pse_613.001 Auch das Lesen ist ein Zugang zum Drama. Das Vorlesen pse_613.002 mit verteilten Rollen, wo die "Darsteller" sitzen bleiben, pse_613.003 kann zwar alle Sprachwerte herausarbeiten, aber es ist doch pse_613.004 ein Zwitter, ein deutlicher Ersatz einer Aufführung. Das pse_613.005 stille Lesen eines Dramas hat Nachteile: denn es sind nicht pse_613.006 alle inneren Möglichkeiten des Dramas ausgeschöpft. Man pse_613.007 kann es mit dem Partiturenlesen einer Symphonie vergleichen. pse_613.008 Besonders Geübte haben mehr davon. Aber der Leser kann pse_613.009 aus der Phantasie den Raum, die Vorgänge, die Gestalten pse_613.010 und die Gebärden ergänzen. Die Bühnenanweisungen helfen pse_613.011 ihm dabei mehr oder weniger. Seit dem Naturalismus sind pse_613.012 sie vielfach so ausführlich, daß sie oft schon erzählerisch, ja pse_613.013 novellistisch wirken; so entsteht wieder die Gefahr eines pse_613.014 Zwitters. Der Leser kann gewisse Stellen wiederholen, um pse_613.015 den Eindruck zu vertiefen, er ist aber auch der Gefahr ausgesetzt, pse_613.016 über Wesentliches hinwegzulesen.
pse_613.017 Lesen und Hörspiel sind Ersatz einer vollen Gestaltung. pse_613.018 Werte und Wirkungen des Ersatzes sind verschieden je pse_613.019 nachdem, wer sie erlebt, nach seiner Schulung und seinen pse_613.020 Kenntnissen. Die beste Wirkungsmöglichkeit ist eine Aufführung, pse_613.021 die die inneren Werte der Dichtung voll entfaltet, pse_613.022 ohne zu fälschen und hinzuzufügen. Trotzdem bleibt das pse_613.023 gesprochene Drama in seinem innersten Wesen eine Dichtung.
pse_613.024 Wenn man die Wirkung des Dramas eigens hervorhebt, pse_613.025 so hängt das nicht nur mit den besonderen Darbietungsmöglichkeiten pse_613.026 zusammen, sondern auch mit der Tatsache, daß pse_613.027 jede Dramenaufführung ein Gemeinschaftsvorgang ist. Denn pse_613.028 jede Aufführung findet vor einer Gemeinschaft von Zuhörern pse_613.029 statt. Einer allein läßt sich wohl nur in ganz besonderen Fällen pse_613.030 ein Drama aufführen. Man denke auch an die peinliche pse_613.031 Wirkung eines halbleeren Saales -- auf die Schauspieler und pse_613.032 auf die Zuhörer. Jede Aufführung ist also von einem Fluidum pse_613.033 der Gemeinschaft getragen. So hat eine Dramenaufführung pse_613.034 schon von vornherein eine gewisse Massenwirkung. Sicher pse_613.035 gibt es bei Aufführungen auch unliebsame Störungen, aber pse_613.036 trotzdem wird durch das gemeinsame Erleben des Kunstwerks pse_613.037 dessen Wirkung noch verstärkt. Das wird besonders deutlich, pse_613.038 wenn Aufführungen irgendwie sich einer Kultfeier nähern
pse_613.001 Auch das Lesen ist ein Zugang zum Drama. Das Vorlesen pse_613.002 mit verteilten Rollen, wo die »Darsteller« sitzen bleiben, pse_613.003 kann zwar alle Sprachwerte herausarbeiten, aber es ist doch pse_613.004 ein Zwitter, ein deutlicher Ersatz einer Aufführung. Das pse_613.005 stille Lesen eines Dramas hat Nachteile: denn es sind nicht pse_613.006 alle inneren Möglichkeiten des Dramas ausgeschöpft. Man pse_613.007 kann es mit dem Partiturenlesen einer Symphonie vergleichen. pse_613.008 Besonders Geübte haben mehr davon. Aber der Leser kann pse_613.009 aus der Phantasie den Raum, die Vorgänge, die Gestalten pse_613.010 und die Gebärden ergänzen. Die Bühnenanweisungen helfen pse_613.011 ihm dabei mehr oder weniger. Seit dem Naturalismus sind pse_613.012 sie vielfach so ausführlich, daß sie oft schon erzählerisch, ja pse_613.013 novellistisch wirken; so entsteht wieder die Gefahr eines pse_613.014 Zwitters. Der Leser kann gewisse Stellen wiederholen, um pse_613.015 den Eindruck zu vertiefen, er ist aber auch der Gefahr ausgesetzt, pse_613.016 über Wesentliches hinwegzulesen.
pse_613.017 Lesen und Hörspiel sind Ersatz einer vollen Gestaltung. pse_613.018 Werte und Wirkungen des Ersatzes sind verschieden je pse_613.019 nachdem, wer sie erlebt, nach seiner Schulung und seinen pse_613.020 Kenntnissen. Die beste Wirkungsmöglichkeit ist eine Aufführung, pse_613.021 die die inneren Werte der Dichtung voll entfaltet, pse_613.022 ohne zu fälschen und hinzuzufügen. Trotzdem bleibt das pse_613.023 gesprochene Drama in seinem innersten Wesen eine Dichtung.
pse_613.024 Wenn man die Wirkung des Dramas eigens hervorhebt, pse_613.025 so hängt das nicht nur mit den besonderen Darbietungsmöglichkeiten pse_613.026 zusammen, sondern auch mit der Tatsache, daß pse_613.027 jede Dramenaufführung ein Gemeinschaftsvorgang ist. Denn pse_613.028 jede Aufführung findet vor einer Gemeinschaft von Zuhörern pse_613.029 statt. Einer allein läßt sich wohl nur in ganz besonderen Fällen pse_613.030 ein Drama aufführen. Man denke auch an die peinliche pse_613.031 Wirkung eines halbleeren Saales — auf die Schauspieler und pse_613.032 auf die Zuhörer. Jede Aufführung ist also von einem Fluidum pse_613.033 der Gemeinschaft getragen. So hat eine Dramenaufführung pse_613.034 schon von vornherein eine gewisse Massenwirkung. Sicher pse_613.035 gibt es bei Aufführungen auch unliebsame Störungen, aber pse_613.036 trotzdem wird durch das gemeinsame Erleben des Kunstwerks pse_613.037 dessen Wirkung noch verstärkt. Das wird besonders deutlich, pse_613.038 wenn Aufführungen irgendwie sich einer Kultfeier nähern
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Auch das Lesen ist ein Zugang zum Drama. Das Vorlesen pse_613.002
mit verteilten Rollen, wo die »Darsteller« sitzen bleiben, pse_613.003
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alle inneren Möglichkeiten des Dramas ausgeschöpft. Man pse_613.007
kann es mit dem Partiturenlesen einer Symphonie vergleichen. pse_613.008
Besonders Geübte haben mehr davon. Aber der Leser kann pse_613.009
aus der Phantasie den Raum, die Vorgänge, die Gestalten pse_613.010
und die Gebärden ergänzen. Die Bühnenanweisungen helfen pse_613.011
ihm dabei mehr oder weniger. Seit dem Naturalismus sind pse_613.012
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novellistisch wirken; so entsteht wieder die Gefahr eines pse_613.014
Zwitters. Der Leser kann gewisse Stellen wiederholen, um pse_613.015
den Eindruck zu vertiefen, er ist aber auch der Gefahr ausgesetzt, pse_613.016
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Lesen und Hörspiel sind Ersatz einer vollen Gestaltung. pse_613.018
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gesprochene Drama in seinem innersten Wesen eine Dichtung.
pse_613.024
Wenn man die Wirkung des Dramas eigens hervorhebt, pse_613.025
so hängt das nicht nur mit den besonderen Darbietungsmöglichkeiten pse_613.026
zusammen, sondern auch mit der Tatsache, daß pse_613.027
jede Dramenaufführung ein Gemeinschaftsvorgang ist. Denn pse_613.028
jede Aufführung findet vor einer Gemeinschaft von Zuhörern pse_613.029
statt. Einer allein läßt sich wohl nur in ganz besonderen Fällen pse_613.030
ein Drama aufführen. Man denke auch an die peinliche pse_613.031
Wirkung eines halbleeren Saales — auf die Schauspieler und pse_613.032
auf die Zuhörer. Jede Aufführung ist also von einem Fluidum pse_613.033
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gibt es bei Aufführungen auch unliebsame Störungen, aber pse_613.036
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/629>, abgerufen am 22.11.2024.
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