pse_617.001 Calderon über Racine zu Shakespeare -- keine geschichtliche pse_617.002 Reihe natürlich -- kann man ein Schwächerwerden christlicher pse_617.003 Substanz beobachten.
pse_617.004 Calderon ist der Höhepunkt des christlichen Dramas. Es pse_617.005 hat sich zuerst in den mittelalterlichen Spielen der Heilslehre pse_617.006 darstellend bemächtigt und die Welt in ihrer durchgehenden pse_617.007 Sinnbezogenheit aufs Jenseits gezeigt. Das mittelalterliche pse_617.008 Drama ist daher nicht tragisch. Im Barockzeitalter wird die pse_617.009 dauernde Spannung Diesseits-Jenseits auch dramatisch geformt. pse_617.010 Allegorien größten Ausmaßes und Märtyrerstücke pse_617.011 sind die typischen Ausprägungen. In Spanien, wo die mittellateinische pse_617.012 Literatur ohne Bruch ins Barock hereinwirkt und pse_617.013 die jahrhundertlange Kulturgemeinschaft zwischen christlichem pse_617.014 und maurischem Spanien eine eigenartige Ganzheit pse_617.015 schafft, erreicht das christliche Drama mit Calderon seine pse_617.016 Höhe. Er will in seinen Werken die Seele in ihrer Verstrikkung pse_617.017 an die Welt erhellen und erleuchten. Die ganze Welt pse_617.018 ist in ihnen durchsichtig auf das Absolute und Unveränderliche pse_617.019 hin. Schöpfung, Fall, Erlösung und Gericht sind die pse_617.020 großen bestimmenden Welttatsachen. Calderons Drama ist pse_617.021 metaphysisches, theologisches Theater: indem es die Situation pse_617.022 des Menschen in der Welt darstellt, gibt es zugleich eine pse_617.023 theologische Deutung der Welt. Sein Drama zeigt reichbewegte pse_617.024 Aktion mit überraschenden Wechselfällen und versinnbildet pse_617.025 in ihnen die Unendlichkeit der Weltbezüge.
pse_617.026 3. Mit der französischen Klassik betreten wir den Raum des pse_617.027 weltlichen Dramas, das nun in Frankreich, England und pse_617.028 Deutschland bestimmend bleiben wird. Trotz großer Unterschiede pse_617.029 haben alle drei eine einheitliche Menschenauffassung: pse_617.030 der Mensch steht im Mittelpunkt der Vorgänge, er trägt individuelle pse_617.031 Züge, sein Charakter wird daher sein Schicksal. pse_617.032 Zunächst bleibt noch das Christentum Grundlage, es treten pse_617.033 aber, vor allem in Frankreich, die Kräfte des Humanismus pse_617.034 und der neu sich bildenden Hofkultur dazu. In Racine vollendet pse_617.035 sich die französische Tragödie: Maßlosigkeit und Leidenschaft pse_617.036 gefährden das Dasein. Aber die Bändigung in pse_617.037 höfischer zuchtvoller Haltung schafft den unverkennbaren pse_617.038 künstlerischen Gesamtcharakter. Moliere vollendet die französische
pse_617.001 Calderón über Racine zu Shakespeare — keine geschichtliche pse_617.002 Reihe natürlich — kann man ein Schwächerwerden christlicher pse_617.003 Substanz beobachten.
pse_617.004 Calderón ist der Höhepunkt des christlichen Dramas. Es pse_617.005 hat sich zuerst in den mittelalterlichen Spielen der Heilslehre pse_617.006 darstellend bemächtigt und die Welt in ihrer durchgehenden pse_617.007 Sinnbezogenheit aufs Jenseits gezeigt. Das mittelalterliche pse_617.008 Drama ist daher nicht tragisch. Im Barockzeitalter wird die pse_617.009 dauernde Spannung Diesseits-Jenseits auch dramatisch geformt. pse_617.010 Allegorien größten Ausmaßes und Märtyrerstücke pse_617.011 sind die typischen Ausprägungen. In Spanien, wo die mittellateinische pse_617.012 Literatur ohne Bruch ins Barock hereinwirkt und pse_617.013 die jahrhundertlange Kulturgemeinschaft zwischen christlichem pse_617.014 und maurischem Spanien eine eigenartige Ganzheit pse_617.015 schafft, erreicht das christliche Drama mit Calderón seine pse_617.016 Höhe. Er will in seinen Werken die Seele in ihrer Verstrikkung pse_617.017 an die Welt erhellen und erleuchten. Die ganze Welt pse_617.018 ist in ihnen durchsichtig auf das Absolute und Unveränderliche pse_617.019 hin. Schöpfung, Fall, Erlösung und Gericht sind die pse_617.020 großen bestimmenden Welttatsachen. Calderóns Drama ist pse_617.021 metaphysisches, theologisches Theater: indem es die Situation pse_617.022 des Menschen in der Welt darstellt, gibt es zugleich eine pse_617.023 theologische Deutung der Welt. Sein Drama zeigt reichbewegte pse_617.024 Aktion mit überraschenden Wechselfällen und versinnbildet pse_617.025 in ihnen die Unendlichkeit der Weltbezüge.
pse_617.026 3. Mit der französischen Klassik betreten wir den Raum des pse_617.027 weltlichen Dramas, das nun in Frankreich, England und pse_617.028 Deutschland bestimmend bleiben wird. Trotz großer Unterschiede pse_617.029 haben alle drei eine einheitliche Menschenauffassung: pse_617.030 der Mensch steht im Mittelpunkt der Vorgänge, er trägt individuelle pse_617.031 Züge, sein Charakter wird daher sein Schicksal. pse_617.032 Zunächst bleibt noch das Christentum Grundlage, es treten pse_617.033 aber, vor allem in Frankreich, die Kräfte des Humanismus pse_617.034 und der neu sich bildenden Hofkultur dazu. In Racine vollendet pse_617.035 sich die französische Tragödie: Maßlosigkeit und Leidenschaft pse_617.036 gefährden das Dasein. Aber die Bändigung in pse_617.037 höfischer zuchtvoller Haltung schafft den unverkennbaren pse_617.038 künstlerischen Gesamtcharakter. Molière vollendet die französische
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Calderón über Racine zu Shakespeare — keine geschichtliche pse_617.002
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Calderón ist der Höhepunkt des christlichen Dramas. Es pse_617.005
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Sinnbezogenheit aufs Jenseits gezeigt. Das mittelalterliche pse_617.008
Drama ist daher nicht tragisch. Im Barockzeitalter wird die pse_617.009
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Allegorien größten Ausmaßes und Märtyrerstücke pse_617.011
sind die typischen Ausprägungen. In Spanien, wo die mittellateinische pse_617.012
Literatur ohne Bruch ins Barock hereinwirkt und pse_617.013
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metaphysisches, theologisches Theater: indem es die Situation pse_617.022
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theologische Deutung der Welt. Sein Drama zeigt reichbewegte pse_617.024
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3. Mit der französischen Klassik betreten wir den Raum des pse_617.027
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der Mensch steht im Mittelpunkt der Vorgänge, er trägt individuelle pse_617.031
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/633>, abgerufen am 22.11.2024.
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