pse_039.001 daran, ob diese Gestalten in der Wirklichkeit einmal existiert pse_039.002 haben, sie sind eine Wirklichkeit kraft der Sprache und pse_039.003 nur in ihr. Die Landschaften bauen sich aus Sprachkunst auf, pse_039.004 und zu fragen, welche Landschaft gemeint sei und ob sie pse_039.005 gut geschildert sei, wäre völlig abwegig. Lehrreich ist der pse_039.006 Anfang des "Jürg Jenatsch" mit der berühmten Schilderung pse_039.007 der Landschaft um den Julierpaß. Der Julierpaß und das Land pse_039.008 Bünden werden gleich zu Anfang genannt; die Säulenstümpfe, pse_039.009 die am Schluß erwähnt werden, kann man heute noch sehen; pse_039.010 und die Licht- und Schattenwirkungen wird man ohne pse_039.011 weiteres an einem Hochsommertag dort auch noch erleben pse_039.012 können. Eine kurze Vorbemerkung, daß da jemand seine pse_039.013 tatsächliche Reise schilderte, fehlt. Aber nun das Entscheidende: pse_039.014 die Gewalt und die unheimliche Bewegung dieser Hochgebirgslandschaft pse_039.015 wirken nicht deshalb so eindrucksvoll, weil pse_039.016 man in jedem Zug den deutlichen Hinweis auf die geographische pse_039.017 Wirklichkeit erkennt, sondern weil hier in der inneren pse_039.018 Kraft der Sprache eine neue Wirklichkeit ersteht, die nicht pse_039.019 schwächlich in Sprache nachgeahmt wäre, weil diese Wirklichkeit pse_039.020 aus der Bewegung und dem Innersten der Sprache pse_039.021 herauswächst und somit eigentlich mit der Außenwelt kaum pse_039.022 mehr etwas zu tun hat. Und nun kommt das zweite: die pse_039.023 Stelle steht im Präteritum: "stand" usw. Das Abrücken in pse_039.024 eine andere Zeitebene entfernt -- auch eben deshalb, weil keine pse_039.025 Vorbemerkung hinweist, es sei die Erinnerung eines Reisenden pse_039.026 -- von der außersprachlichen, geographisch feststellbaren pse_039.027 Landschaft und erleichtert das Heraufwachsen einer sprachlichen pse_039.028 Welt. Noch mehr aber wirkt auch die Einstellung des pse_039.029 Lesers, mit der er beginnt: Er ist sich dessen bewußt, daß er pse_039.030 jetzt einen Roman, also eine Dichtung liest. Keine dieser pse_039.031 Antriebskräfte allein genügt, um von vornherein ein Sprachgebilde pse_039.032 als Dichtung zu erfahren, keine einzelne Form, etwa pse_039.033 das Präteritum, nicht der volle Lautungscharakter der Stelle, pse_039.034 nicht jedes sprachliche Bild für sich, nicht die Erwartung des pse_039.035 Lesers beim Beginn der Romanlektüre, sondern alle zusammen. pse_039.036 Die sprachlich-stilistischen Züge dieser Stelle stempeln pse_039.037 sie sofort zum Sprachkunstwerk, aber die Nennung geographischer pse_039.038 Namen legt noch einen Bezug zur außersprachlichen
pse_039.001 daran, ob diese Gestalten in der Wirklichkeit einmal existiert pse_039.002 haben, sie sind eine Wirklichkeit kraft der Sprache und pse_039.003 nur in ihr. Die Landschaften bauen sich aus Sprachkunst auf, pse_039.004 und zu fragen, welche Landschaft gemeint sei und ob sie pse_039.005 gut geschildert sei, wäre völlig abwegig. Lehrreich ist der pse_039.006 Anfang des »Jürg Jenatsch« mit der berühmten Schilderung pse_039.007 der Landschaft um den Julierpaß. Der Julierpaß und das Land pse_039.008 Bünden werden gleich zu Anfang genannt; die Säulenstümpfe, pse_039.009 die am Schluß erwähnt werden, kann man heute noch sehen; pse_039.010 und die Licht- und Schattenwirkungen wird man ohne pse_039.011 weiteres an einem Hochsommertag dort auch noch erleben pse_039.012 können. Eine kurze Vorbemerkung, daß da jemand seine pse_039.013 tatsächliche Reise schilderte, fehlt. Aber nun das Entscheidende: pse_039.014 die Gewalt und die unheimliche Bewegung dieser Hochgebirgslandschaft pse_039.015 wirken nicht deshalb so eindrucksvoll, weil pse_039.016 man in jedem Zug den deutlichen Hinweis auf die geographische pse_039.017 Wirklichkeit erkennt, sondern weil hier in der inneren pse_039.018 Kraft der Sprache eine neue Wirklichkeit ersteht, die nicht pse_039.019 schwächlich in Sprache nachgeahmt wäre, weil diese Wirklichkeit pse_039.020 aus der Bewegung und dem Innersten der Sprache pse_039.021 herauswächst und somit eigentlich mit der Außenwelt kaum pse_039.022 mehr etwas zu tun hat. Und nun kommt das zweite: die pse_039.023 Stelle steht im Präteritum: »stand« usw. Das Abrücken in pse_039.024 eine andere Zeitebene entfernt — auch eben deshalb, weil keine pse_039.025 Vorbemerkung hinweist, es sei die Erinnerung eines Reisenden pse_039.026 — von der außersprachlichen, geographisch feststellbaren pse_039.027 Landschaft und erleichtert das Heraufwachsen einer sprachlichen pse_039.028 Welt. Noch mehr aber wirkt auch die Einstellung des pse_039.029 Lesers, mit der er beginnt: Er ist sich dessen bewußt, daß er pse_039.030 jetzt einen Roman, also eine Dichtung liest. Keine dieser pse_039.031 Antriebskräfte allein genügt, um von vornherein ein Sprachgebilde pse_039.032 als Dichtung zu erfahren, keine einzelne Form, etwa pse_039.033 das Präteritum, nicht der volle Lautungscharakter der Stelle, pse_039.034 nicht jedes sprachliche Bild für sich, nicht die Erwartung des pse_039.035 Lesers beim Beginn der Romanlektüre, sondern alle zusammen. pse_039.036 Die sprachlich-stilistischen Züge dieser Stelle stempeln pse_039.037 sie sofort zum Sprachkunstwerk, aber die Nennung geographischer pse_039.038 Namen legt noch einen Bezug zur außersprachlichen
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nur in ihr. Die Landschaften bauen sich aus Sprachkunst auf, pse_039.004
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gut geschildert sei, wäre völlig abwegig. Lehrreich ist der pse_039.006
Anfang des »Jürg Jenatsch« mit der berühmten Schilderung pse_039.007
der Landschaft um den Julierpaß. Der Julierpaß und das Land pse_039.008
Bünden werden gleich zu Anfang genannt; die Säulenstümpfe, pse_039.009
die am Schluß erwähnt werden, kann man heute noch sehen; pse_039.010
und die Licht- und Schattenwirkungen wird man ohne pse_039.011
weiteres an einem Hochsommertag dort auch noch erleben pse_039.012
können. Eine kurze Vorbemerkung, daß da jemand seine pse_039.013
tatsächliche Reise schilderte, fehlt. Aber nun das Entscheidende: pse_039.014
die Gewalt und die unheimliche Bewegung dieser Hochgebirgslandschaft pse_039.015
wirken nicht deshalb so eindrucksvoll, weil pse_039.016
man in jedem Zug den deutlichen Hinweis auf die geographische pse_039.017
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Kraft der Sprache eine neue Wirklichkeit ersteht, die nicht pse_039.019
schwächlich in Sprache nachgeahmt wäre, weil diese Wirklichkeit pse_039.020
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mehr etwas zu tun hat. Und nun kommt das zweite: die pse_039.023
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eine andere Zeitebene entfernt — auch eben deshalb, weil keine pse_039.025
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Lesers, mit der er beginnt: Er ist sich dessen bewußt, daß er pse_039.030
jetzt einen Roman, also eine Dichtung liest. Keine dieser pse_039.031
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Lesers beim Beginn der Romanlektüre, sondern alle zusammen. pse_039.036
Die sprachlich-stilistischen Züge dieser Stelle stempeln pse_039.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/55>, abgerufen am 27.11.2024.
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