pse_559.001 ansprechen können. Denn das Menschen- und Weltbild pse_559.002 dieser Werke ist zu umfassend und vor allem nicht rein pse_559.003 auf das ausgerichtet, was man seelische Entwicklung nennt. pse_559.004 Wir haben über dieses Menschen- und Weltbild schon früher pse_559.005 gesprochen. Auch tritt der Bildungsroman in unserem Jahrhundert pse_559.006 deshalb zurück, weil das Menschenbild unserer Zeit pse_559.007 eine solche Wandlung erfahren hat, daß man es nur unter dem pse_559.008 Begriff der Bildung kaum mehr fassen kann, wie das Menschentum pse_559.009 seit der Goethezeit. So sind der "Zauberberg", pse_559.010 der "Paracelsus" und das "Glasperlenspiel" schon eher Randformen pse_559.011 des eigentlichen Bildungsromans. Um ihn genau zu pse_559.012 umgrenzen, muß der Begriff der Bildung, und zwar als eines pse_559.013 Vorgangs, umrissen werden. Der Bildungsvorgang ist die Auseinandersetzung pse_559.014 eines sich entfaltenden Menschen mit der pse_559.015 Welt, die ihm begegnet. In dieser fortlaufenden Auseinandersetzung, pse_559.016 die bald in Form von sich deutlich abhebenden pse_559.017 großen Erlebnissen, bald in ruhigem Wachsen, bald in heftigen pse_559.018 und scharf abgesetzten Stößen und Katastrophen sich vollzieht, pse_559.019 formt sich der Geist des Menschen zu einem Mikrokosmos, pse_559.020 zu einer Welt im Kleinen aus: er zieht die Weltbereiche, pse_559.021 die ihn fördern, in sich hinein, er stößt andere ab, wobei pse_559.022 wieder sein Inneres geformt wird, und er entfaltet sich so zu pse_559.023 innerem Reichtum, gewinnt aber doch eine eigene geschlossene pse_559.024 Form. Wie diese am Ende aussieht, ist nach verschiedenen pse_559.025 Menschen und Epochen verschieden: es kann die allumfassende pse_559.026 harmonische Persönlichkeit, es kann ein eigenwilliger Künstler, pse_559.027 es kann ein Mensch eines praktischen Berufs innerhalb der pse_559.028 Gemeinschaft sein. Wo nun ein solcher Lebensweg innerer pse_559.029 Formung durch Auseinandersetzung mit und Einbau von pse_559.030 Kulturgütern im weitesten Sinn dichterisch gestaltet wird, da pse_559.031 sprechen wir vom Bildungsroman. Der Blick eines solchen pse_559.032 Romans mag enger beschränkt sein als der eines großen Gesellschaftsromans; pse_559.033 er gewinnt aber an Tiefe und Innensicht. pse_559.034 Bewußter Bildungsvorgang scheint nicht unbedingt notwendige pse_559.035 Voraussetzung für den Titel Bildungsroman zu sein. pse_559.036 Die Formen des Bildungsromans sind mannigfaltig, das pse_559.037 Menschenbild in ihm ebenso. Man denke an den "Agathon" pse_559.038 Wielands, an die "Lehrjahre", an die Künstlerromane der Romantik,
pse_559.001 ansprechen können. Denn das Menschen- und Weltbild pse_559.002 dieser Werke ist zu umfassend und vor allem nicht rein pse_559.003 auf das ausgerichtet, was man seelische Entwicklung nennt. pse_559.004 Wir haben über dieses Menschen- und Weltbild schon früher pse_559.005 gesprochen. Auch tritt der Bildungsroman in unserem Jahrhundert pse_559.006 deshalb zurück, weil das Menschenbild unserer Zeit pse_559.007 eine solche Wandlung erfahren hat, daß man es nur unter dem pse_559.008 Begriff der Bildung kaum mehr fassen kann, wie das Menschentum pse_559.009 seit der Goethezeit. So sind der »Zauberberg«, pse_559.010 der »Paracelsus« und das »Glasperlenspiel« schon eher Randformen pse_559.011 des eigentlichen Bildungsromans. Um ihn genau zu pse_559.012 umgrenzen, muß der Begriff der Bildung, und zwar als eines pse_559.013 Vorgangs, umrissen werden. Der Bildungsvorgang ist die Auseinandersetzung pse_559.014 eines sich entfaltenden Menschen mit der pse_559.015 Welt, die ihm begegnet. In dieser fortlaufenden Auseinandersetzung, pse_559.016 die bald in Form von sich deutlich abhebenden pse_559.017 großen Erlebnissen, bald in ruhigem Wachsen, bald in heftigen pse_559.018 und scharf abgesetzten Stößen und Katastrophen sich vollzieht, pse_559.019 formt sich der Geist des Menschen zu einem Mikrokosmos, pse_559.020 zu einer Welt im Kleinen aus: er zieht die Weltbereiche, pse_559.021 die ihn fördern, in sich hinein, er stößt andere ab, wobei pse_559.022 wieder sein Inneres geformt wird, und er entfaltet sich so zu pse_559.023 innerem Reichtum, gewinnt aber doch eine eigene geschlossene pse_559.024 Form. Wie diese am Ende aussieht, ist nach verschiedenen pse_559.025 Menschen und Epochen verschieden: es kann die allumfassende pse_559.026 harmonische Persönlichkeit, es kann ein eigenwilliger Künstler, pse_559.027 es kann ein Mensch eines praktischen Berufs innerhalb der pse_559.028 Gemeinschaft sein. Wo nun ein solcher Lebensweg innerer pse_559.029 Formung durch Auseinandersetzung mit und Einbau von pse_559.030 Kulturgütern im weitesten Sinn dichterisch gestaltet wird, da pse_559.031 sprechen wir vom Bildungsroman. Der Blick eines solchen pse_559.032 Romans mag enger beschränkt sein als der eines großen Gesellschaftsromans; pse_559.033 er gewinnt aber an Tiefe und Innensicht. pse_559.034 Bewußter Bildungsvorgang scheint nicht unbedingt notwendige pse_559.035 Voraussetzung für den Titel Bildungsroman zu sein. pse_559.036 Die Formen des Bildungsromans sind mannigfaltig, das pse_559.037 Menschenbild in ihm ebenso. Man denke an den »Agathon« pse_559.038 Wielands, an die »Lehrjahre«, an die Künstlerromane der Romantik,
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Wir haben über dieses Menschen- und Weltbild schon früher pse_559.005
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deshalb zurück, weil das Menschenbild unserer Zeit pse_559.007
eine solche Wandlung erfahren hat, daß man es nur unter dem pse_559.008
Begriff der Bildung kaum mehr fassen kann, wie das Menschentum pse_559.009
seit der Goethezeit. So sind der »Zauberberg«, pse_559.010
der »Paracelsus« und das »Glasperlenspiel« schon eher Randformen pse_559.011
des eigentlichen Bildungsromans. Um ihn genau zu pse_559.012
umgrenzen, muß der Begriff der Bildung, und zwar als eines pse_559.013
Vorgangs, umrissen werden. Der Bildungsvorgang ist die Auseinandersetzung pse_559.014
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die bald in Form von sich deutlich abhebenden pse_559.017
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und scharf abgesetzten Stößen und Katastrophen sich vollzieht, pse_559.019
formt sich der Geist des Menschen zu einem Mikrokosmos, pse_559.020
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die ihn fördern, in sich hinein, er stößt andere ab, wobei pse_559.022
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sprechen wir vom Bildungsroman. Der Blick eines solchen pse_559.032
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Wielands, an die »Lehrjahre«, an die Künstlerromane der Romantik,
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/575>, abgerufen am 22.11.2024.
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