pse_567.001 auch zum Drama: Die ursprünglichen Chöre stellen eine Art pse_567.002 Urdichtung dar mit Keimen für alle späteren Gattungen. Die pse_567.003 Sache ändert sich, wenn solchem Chor ein Sprecher gegenübertritt, pse_567.004 der an sich noch keine Rolle hat. Wenn aber dem pse_567.005 Chor zunächst ein, dann zwei Gegenspieler gegenübergestellt pse_567.006 werden, vollzieht sich etwas Neues: der Darstellende wird pse_567.007 selbst das Dargestellte. Es kommt zu einer Ekstasis der Selbstüberhebung, pse_567.008 der Spieler tritt aus sich hinaus, besser über sich pse_567.009 hinaus, und zwar in stärkster Unmittelbarkeit und Ergriffenheit. pse_567.010 Man spricht von Transfiguration oder Substitution. In pse_567.011 solchem Hinauswachsen über sich selbst in ein anderes sind pse_567.012 nun auch schon Gefahren und Abgründe des Menschen unmittelbar pse_567.013 erlebbar. Wir nennen solche dichterische Gestaltung: pse_567.014 Darstellung. Sie ist grundsätzlich vom Singen und vom pse_567.015 Erzählen unterschieden, wir haben sie als eine der künstlerischen pse_567.016 Urgestaltungen durch Sprache bezeichnet. Durch das pse_567.017 Gegenüberstellen von zwei Personen und das dadurch bedingte pse_567.018 Zurücktreten des Erzählers, der immer durch das Erzählen pse_567.019 eine überwölbende Einheit bildet, ist die ursprünglichste pse_567.020 Form des Gegensatzes, des Kampfes, der Spannung pse_567.021 unmittelbar gegeben: die Personen handeln. Das ist die Voraussetzung pse_567.022 für den Ursprung des Dramas: das Darstellen pse_567.023 allein bedingt noch nicht die Dramatik. Aber es ist das erste pse_567.024 Grundmerkmal jeder dramatischen Dichtung: das Hinüberschreiten pse_567.025 des Darstellers in eine Rolle. Aus der sakralen Schau pse_567.026 hat sich durch das Prinzip des Darstellens ein Kunstgebilde pse_567.027 herausgeformt, aus der sakralen wird ästhetische Schau.
pse_567.028 Bekanntlich ist das Wort "dramatisch" nicht bloß auf bestimmte pse_567.029 dichterische Arten anwendbar, sondern wird aus pse_567.030 der Dichtung heraus auf Erscheinungen des Lebens überhaupt pse_567.031 übertragen. Welche Haltung liegt dem zugrunde? Wir pse_567.032 sprechen von der Gespanntheit. Wir haben sie bereits bei den pse_567.033 Grundhaltungen im dichterischen Gestalten betrachtet und pse_567.034 dort von der Hingerissenheit gesprochen. Die Haltung weist pse_567.035 zwei Seiten auf: gehobenes, Leidenschaft erregendes Sprechen, pse_567.036 das einem Gegenüber etwas einhämmern will; und dann pse_567.037 die gespannte Zielgerichtetheit auf etwas, was erst bevorsteht. pse_567.038 Beides verschmilzt zur Angespanntheit. Gerade für solche
pse_567.001 auch zum Drama: Die ursprünglichen Chöre stellen eine Art pse_567.002 Urdichtung dar mit Keimen für alle späteren Gattungen. Die pse_567.003 Sache ändert sich, wenn solchem Chor ein Sprecher gegenübertritt, pse_567.004 der an sich noch keine Rolle hat. Wenn aber dem pse_567.005 Chor zunächst ein, dann zwei Gegenspieler gegenübergestellt pse_567.006 werden, vollzieht sich etwas Neues: der Darstellende wird pse_567.007 selbst das Dargestellte. Es kommt zu einer Ekstasis der Selbstüberhebung, pse_567.008 der Spieler tritt aus sich hinaus, besser über sich pse_567.009 hinaus, und zwar in stärkster Unmittelbarkeit und Ergriffenheit. pse_567.010 Man spricht von Transfiguration oder Substitution. In pse_567.011 solchem Hinauswachsen über sich selbst in ein anderes sind pse_567.012 nun auch schon Gefahren und Abgründe des Menschen unmittelbar pse_567.013 erlebbar. Wir nennen solche dichterische Gestaltung: pse_567.014 Darstellung. Sie ist grundsätzlich vom Singen und vom pse_567.015 Erzählen unterschieden, wir haben sie als eine der künstlerischen pse_567.016 Urgestaltungen durch Sprache bezeichnet. Durch das pse_567.017 Gegenüberstellen von zwei Personen und das dadurch bedingte pse_567.018 Zurücktreten des Erzählers, der immer durch das Erzählen pse_567.019 eine überwölbende Einheit bildet, ist die ursprünglichste pse_567.020 Form des Gegensatzes, des Kampfes, der Spannung pse_567.021 unmittelbar gegeben: die Personen handeln. Das ist die Voraussetzung pse_567.022 für den Ursprung des Dramas: das Darstellen pse_567.023 allein bedingt noch nicht die Dramatik. Aber es ist das erste pse_567.024 Grundmerkmal jeder dramatischen Dichtung: das Hinüberschreiten pse_567.025 des Darstellers in eine Rolle. Aus der sakralen Schau pse_567.026 hat sich durch das Prinzip des Darstellens ein Kunstgebilde pse_567.027 herausgeformt, aus der sakralen wird ästhetische Schau.
pse_567.028 Bekanntlich ist das Wort »dramatisch« nicht bloß auf bestimmte pse_567.029 dichterische Arten anwendbar, sondern wird aus pse_567.030 der Dichtung heraus auf Erscheinungen des Lebens überhaupt pse_567.031 übertragen. Welche Haltung liegt dem zugrunde? Wir pse_567.032 sprechen von der Gespanntheit. Wir haben sie bereits bei den pse_567.033 Grundhaltungen im dichterischen Gestalten betrachtet und pse_567.034 dort von der Hingerissenheit gesprochen. Die Haltung weist pse_567.035 zwei Seiten auf: gehobenes, Leidenschaft erregendes Sprechen, pse_567.036 das einem Gegenüber etwas einhämmern will; und dann pse_567.037 die gespannte Zielgerichtetheit auf etwas, was erst bevorsteht. pse_567.038 Beides verschmilzt zur Angespanntheit. Gerade für solche
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0583"n="567"/><lbn="pse_567.001"/>
auch zum Drama: Die ursprünglichen Chöre stellen eine Art <lbn="pse_567.002"/>
Urdichtung dar mit Keimen für alle späteren Gattungen. Die <lbn="pse_567.003"/>
Sache ändert sich, wenn solchem Chor ein Sprecher gegenübertritt, <lbn="pse_567.004"/>
der an sich noch keine Rolle hat. Wenn aber dem <lbn="pse_567.005"/>
Chor zunächst ein, dann zwei Gegenspieler gegenübergestellt <lbn="pse_567.006"/>
werden, vollzieht sich etwas Neues: der Darstellende wird <lbn="pse_567.007"/>
selbst das Dargestellte. Es kommt zu einer Ekstasis der Selbstüberhebung, <lbn="pse_567.008"/>
der Spieler tritt aus sich hinaus, besser über sich <lbn="pse_567.009"/>
hinaus, und zwar in stärkster Unmittelbarkeit und Ergriffenheit. <lbn="pse_567.010"/>
Man spricht von Transfiguration oder Substitution. In <lbn="pse_567.011"/>
solchem Hinauswachsen über sich selbst in ein anderes sind <lbn="pse_567.012"/>
nun auch schon Gefahren und Abgründe des Menschen unmittelbar <lbn="pse_567.013"/>
erlebbar. Wir nennen solche dichterische Gestaltung: <lbn="pse_567.014"/><hirendition="#i">Darstellung.</hi> Sie ist grundsätzlich vom Singen und vom <lbn="pse_567.015"/>
Erzählen unterschieden, wir haben sie als eine der künstlerischen <lbn="pse_567.016"/>
Urgestaltungen durch Sprache bezeichnet. Durch das <lbn="pse_567.017"/>
Gegenüberstellen von zwei Personen und das dadurch bedingte <lbn="pse_567.018"/>
Zurücktreten des Erzählers, der immer durch das Erzählen <lbn="pse_567.019"/>
eine überwölbende Einheit bildet, ist die ursprünglichste <lbn="pse_567.020"/>
Form des Gegensatzes, des Kampfes, der Spannung <lbn="pse_567.021"/>
unmittelbar gegeben: die Personen handeln. Das ist die Voraussetzung <lbn="pse_567.022"/>
für den Ursprung des Dramas: das Darstellen <lbn="pse_567.023"/>
allein bedingt noch nicht die Dramatik. Aber es ist das erste <lbn="pse_567.024"/>
Grundmerkmal jeder dramatischen Dichtung: das Hinüberschreiten <lbn="pse_567.025"/>
des Darstellers in eine Rolle. Aus der sakralen Schau <lbn="pse_567.026"/>
hat sich durch das Prinzip des Darstellens ein Kunstgebilde <lbn="pse_567.027"/>
herausgeformt, aus der sakralen wird ästhetische Schau.</p><p><lbn="pse_567.028"/>
Bekanntlich ist das Wort »dramatisch« nicht bloß auf bestimmte <lbn="pse_567.029"/>
dichterische Arten anwendbar, sondern wird aus <lbn="pse_567.030"/>
der Dichtung heraus auf Erscheinungen des Lebens überhaupt <lbn="pse_567.031"/>
übertragen. Welche Haltung liegt dem zugrunde? Wir <lbn="pse_567.032"/>
sprechen von der <hirendition="#i">Gespanntheit.</hi> Wir haben sie bereits bei den <lbn="pse_567.033"/>
Grundhaltungen im dichterischen Gestalten betrachtet und <lbn="pse_567.034"/>
dort von der Hingerissenheit gesprochen. Die Haltung weist <lbn="pse_567.035"/>
zwei Seiten auf: gehobenes, Leidenschaft erregendes Sprechen, <lbn="pse_567.036"/>
das einem Gegenüber etwas einhämmern will; und dann <lbn="pse_567.037"/>
die gespannte Zielgerichtetheit auf etwas, was erst bevorsteht. <lbn="pse_567.038"/>
Beides verschmilzt zur Angespanntheit. Gerade für solche
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[567/0583]
pse_567.001
auch zum Drama: Die ursprünglichen Chöre stellen eine Art pse_567.002
Urdichtung dar mit Keimen für alle späteren Gattungen. Die pse_567.003
Sache ändert sich, wenn solchem Chor ein Sprecher gegenübertritt, pse_567.004
der an sich noch keine Rolle hat. Wenn aber dem pse_567.005
Chor zunächst ein, dann zwei Gegenspieler gegenübergestellt pse_567.006
werden, vollzieht sich etwas Neues: der Darstellende wird pse_567.007
selbst das Dargestellte. Es kommt zu einer Ekstasis der Selbstüberhebung, pse_567.008
der Spieler tritt aus sich hinaus, besser über sich pse_567.009
hinaus, und zwar in stärkster Unmittelbarkeit und Ergriffenheit. pse_567.010
Man spricht von Transfiguration oder Substitution. In pse_567.011
solchem Hinauswachsen über sich selbst in ein anderes sind pse_567.012
nun auch schon Gefahren und Abgründe des Menschen unmittelbar pse_567.013
erlebbar. Wir nennen solche dichterische Gestaltung: pse_567.014
Darstellung. Sie ist grundsätzlich vom Singen und vom pse_567.015
Erzählen unterschieden, wir haben sie als eine der künstlerischen pse_567.016
Urgestaltungen durch Sprache bezeichnet. Durch das pse_567.017
Gegenüberstellen von zwei Personen und das dadurch bedingte pse_567.018
Zurücktreten des Erzählers, der immer durch das Erzählen pse_567.019
eine überwölbende Einheit bildet, ist die ursprünglichste pse_567.020
Form des Gegensatzes, des Kampfes, der Spannung pse_567.021
unmittelbar gegeben: die Personen handeln. Das ist die Voraussetzung pse_567.022
für den Ursprung des Dramas: das Darstellen pse_567.023
allein bedingt noch nicht die Dramatik. Aber es ist das erste pse_567.024
Grundmerkmal jeder dramatischen Dichtung: das Hinüberschreiten pse_567.025
des Darstellers in eine Rolle. Aus der sakralen Schau pse_567.026
hat sich durch das Prinzip des Darstellens ein Kunstgebilde pse_567.027
herausgeformt, aus der sakralen wird ästhetische Schau.
pse_567.028
Bekanntlich ist das Wort »dramatisch« nicht bloß auf bestimmte pse_567.029
dichterische Arten anwendbar, sondern wird aus pse_567.030
der Dichtung heraus auf Erscheinungen des Lebens überhaupt pse_567.031
übertragen. Welche Haltung liegt dem zugrunde? Wir pse_567.032
sprechen von der Gespanntheit. Wir haben sie bereits bei den pse_567.033
Grundhaltungen im dichterischen Gestalten betrachtet und pse_567.034
dort von der Hingerissenheit gesprochen. Die Haltung weist pse_567.035
zwei Seiten auf: gehobenes, Leidenschaft erregendes Sprechen, pse_567.036
das einem Gegenüber etwas einhämmern will; und dann pse_567.037
die gespannte Zielgerichtetheit auf etwas, was erst bevorsteht. pse_567.038
Beides verschmilzt zur Angespanntheit. Gerade für solche
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/583>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.