pse_544.001 gar nicht erfassen, auch nicht "erfundene". Freilich kann der pse_544.002 Dichter Zeitschichten mannigfach gruppieren und verflechten, pse_544.003 er kann das zeitliche Kontinuum scheinbar zerbrechen pse_544.004 und auflösen, aber doch eben nur auf dem Hintergrund eines pse_544.005 durchgehenden Zeiterlebens. Wenn etwa in Elisabeth Langgässers pse_544.006 "Unauslöschlichem Siegel" ein Abschnitt beginnt: pse_544.007 "Zwölf Jahre später ..." oder "viele Jahre früher ...", so pse_544.008 zeigen gerade diese Zeitbestimmungen die Einordnung der pse_544.009 einzelnen Komplexe in einen zeitlichen Ablauf, der dem pse_544.010 Leser eine Ordnung ermöglicht.
pse_544.011 Vom Erzählstandpunkt aus ist es nach dem früher Gesagten pse_544.012 (S. 474 ff.) sogar möglich, Typen von Romanen aufzustellen. pse_544.013 Solche Typen sind ideale Formen, die in der Wirklichkeit pse_544.014 kaum jemals rein vorkommen. Auf der einen Seite pse_544.015 stehen die Er-Formen. Das kann zunächst der sogenannte pse_544.016 auktoriale Roman sein, wo deutlich ein Erzähler am Werk ist pse_544.017 und erzählerisch das Ganze durchgestaltet. Er kann dabei mehr pse_544.018 eine olympische Überschau geben oder einzelne Szenen wirkungsvoll pse_544.019 herausgestalten. Dann der personale Roman. Hier pse_544.020 steht zwar auch ein Erzähler im Hintergrund, aber genauer pse_544.021 genommen kriecht er in das Innere einer Romanfigur hinein pse_544.022 und sieht und erlebt alles von diesem Standpunkt aus und pse_544.023 gestaltet es auch so: eine Möglichkeit, die besonders der moderne pse_544.024 Roman vielfach ausnützt. Zwischen diesen beiden trotz pse_544.025 der Er-Form sehr verschiedenen Typen schalten sich die Ich- pse_544.026 Romane ein. Aber auch hier gibt es zwei Spielarten. Das eine pse_544.027 Mal steht mehr das erlebende Ich im Vordergrund, ganz deutlich, pse_544.028 wenn etwa ein Roman in Tagebuchform geschrieben pse_544.029 wäre, auch die Briefromane gehören dazu. Doch kann man pse_544.030 auch in Stifters "Nachsommer" eher diese Art durchscheinen pse_544.031 sehen. Das andere Mal steht mehr das erzählende Ich im Vordergund, pse_544.032 also entweder eine Nebenfigur, oder der Erzähler hat pse_544.033 den Vorgang selbst erlebt, erzählt ihn aber später, so daß er pse_544.034 ganz anders den Geschehnissen gegenübersteht, da er zurückblicken pse_544.035 kann und schon reifer geworden ist. Besonders deutlich pse_544.036 ist das in Melvilles "Moby Dick", aber auch in der Anlage pse_544.037 des "Hyperion" können wir solche Gestaltzüge beobachten. pse_544.038 Diese vier Typen lassen sich aber nie scharf trennen, es gibt
pse_544.001 gar nicht erfassen, auch nicht »erfundene«. Freilich kann der pse_544.002 Dichter Zeitschichten mannigfach gruppieren und verflechten, pse_544.003 er kann das zeitliche Kontinuum scheinbar zerbrechen pse_544.004 und auflösen, aber doch eben nur auf dem Hintergrund eines pse_544.005 durchgehenden Zeiterlebens. Wenn etwa in Elisabeth Langgässers pse_544.006 »Unauslöschlichem Siegel« ein Abschnitt beginnt: pse_544.007 »Zwölf Jahre später ...« oder »viele Jahre früher ...«, so pse_544.008 zeigen gerade diese Zeitbestimmungen die Einordnung der pse_544.009 einzelnen Komplexe in einen zeitlichen Ablauf, der dem pse_544.010 Leser eine Ordnung ermöglicht.
pse_544.011 Vom Erzählstandpunkt aus ist es nach dem früher Gesagten pse_544.012 (S. 474 ff.) sogar möglich, Typen von Romanen aufzustellen. pse_544.013 Solche Typen sind ideale Formen, die in der Wirklichkeit pse_544.014 kaum jemals rein vorkommen. Auf der einen Seite pse_544.015 stehen die Er-Formen. Das kann zunächst der sogenannte pse_544.016 auktoriale Roman sein, wo deutlich ein Erzähler am Werk ist pse_544.017 und erzählerisch das Ganze durchgestaltet. Er kann dabei mehr pse_544.018 eine olympische Überschau geben oder einzelne Szenen wirkungsvoll pse_544.019 herausgestalten. Dann der personale Roman. Hier pse_544.020 steht zwar auch ein Erzähler im Hintergrund, aber genauer pse_544.021 genommen kriecht er in das Innere einer Romanfigur hinein pse_544.022 und sieht und erlebt alles von diesem Standpunkt aus und pse_544.023 gestaltet es auch so: eine Möglichkeit, die besonders der moderne pse_544.024 Roman vielfach ausnützt. Zwischen diesen beiden trotz pse_544.025 der Er-Form sehr verschiedenen Typen schalten sich die Ich- pse_544.026 Romane ein. Aber auch hier gibt es zwei Spielarten. Das eine pse_544.027 Mal steht mehr das erlebende Ich im Vordergrund, ganz deutlich, pse_544.028 wenn etwa ein Roman in Tagebuchform geschrieben pse_544.029 wäre, auch die Briefromane gehören dazu. Doch kann man pse_544.030 auch in Stifters »Nachsommer« eher diese Art durchscheinen pse_544.031 sehen. Das andere Mal steht mehr das erzählende Ich im Vordergund, pse_544.032 also entweder eine Nebenfigur, oder der Erzähler hat pse_544.033 den Vorgang selbst erlebt, erzählt ihn aber später, so daß er pse_544.034 ganz anders den Geschehnissen gegenübersteht, da er zurückblicken pse_544.035 kann und schon reifer geworden ist. Besonders deutlich pse_544.036 ist das in Melvilles »Moby Dick«, aber auch in der Anlage pse_544.037 des »Hyperion« können wir solche Gestaltzüge beobachten. pse_544.038 Diese vier Typen lassen sich aber nie scharf trennen, es gibt
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gar nicht erfassen, auch nicht »erfundene«. Freilich kann der pse_544.002
Dichter Zeitschichten mannigfach gruppieren und verflechten, pse_544.003
er kann das zeitliche Kontinuum scheinbar zerbrechen pse_544.004
und auflösen, aber doch eben nur auf dem Hintergrund eines pse_544.005
durchgehenden Zeiterlebens. Wenn etwa in Elisabeth Langgässers pse_544.006
»Unauslöschlichem Siegel« ein Abschnitt beginnt: pse_544.007
»Zwölf Jahre später ...« oder »viele Jahre früher ...«, so pse_544.008
zeigen gerade diese Zeitbestimmungen die Einordnung der pse_544.009
einzelnen Komplexe in einen zeitlichen Ablauf, der dem pse_544.010
Leser eine Ordnung ermöglicht.
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Vom Erzählstandpunkt aus ist es nach dem früher Gesagten pse_544.012
(S. 474 ff.) sogar möglich, Typen von Romanen aufzustellen. pse_544.013
Solche Typen sind ideale Formen, die in der Wirklichkeit pse_544.014
kaum jemals rein vorkommen. Auf der einen Seite pse_544.015
stehen die Er-Formen. Das kann zunächst der sogenannte pse_544.016
auktoriale Roman sein, wo deutlich ein Erzähler am Werk ist pse_544.017
und erzählerisch das Ganze durchgestaltet. Er kann dabei mehr pse_544.018
eine olympische Überschau geben oder einzelne Szenen wirkungsvoll pse_544.019
herausgestalten. Dann der personale Roman. Hier pse_544.020
steht zwar auch ein Erzähler im Hintergrund, aber genauer pse_544.021
genommen kriecht er in das Innere einer Romanfigur hinein pse_544.022
und sieht und erlebt alles von diesem Standpunkt aus und pse_544.023
gestaltet es auch so: eine Möglichkeit, die besonders der moderne pse_544.024
Roman vielfach ausnützt. Zwischen diesen beiden trotz pse_544.025
der Er-Form sehr verschiedenen Typen schalten sich die Ich- pse_544.026
Romane ein. Aber auch hier gibt es zwei Spielarten. Das eine pse_544.027
Mal steht mehr das erlebende Ich im Vordergrund, ganz deutlich, pse_544.028
wenn etwa ein Roman in Tagebuchform geschrieben pse_544.029
wäre, auch die Briefromane gehören dazu. Doch kann man pse_544.030
auch in Stifters »Nachsommer« eher diese Art durchscheinen pse_544.031
sehen. Das andere Mal steht mehr das erzählende Ich im Vordergund, pse_544.032
also entweder eine Nebenfigur, oder der Erzähler hat pse_544.033
den Vorgang selbst erlebt, erzählt ihn aber später, so daß er pse_544.034
ganz anders den Geschehnissen gegenübersteht, da er zurückblicken pse_544.035
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ist das in Melvilles »Moby Dick«, aber auch in der Anlage pse_544.037
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 544. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/560>, abgerufen am 22.11.2024.
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