pse_655.001 I pse_655.002 DIE DICHTUNG IM RAHMEN pse_655.003 DER GESCHICHTLICHEN LAGE
pse_655.004 Grundsätzliches
pse_655.005 Jede Dichtung ist in zweifacher Weise mit der geschichtlichen pse_655.006 Lage, aus der sie kommt, verbunden. Sie erwächst dadurch, pse_655.007 daß ein Mensch sie schafft, gleichsam aus dem Muttergrund pse_655.008 einer geschichtlichen Situation. Denn der Mensch ist ja pse_655.009 in der mannigfachsten Weise selbst an Raum, Gemeinschaften pse_655.010 und Zeit gebunden. Diese Kräfte wirken auf seine tiefsten pse_655.011 Schichten, aus denen das Kunstwerk emporsteigt, auch ein. So pse_655.012 ist in gewissem Sinne jede Dichtung geschichtlich gewirkt. Zugleich pse_655.013 aber kann jede Dichtung grundsätzlich in diese geschichtliche pse_655.014 Lage hineinwirken. Das muß nicht immer eine pse_655.015 rein künstlerische Wirkung sein. In den Frühzeiten menschlicher pse_655.016 Gemeinschaften war es wohl meist eine magischreligiöse, pse_655.017 denn durch sie wird dem Menschen eine "Hinterwelt" pse_655.018 vermittelt. Von solchen Hinterwelten aus erleben wir pse_655.019 ja auch die Fülle sinnlicher Gegebenheiten um uns. Vater, pse_655.020 Mutter, Liebespartner, Herrscher, Polizei, Gesetze usw. sind pse_655.021 nicht bloß sinnliche Gegebenheiten einer Wirklichkeit, sondern pse_655.022 werden von uns, wenn wir ihnen begegnen, tiefer gedeutet, pse_655.023 als Sinn- oder Machtträger mannigfachster Weise. pse_655.024 Genau so sind auch zunächst die Wirkungen der Kunstwerke. pse_655.025 Auch sie deutet der Mensch aus dem Hintergrund her. So pse_655.026 könnte man die erste Wirkung der Kunst als magische Vergegenwärtigung pse_655.027 bezeichnen. Erst später, auf weiter entwickelter pse_655.028 Kulturstufe, kommt es dann langsam zum reinen ästhetischen pse_655.029 Erleben der Kunstwerke. Beide Arten, den Kunstwerken pse_655.030 zu begegnen, bedeuten aber, daß Kunstwerke auf pse_655.031 Menschen und damit in geschichtliche Situationen hinein pse_655.032 wirken.
pse_655.001 I pse_655.002 DIE DICHTUNG IM RAHMEN pse_655.003 DER GESCHICHTLICHEN LAGE
pse_655.004 Grundsätzliches
pse_655.005 Jede Dichtung ist in zweifacher Weise mit der geschichtlichen pse_655.006 Lage, aus der sie kommt, verbunden. Sie erwächst dadurch, pse_655.007 daß ein Mensch sie schafft, gleichsam aus dem Muttergrund pse_655.008 einer geschichtlichen Situation. Denn der Mensch ist ja pse_655.009 in der mannigfachsten Weise selbst an Raum, Gemeinschaften pse_655.010 und Zeit gebunden. Diese Kräfte wirken auf seine tiefsten pse_655.011 Schichten, aus denen das Kunstwerk emporsteigt, auch ein. So pse_655.012 ist in gewissem Sinne jede Dichtung geschichtlich gewirkt. Zugleich pse_655.013 aber kann jede Dichtung grundsätzlich in diese geschichtliche pse_655.014 Lage hineinwirken. Das muß nicht immer eine pse_655.015 rein künstlerische Wirkung sein. In den Frühzeiten menschlicher pse_655.016 Gemeinschaften war es wohl meist eine magischreligiöse, pse_655.017 denn durch sie wird dem Menschen eine »Hinterwelt« pse_655.018 vermittelt. Von solchen Hinterwelten aus erleben wir pse_655.019 ja auch die Fülle sinnlicher Gegebenheiten um uns. Vater, pse_655.020 Mutter, Liebespartner, Herrscher, Polizei, Gesetze usw. sind pse_655.021 nicht bloß sinnliche Gegebenheiten einer Wirklichkeit, sondern pse_655.022 werden von uns, wenn wir ihnen begegnen, tiefer gedeutet, pse_655.023 als Sinn- oder Machtträger mannigfachster Weise. pse_655.024 Genau so sind auch zunächst die Wirkungen der Kunstwerke. pse_655.025 Auch sie deutet der Mensch aus dem Hintergrund her. So pse_655.026 könnte man die erste Wirkung der Kunst als magische Vergegenwärtigung pse_655.027 bezeichnen. Erst später, auf weiter entwickelter pse_655.028 Kulturstufe, kommt es dann langsam zum reinen ästhetischen pse_655.029 Erleben der Kunstwerke. Beide Arten, den Kunstwerken pse_655.030 zu begegnen, bedeuten aber, daß Kunstwerke auf pse_655.031 Menschen und damit in geschichtliche Situationen hinein pse_655.032 wirken.
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/671>, abgerufen am 24.11.2024.
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