. Alles Geheimnisvolle verliert pse_520.036
im Volksmärchen so das Numinose, es ist einfach da; pse_520.037
die Menschen sind als reine Figuren völlig schwerelos. Das pse_520.038
alles bedeutet Verlust an Konkretheit, Erlebnistiefe, an Inhaltsschwere

pse_520.001
das Volksmärchen als Erzählart kennzeichnen, bewußt auf, pse_520.002
steigert sie zu klarer Form und schafft so ein betontes Kunstgebilde. pse_520.003
So sind auch die Kinder- und Hausmärchen der pse_520.004
Brüder Grimm zwar inhaltlich Volksmärchen, im bewußten pse_520.005
volkstümlichen Erzählen aber ausgesprochene Kunstwerke. pse_520.006
Es genügt nicht, wenn man phantastisches Erzählen außerhalb pse_520.007
der Naturgesetze und solches Erzählen, in dem alles ausgeht, pse_520.008
wie man sichs wünscht, als Wesenszüge feststellt. Neuere pse_520.009
Forschung hat tiefer gesehen und uns die künstlerischen Züge pse_520.010
dieser reinen Erzählkunst herausgearbeitet (Lüthi). Das Märchen pse_520.011
erzählt eindimensional. Das Diesseits und das Jenseits pse_520.012
sind zwar äußerlich voneinander entfernt, aber im Inneren pse_520.013
besteht kein Unterschied: das Jenseits wird so gesehen wie das pse_520.014
Diesseits. Das Märchen erzählt flächenhaft, es bohrt nicht in pse_520.015
Tiefen der Seele, die Hauptsache ist die reine Handlung, die pse_520.016
Menschen sind Figuren ohne Atmosphäre um sich. Alle pse_520.017
Dinge und Menschen stehen im Märchen für sich, auch die pse_520.018
Episoden bleiben isoliert. Man erkennt das daran, daß Märchenfiguren pse_520.019
keine Erfahrungen machen, nichts hinzulernen. pse_520.020
Daraus aber ergibt sich die Leichtigkeit, alles mit allem zu verknüpfen. pse_520.021
So erscheint alles im geheimen einander zugeordnet, pse_520.022
wenn es auch äußerlich wie Zufall aussehen mag. Mithin pse_520.023
formt sich ein ganz bestimmter Erzählstil: die Figuren werden pse_520.024
nicht beschrieben, sondern nur genannt, die Gegenstände pse_520.025
haben klare Umrißlinien, solche, die sie an sich schon haben, pse_520.026
sind besonders beliebt: Steine und Metalle. Auch die Handlungslinie pse_520.027
ist deutlich und scharf gezogen. Dadurch entsteht pse_520.028
größte Wirklichkeitsschärfe; die Wunderdinge sind dafür pse_520.029
notwendige Hilfsmittel, alles Krasse gibt eben scharfe Konturierung. pse_520.030
Dazu die Vorliebe für starre Formeln, formelhafte pse_520.031
Anfänge und Schlüsse. Solcher Stil ist hell und bestimmt, er pse_520.032
sieht von allem ab, was die Figuren, die Dinge und die Handlung pse_520.033
verunklären könnte: abstrakter Stil in diesem Sinn. Hier pse_520.034
dürften sich beim Kunstmärchen, besonders etwa bei Novalis, pse_520.035
erhebliche Abweichungen finden. Alles Geheimnisvolle verliert pse_520.036
im Volksmärchen so das Numinose, es ist einfach da; pse_520.037
die Menschen sind als reine Figuren völlig schwerelos. Das pse_520.038
alles bedeutet Verlust an Konkretheit, Erlebnistiefe, an Inhaltsschwere

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0536" n="520"/><lb n="pse_520.001"/>
das Volksmärchen als Erzählart kennzeichnen, bewußt auf, <lb n="pse_520.002"/>
steigert sie zu klarer Form und schafft so ein betontes Kunstgebilde. <lb n="pse_520.003"/>
So sind auch die Kinder- und Hausmärchen der <lb n="pse_520.004"/>
Brüder Grimm zwar inhaltlich Volksmärchen, im bewußten <lb n="pse_520.005"/>
volkstümlichen Erzählen aber ausgesprochene Kunstwerke. <lb n="pse_520.006"/>
Es genügt nicht, wenn man phantastisches Erzählen außerhalb <lb n="pse_520.007"/>
der Naturgesetze und solches Erzählen, in dem alles ausgeht, <lb n="pse_520.008"/>
wie man sichs wünscht, als Wesenszüge feststellt. Neuere <lb n="pse_520.009"/>
Forschung hat tiefer gesehen und uns die künstlerischen Züge <lb n="pse_520.010"/>
dieser reinen Erzählkunst herausgearbeitet (Lüthi). Das Märchen <lb n="pse_520.011"/>
erzählt eindimensional. Das Diesseits und das Jenseits <lb n="pse_520.012"/>
sind zwar äußerlich voneinander entfernt, aber im Inneren <lb n="pse_520.013"/>
besteht kein Unterschied: das Jenseits wird so gesehen wie das <lb n="pse_520.014"/>
Diesseits. Das Märchen erzählt flächenhaft, es bohrt nicht in <lb n="pse_520.015"/>
Tiefen der Seele, die Hauptsache ist die reine Handlung, die <lb n="pse_520.016"/>
Menschen sind Figuren ohne Atmosphäre um sich. Alle <lb n="pse_520.017"/>
Dinge und Menschen stehen im Märchen für sich, auch die <lb n="pse_520.018"/>
Episoden bleiben isoliert. Man erkennt das daran, daß Märchenfiguren <lb n="pse_520.019"/>
keine Erfahrungen machen, nichts hinzulernen. <lb n="pse_520.020"/>
Daraus aber ergibt sich die Leichtigkeit, alles mit allem zu verknüpfen. <lb n="pse_520.021"/>
So erscheint alles im geheimen einander zugeordnet, <lb n="pse_520.022"/>
wenn es auch äußerlich wie Zufall aussehen mag. Mithin <lb n="pse_520.023"/>
formt sich ein ganz bestimmter Erzählstil: die Figuren werden <lb n="pse_520.024"/>
nicht beschrieben, sondern nur genannt, die Gegenstände <lb n="pse_520.025"/>
haben klare Umrißlinien, solche, die sie an sich schon haben, <lb n="pse_520.026"/>
sind besonders beliebt: Steine und Metalle. Auch die Handlungslinie <lb n="pse_520.027"/>
ist deutlich und scharf gezogen. Dadurch entsteht <lb n="pse_520.028"/>
größte Wirklichkeitsschärfe; die Wunderdinge sind dafür <lb n="pse_520.029"/>
notwendige Hilfsmittel, alles Krasse gibt eben scharfe Konturierung. <lb n="pse_520.030"/>
Dazu die Vorliebe für starre Formeln, formelhafte <lb n="pse_520.031"/>
Anfänge und Schlüsse. Solcher Stil ist hell und bestimmt, er <lb n="pse_520.032"/>
sieht von allem ab, was die Figuren, die Dinge und die Handlung <lb n="pse_520.033"/>
verunklären könnte: abstrakter Stil in diesem Sinn. Hier <lb n="pse_520.034"/>
dürften sich beim Kunstmärchen, besonders etwa bei Novalis, <lb n="pse_520.035"/>
erhebliche Abweichungen finden. Alles Geheimnisvolle verliert <lb n="pse_520.036"/>
im Volksmärchen so das Numinose, es ist einfach da; <lb n="pse_520.037"/>
die Menschen sind als reine Figuren völlig schwerelos. Das <lb n="pse_520.038"/>
alles bedeutet Verlust an Konkretheit, Erlebnistiefe, an Inhaltsschwere
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[520/0536] pse_520.001 das Volksmärchen als Erzählart kennzeichnen, bewußt auf, pse_520.002 steigert sie zu klarer Form und schafft so ein betontes Kunstgebilde. pse_520.003 So sind auch die Kinder- und Hausmärchen der pse_520.004 Brüder Grimm zwar inhaltlich Volksmärchen, im bewußten pse_520.005 volkstümlichen Erzählen aber ausgesprochene Kunstwerke. pse_520.006 Es genügt nicht, wenn man phantastisches Erzählen außerhalb pse_520.007 der Naturgesetze und solches Erzählen, in dem alles ausgeht, pse_520.008 wie man sichs wünscht, als Wesenszüge feststellt. Neuere pse_520.009 Forschung hat tiefer gesehen und uns die künstlerischen Züge pse_520.010 dieser reinen Erzählkunst herausgearbeitet (Lüthi). Das Märchen pse_520.011 erzählt eindimensional. Das Diesseits und das Jenseits pse_520.012 sind zwar äußerlich voneinander entfernt, aber im Inneren pse_520.013 besteht kein Unterschied: das Jenseits wird so gesehen wie das pse_520.014 Diesseits. Das Märchen erzählt flächenhaft, es bohrt nicht in pse_520.015 Tiefen der Seele, die Hauptsache ist die reine Handlung, die pse_520.016 Menschen sind Figuren ohne Atmosphäre um sich. Alle pse_520.017 Dinge und Menschen stehen im Märchen für sich, auch die pse_520.018 Episoden bleiben isoliert. Man erkennt das daran, daß Märchenfiguren pse_520.019 keine Erfahrungen machen, nichts hinzulernen. pse_520.020 Daraus aber ergibt sich die Leichtigkeit, alles mit allem zu verknüpfen. pse_520.021 So erscheint alles im geheimen einander zugeordnet, pse_520.022 wenn es auch äußerlich wie Zufall aussehen mag. Mithin pse_520.023 formt sich ein ganz bestimmter Erzählstil: die Figuren werden pse_520.024 nicht beschrieben, sondern nur genannt, die Gegenstände pse_520.025 haben klare Umrißlinien, solche, die sie an sich schon haben, pse_520.026 sind besonders beliebt: Steine und Metalle. Auch die Handlungslinie pse_520.027 ist deutlich und scharf gezogen. Dadurch entsteht pse_520.028 größte Wirklichkeitsschärfe; die Wunderdinge sind dafür pse_520.029 notwendige Hilfsmittel, alles Krasse gibt eben scharfe Konturierung. pse_520.030 Dazu die Vorliebe für starre Formeln, formelhafte pse_520.031 Anfänge und Schlüsse. Solcher Stil ist hell und bestimmt, er pse_520.032 sieht von allem ab, was die Figuren, die Dinge und die Handlung pse_520.033 verunklären könnte: abstrakter Stil in diesem Sinn. Hier pse_520.034 dürften sich beim Kunstmärchen, besonders etwa bei Novalis, pse_520.035 erhebliche Abweichungen finden. Alles Geheimnisvolle verliert pse_520.036 im Volksmärchen so das Numinose, es ist einfach da; pse_520.037 die Menschen sind als reine Figuren völlig schwerelos. Das pse_520.038 alles bedeutet Verlust an Konkretheit, Erlebnistiefe, an Inhaltsschwere

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/536
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/536>, abgerufen am 27.11.2024.