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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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heraus an eine bestimmte Stelle im Roman sinnhaft gebunden, pse_539.002
man könnte sie auch vertauschen.

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Mit der Säkularisierung der Aufklärungszeit, mit der fortschreitenden pse_539.004
Psychologisierung des Menschenbildes wandelt pse_539.005
sich auch die Romanform. Der Mensch ist jetzt ein in sich geschlossenes, pse_539.006
selbständiges Wesen, in sich determiniert. Die pse_539.007
Außenwelt, nicht mehr die Überwelt, ruft eine Entwicklung pse_539.008
im Inneren des Menschen hervor, indem er sich mit ihr ständig pse_539.009
auseinandersetzt und dabei seine Art ausbildet. Die pse_539.010
höchste Form erreicht in dieser Hinsicht der Bildungsroman, pse_539.011
der das Heranwachsen einer Persönlichkeit in der Auseinandersetzung pse_539.012
mit der Welt gestaltet. Der Liberalismus des pse_539.013
19. Jahrhunderts übersteigert noch die Selbstbestimmtheit des pse_539.014
Individuums. Aus solchem Menschenbild entsteht eine durchgehende, pse_539.015
klare Linie des Geschehnisablaufes, der nur selten pse_539.016
und in verhältnismäßig kurzen Teilen zu Rahmungen, Rückgriffen pse_539.017
und Umschichtungen greift. Vielleicht ist die Umwandlung pse_539.018
der ersten in die zweite Fassung von Kellers pse_539.019
"Grünem Heinrich" bezeichnend für dieses Menschenbild, pse_539.020
auch in der Form des Romanablaufs. Nur in der Romantik pse_539.021
sind Ausnahmen zu beobachten; aber zugleich ist da auch pse_539.022
das Menschenbild durch die Ausrichtung alles Seins auf ein pse_539.023
Höheres, Hintergründiges wesentlich anders.

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Die moderne Welt unseres Jahrhunderts hat auch ein pse_539.025
anderes Menschenbild geschaffen. Ganz allgemein ist es gekennzeichnet pse_539.026
durch die Fragwürdigkeit alles Kreatürlichen, pse_539.027
der Welt und des Menschen im Anblick der furchtbaren pse_539.028
Katastrophen der Zeit. Die Psychologisierung, die den Entwicklungsroman pse_539.029
des 19. Jahrhunderts immer mehr bestimmt pse_539.030
hat, tritt jetzt gänzlich zurück. Denn diese Psychologie war pse_539.031
geschaffen für ein Einzelwesen, dessen Eigentliches sich in pse_539.032
seinem klaren Bewußtsein abspielte. Nun aber wandelte sich pse_539.033
das Menschenbild entscheidend in zweifacher Richtung. Einmal pse_539.034
wurde der Mensch immer deutlicher in die mannigfachsten pse_539.035
Kollektive eingespannt. Man überlege, zu wie vielen pse_539.036
Gemeinschaften, Gesellschaften, Genossenschaften, Vereinen pse_539.037
und Verbänden ein normaler Mensch unserer Zeit gehört und pse_539.038
teilweise gehören muß. Der Mensch wird immer mehr ein

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heraus an eine bestimmte Stelle im Roman sinnhaft gebunden, pse_539.002
man könnte sie auch vertauschen.

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Mit der Säkularisierung der Aufklärungszeit, mit der fortschreitenden pse_539.004
Psychologisierung des Menschenbildes wandelt pse_539.005
sich auch die Romanform. Der Mensch ist jetzt ein in sich geschlossenes, pse_539.006
selbständiges Wesen, in sich determiniert. Die pse_539.007
Außenwelt, nicht mehr die Überwelt, ruft eine Entwicklung pse_539.008
im Inneren des Menschen hervor, indem er sich mit ihr ständig pse_539.009
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mit der Welt gestaltet. Der Liberalismus des pse_539.013
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Individuums. Aus solchem Menschenbild entsteht eine durchgehende, pse_539.015
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auch in der Form des Romanablaufs. Nur in der Romantik pse_539.021
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Höheres, Hintergründiges wesentlich anders.

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Die moderne Welt unseres Jahrhunderts hat auch ein pse_539.025
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durch die Fragwürdigkeit alles Kreatürlichen, pse_539.027
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Katastrophen der Zeit. Die Psychologisierung, die den Entwicklungsroman pse_539.029
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geschaffen für ein Einzelwesen, dessen Eigentliches sich in pse_539.032
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Gemeinschaften, Gesellschaften, Genossenschaften, Vereinen pse_539.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/555>, abgerufen am 14.06.2024.