pse_596.001 So setzt in Dialog und Rede überhaupt zugleich die Handlung pse_596.002 ein. Daher ergibt sich eine deutliche Zweiheit von pse_596.003 Sprache und Musik an der Wurzel des Dramas. Von hier aus pse_596.004 geht die eine Richtung auf Zurückdrängung der Musik und pse_596.005 auf ihre Beschränkung auf Einlagen: der Chor wird im Augenblick, pse_596.006 wo der Dialog die Möglichkeit unmittelbarer Gestaltung pse_596.007 des Dramatischen geschaffen hat, auf bestimmte Stellen pse_596.008 eingeschränkt und ihm ein besonderer Sinn gegeben: Erhebung, pse_596.009 lyrische Reflexion, Blick aufs Allgemeine. Daraus entstehen pse_596.010 bei weiterer Zurückdrängung des Chores die späteren pse_596.011 Liedeinlagen, die die Stimmungen einzelner Personen ausdrücken pse_596.012 (Thekla im "Wallenstein") oder die Zwischenaktmusik, pse_596.013 wie sie etwa Schiller am Schluß der Rütliszene verlangt. pse_596.014 Solche musikalische Untermalungen sind bis ins moderne pse_596.015 Drama durchaus häufig. Höchste künstlerische Form ist pse_596.016 im Zusammentreffen Goethes und Beethovens im "Egmont" pse_596.017 erreicht worden. In der Ouvertüre, den Liedeinlagen und vor pse_596.018 allem in der Schlußapotheose leistet der musikalische Teil die pse_596.019 Emporführung ins Allgemeinmenschliche, das nur dem Gefühl pse_596.020 unmittelbar zugänglich ist, aber sich doch aus dem pse_596.021 Drama ablöst, welches der Sprache bedarf. Die andere pse_596.022 Richtung dringt zur Gestaltung des Dramatischen in der pse_596.023 Musik vor. Morphologisch ist der Ausgangspunkt die Oper pse_596.024 mit gesprochenen Teilen ("Zauberflöte", "Fidelio"), wo die pse_596.025 Sprache das Konkrete der äußeren Handlung bringt, die pse_596.026 Musik mehr den inneren Vorgang gestaltet. Im Rezitativ pse_596.027 arbeitet dann die Musik das Dramatische einer Sprachreihe pse_596.028 heraus ("Don Giovanni"). In Duetten und Terzetten usw. pse_596.029 wird weiter der wesentliche dramatische Stimmungsgehalt pse_596.030 lebendig; dafür sind die Weisungen Mozarts an Daponte, die pse_596.031 Beethovens an Sonnleithner bezeichnend. Endlich kommt es pse_596.032 zum vollen Durchkomponieren mit bestimmten Leitmotiven. pse_596.033 Der dramatische Vorgang empfängt nur mehr letzte, äußere pse_596.034 Hilfen vom Text, das Dramatische liegt im Geflecht der pse_596.035 Motive: Wagners "Tristan".
pse_596.036 3. Stellen ohne Sprache im Drama (Gebärden, Pantomime, pse_596.037 Musik) zeigen, daß hier die Urgespaltenheit nicht bis ins pse_596.038 letzte bestimmend ist. Denn solche Stellen haben drei Merkmale:
pse_596.001 So setzt in Dialog und Rede überhaupt zugleich die Handlung pse_596.002 ein. Daher ergibt sich eine deutliche Zweiheit von pse_596.003 Sprache und Musik an der Wurzel des Dramas. Von hier aus pse_596.004 geht die eine Richtung auf Zurückdrängung der Musik und pse_596.005 auf ihre Beschränkung auf Einlagen: der Chor wird im Augenblick, pse_596.006 wo der Dialog die Möglichkeit unmittelbarer Gestaltung pse_596.007 des Dramatischen geschaffen hat, auf bestimmte Stellen pse_596.008 eingeschränkt und ihm ein besonderer Sinn gegeben: Erhebung, pse_596.009 lyrische Reflexion, Blick aufs Allgemeine. Daraus entstehen pse_596.010 bei weiterer Zurückdrängung des Chores die späteren pse_596.011 Liedeinlagen, die die Stimmungen einzelner Personen ausdrücken pse_596.012 (Thekla im »Wallenstein«) oder die Zwischenaktmusik, pse_596.013 wie sie etwa Schiller am Schluß der Rütliszene verlangt. pse_596.014 Solche musikalische Untermalungen sind bis ins moderne pse_596.015 Drama durchaus häufig. Höchste künstlerische Form ist pse_596.016 im Zusammentreffen Goethes und Beethovens im »Egmont« pse_596.017 erreicht worden. In der Ouvertüre, den Liedeinlagen und vor pse_596.018 allem in der Schlußapotheose leistet der musikalische Teil die pse_596.019 Emporführung ins Allgemeinmenschliche, das nur dem Gefühl pse_596.020 unmittelbar zugänglich ist, aber sich doch aus dem pse_596.021 Drama ablöst, welches der Sprache bedarf. Die andere pse_596.022 Richtung dringt zur Gestaltung des Dramatischen in der pse_596.023 Musik vor. Morphologisch ist der Ausgangspunkt die Oper pse_596.024 mit gesprochenen Teilen (»Zauberflöte«, »Fidelio«), wo die pse_596.025 Sprache das Konkrete der äußeren Handlung bringt, die pse_596.026 Musik mehr den inneren Vorgang gestaltet. Im Rezitativ pse_596.027 arbeitet dann die Musik das Dramatische einer Sprachreihe pse_596.028 heraus (»Don Giovanni«). In Duetten und Terzetten usw. pse_596.029 wird weiter der wesentliche dramatische Stimmungsgehalt pse_596.030 lebendig; dafür sind die Weisungen Mozarts an Daponte, die pse_596.031 Beethovens an Sonnleithner bezeichnend. Endlich kommt es pse_596.032 zum vollen Durchkomponieren mit bestimmten Leitmotiven. pse_596.033 Der dramatische Vorgang empfängt nur mehr letzte, äußere pse_596.034 Hilfen vom Text, das Dramatische liegt im Geflecht der pse_596.035 Motive: Wagners »Tristan«.
pse_596.036 3. Stellen ohne Sprache im Drama (Gebärden, Pantomime, pse_596.037 Musik) zeigen, daß hier die Urgespaltenheit nicht bis ins pse_596.038 letzte bestimmend ist. Denn solche Stellen haben drei Merkmale:
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0612"n="596"/><lbn="pse_596.001"/>
So setzt in Dialog und Rede überhaupt zugleich die Handlung <lbn="pse_596.002"/>
ein. Daher ergibt sich eine deutliche Zweiheit von <lbn="pse_596.003"/>
Sprache und Musik an der Wurzel des Dramas. Von hier aus <lbn="pse_596.004"/>
geht die eine Richtung auf Zurückdrängung der Musik und <lbn="pse_596.005"/>
auf ihre Beschränkung auf Einlagen: der Chor wird im Augenblick, <lbn="pse_596.006"/>
wo der Dialog die Möglichkeit unmittelbarer Gestaltung <lbn="pse_596.007"/>
des Dramatischen geschaffen hat, auf bestimmte Stellen <lbn="pse_596.008"/>
eingeschränkt und ihm ein besonderer Sinn gegeben: Erhebung, <lbn="pse_596.009"/>
lyrische Reflexion, Blick aufs Allgemeine. Daraus entstehen <lbn="pse_596.010"/>
bei weiterer Zurückdrängung des Chores die späteren <lbn="pse_596.011"/>
Liedeinlagen, die die Stimmungen einzelner Personen ausdrücken <lbn="pse_596.012"/>
(Thekla im »Wallenstein«) oder die Zwischenaktmusik, <lbn="pse_596.013"/>
wie sie etwa Schiller am Schluß der Rütliszene verlangt. <lbn="pse_596.014"/>
Solche musikalische Untermalungen sind bis ins moderne <lbn="pse_596.015"/>
Drama durchaus häufig. Höchste künstlerische Form ist <lbn="pse_596.016"/>
im Zusammentreffen Goethes und Beethovens im »Egmont« <lbn="pse_596.017"/>
erreicht worden. In der Ouvertüre, den Liedeinlagen und vor <lbn="pse_596.018"/>
allem in der Schlußapotheose leistet der musikalische Teil die <lbn="pse_596.019"/>
Emporführung ins Allgemeinmenschliche, das nur dem Gefühl <lbn="pse_596.020"/>
unmittelbar zugänglich ist, aber sich doch aus dem <lbn="pse_596.021"/>
Drama ablöst, welches der Sprache bedarf. Die andere <lbn="pse_596.022"/>
Richtung dringt zur Gestaltung des Dramatischen in der <lbn="pse_596.023"/>
Musik vor. Morphologisch ist der Ausgangspunkt die Oper <lbn="pse_596.024"/>
mit gesprochenen Teilen (»Zauberflöte«, »Fidelio«), wo die <lbn="pse_596.025"/>
Sprache das Konkrete der äußeren Handlung bringt, die <lbn="pse_596.026"/>
Musik mehr den inneren Vorgang gestaltet. Im Rezitativ <lbn="pse_596.027"/>
arbeitet dann die Musik das Dramatische einer Sprachreihe <lbn="pse_596.028"/>
heraus (»Don Giovanni«). In Duetten und Terzetten usw. <lbn="pse_596.029"/>
wird weiter der wesentliche dramatische Stimmungsgehalt <lbn="pse_596.030"/>
lebendig; dafür sind die Weisungen Mozarts an Daponte, die <lbn="pse_596.031"/>
Beethovens an Sonnleithner bezeichnend. Endlich kommt es <lbn="pse_596.032"/>
zum vollen Durchkomponieren mit bestimmten Leitmotiven. <lbn="pse_596.033"/>
Der dramatische Vorgang empfängt nur mehr letzte, äußere <lbn="pse_596.034"/>
Hilfen vom Text, das Dramatische liegt im Geflecht der <lbn="pse_596.035"/>
Motive: Wagners »Tristan«.</p><p><lbn="pse_596.036"/>
3. Stellen ohne <hirendition="#i">Sprache</hi> im Drama (Gebärden, Pantomime, <lbn="pse_596.037"/>
Musik) zeigen, daß hier die Urgespaltenheit nicht bis ins <lbn="pse_596.038"/>
letzte bestimmend ist. Denn solche Stellen haben drei Merkmale:
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[596/0612]
pse_596.001
So setzt in Dialog und Rede überhaupt zugleich die Handlung pse_596.002
ein. Daher ergibt sich eine deutliche Zweiheit von pse_596.003
Sprache und Musik an der Wurzel des Dramas. Von hier aus pse_596.004
geht die eine Richtung auf Zurückdrängung der Musik und pse_596.005
auf ihre Beschränkung auf Einlagen: der Chor wird im Augenblick, pse_596.006
wo der Dialog die Möglichkeit unmittelbarer Gestaltung pse_596.007
des Dramatischen geschaffen hat, auf bestimmte Stellen pse_596.008
eingeschränkt und ihm ein besonderer Sinn gegeben: Erhebung, pse_596.009
lyrische Reflexion, Blick aufs Allgemeine. Daraus entstehen pse_596.010
bei weiterer Zurückdrängung des Chores die späteren pse_596.011
Liedeinlagen, die die Stimmungen einzelner Personen ausdrücken pse_596.012
(Thekla im »Wallenstein«) oder die Zwischenaktmusik, pse_596.013
wie sie etwa Schiller am Schluß der Rütliszene verlangt. pse_596.014
Solche musikalische Untermalungen sind bis ins moderne pse_596.015
Drama durchaus häufig. Höchste künstlerische Form ist pse_596.016
im Zusammentreffen Goethes und Beethovens im »Egmont« pse_596.017
erreicht worden. In der Ouvertüre, den Liedeinlagen und vor pse_596.018
allem in der Schlußapotheose leistet der musikalische Teil die pse_596.019
Emporführung ins Allgemeinmenschliche, das nur dem Gefühl pse_596.020
unmittelbar zugänglich ist, aber sich doch aus dem pse_596.021
Drama ablöst, welches der Sprache bedarf. Die andere pse_596.022
Richtung dringt zur Gestaltung des Dramatischen in der pse_596.023
Musik vor. Morphologisch ist der Ausgangspunkt die Oper pse_596.024
mit gesprochenen Teilen (»Zauberflöte«, »Fidelio«), wo die pse_596.025
Sprache das Konkrete der äußeren Handlung bringt, die pse_596.026
Musik mehr den inneren Vorgang gestaltet. Im Rezitativ pse_596.027
arbeitet dann die Musik das Dramatische einer Sprachreihe pse_596.028
heraus (»Don Giovanni«). In Duetten und Terzetten usw. pse_596.029
wird weiter der wesentliche dramatische Stimmungsgehalt pse_596.030
lebendig; dafür sind die Weisungen Mozarts an Daponte, die pse_596.031
Beethovens an Sonnleithner bezeichnend. Endlich kommt es pse_596.032
zum vollen Durchkomponieren mit bestimmten Leitmotiven. pse_596.033
Der dramatische Vorgang empfängt nur mehr letzte, äußere pse_596.034
Hilfen vom Text, das Dramatische liegt im Geflecht der pse_596.035
Motive: Wagners »Tristan«.
pse_596.036
3. Stellen ohne Sprache im Drama (Gebärden, Pantomime, pse_596.037
Musik) zeigen, daß hier die Urgespaltenheit nicht bis ins pse_596.038
letzte bestimmend ist. Denn solche Stellen haben drei Merkmale:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/612>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.