pse_047.001 das heißt also unter Einsatz der vollen Kräfte der Sprache. pse_047.002 Aber sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck: Politische pse_047.003 Meinungsbildung zumeist, oder Verbreiten und Aufdrängen pse_047.004 weltanschaulicher Ansichten und Lehren. Auch hier pse_047.005 sind die Grenzen fließend. Sprachkunstwerke können solche pse_047.006 Gebilde ohne weiteres sein: sie teilen eben nicht bloß mit, pse_047.007 sondern gestalten durch die Kraft der Sprache geradezu eine pse_047.008 lebendige Wirklichkeit in Farben, die auf den Aufnehmenden pse_047.009 in besonderer Weise wirken sollen. Ob das aber Dichtung ist, pse_047.010 ist eine andere Frage. Soweit die Absicht, eine bestimmte pse_047.011 Meinung aufzudrängen, im Vordergrund steht, kann es sich pse_047.012 kaum mehr um die Gestaltung einer in sich geschlossenen pse_047.013 Welt handeln, es ist dann keine Dichtung. Aber wenn die pse_047.014 Gestaltung so ist, daß nun aus der Kraft der Sprache eine pse_047.015 eigene Welt ersteht, die dann allerdings so eindringlich pse_047.016 bestimmte Züge herauskehrt, daß der Aufnehmende davon pse_047.017 im Innersten berührt wird, dann ist es Dichtung. Es kann pse_047.018 also echte Tendenzdichtung geben. Aber der Maßstab liegt pse_047.019 nicht im Wert dessen, was da gepredigt werden soll, sondern pse_047.020 in der Frage, ob es den Gesetzen echter Dichtung entspricht. pse_047.021 Kleists "Hermannsschlacht" dürfte ein großes Beispiel echter pse_047.022 Tendenzdichtung sein.
pse_047.023 III pse_047.024 DAS WESEN DER DICHTUNG
pse_047.025 Es ist leicht, große Dichtungen als solche zu erkennen, aber pse_047.026 sehr schwer, wissenschaftlich genau zu bestimmen, was pse_047.027 Dichtung ist. Und zwar deshalb, weil hier theoretische, pse_047.028 streng rationale Haltung etwas erfassen soll, was eben in seiner pse_047.029 ganzen Art nicht theoretisch, nicht rational ist, wenn auch pse_047.030 solche Elemente eingebaut sein können. Man kann sich theoretisch pse_047.031 solchen Phänomenen nähern, muß sich aber immer pse_047.032 bewußt bleiben, daß man das eigentliche Wesen selbst auf pse_047.033 diese Weise nie vollständig in den Griff bekommt. Dichtung
pse_047.001 das heißt also unter Einsatz der vollen Kräfte der Sprache. pse_047.002 Aber sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck: Politische pse_047.003 Meinungsbildung zumeist, oder Verbreiten und Aufdrängen pse_047.004 weltanschaulicher Ansichten und Lehren. Auch hier pse_047.005 sind die Grenzen fließend. Sprachkunstwerke können solche pse_047.006 Gebilde ohne weiteres sein: sie teilen eben nicht bloß mit, pse_047.007 sondern gestalten durch die Kraft der Sprache geradezu eine pse_047.008 lebendige Wirklichkeit in Farben, die auf den Aufnehmenden pse_047.009 in besonderer Weise wirken sollen. Ob das aber Dichtung ist, pse_047.010 ist eine andere Frage. Soweit die Absicht, eine bestimmte pse_047.011 Meinung aufzudrängen, im Vordergrund steht, kann es sich pse_047.012 kaum mehr um die Gestaltung einer in sich geschlossenen pse_047.013 Welt handeln, es ist dann keine Dichtung. Aber wenn die pse_047.014 Gestaltung so ist, daß nun aus der Kraft der Sprache eine pse_047.015 eigene Welt ersteht, die dann allerdings so eindringlich pse_047.016 bestimmte Züge herauskehrt, daß der Aufnehmende davon pse_047.017 im Innersten berührt wird, dann ist es Dichtung. Es kann pse_047.018 also echte Tendenzdichtung geben. Aber der Maßstab liegt pse_047.019 nicht im Wert dessen, was da gepredigt werden soll, sondern pse_047.020 in der Frage, ob es den Gesetzen echter Dichtung entspricht. pse_047.021 Kleists »Hermannsschlacht« dürfte ein großes Beispiel echter pse_047.022 Tendenzdichtung sein.
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pse_047.025 Es ist leicht, große Dichtungen als solche zu erkennen, aber pse_047.026 sehr schwer, wissenschaftlich genau zu bestimmen, was pse_047.027 Dichtung ist. Und zwar deshalb, weil hier theoretische, pse_047.028 streng rationale Haltung etwas erfassen soll, was eben in seiner pse_047.029 ganzen Art nicht theoretisch, nicht rational ist, wenn auch pse_047.030 solche Elemente eingebaut sein können. Man kann sich theoretisch pse_047.031 solchen Phänomenen nähern, muß sich aber immer pse_047.032 bewußt bleiben, daß man das eigentliche Wesen selbst auf pse_047.033 diese Weise nie vollständig in den Griff bekommt. Dichtung
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Aber sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck: Politische pse_047.003
Meinungsbildung zumeist, oder Verbreiten und Aufdrängen pse_047.004
weltanschaulicher Ansichten und Lehren. Auch hier pse_047.005
sind die Grenzen fließend. Sprachkunstwerke können solche pse_047.006
Gebilde ohne weiteres sein: sie teilen eben nicht bloß mit, pse_047.007
sondern gestalten durch die Kraft der Sprache geradezu eine pse_047.008
lebendige Wirklichkeit in Farben, die auf den Aufnehmenden pse_047.009
in besonderer Weise wirken sollen. Ob das aber Dichtung ist, pse_047.010
ist eine andere Frage. Soweit die Absicht, eine bestimmte pse_047.011
Meinung aufzudrängen, im Vordergrund steht, kann es sich pse_047.012
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Welt handeln, es ist dann keine Dichtung. Aber wenn die pse_047.014
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eigene Welt ersteht, die dann allerdings so eindringlich pse_047.016
bestimmte Züge herauskehrt, daß der Aufnehmende davon pse_047.017
im Innersten berührt wird, dann ist es Dichtung. Es kann pse_047.018
also echte Tendenzdichtung geben. Aber der Maßstab liegt pse_047.019
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in der Frage, ob es den Gesetzen echter Dichtung entspricht. pse_047.021
Kleists »Hermannsschlacht« dürfte ein großes Beispiel echter pse_047.022
Tendenzdichtung sein.
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III pse_047.024
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Es ist leicht, große Dichtungen als solche zu erkennen, aber pse_047.026
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streng rationale Haltung etwas erfassen soll, was eben in seiner pse_047.029
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/63>, abgerufen am 26.11.2024.
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