pse_666.001 Zeiten geschah dieser Vortrag ohne Unterlage. Heute liest pse_666.002 man vor, oder wenn man frei vorträgt, hat man den Text aus pse_666.003 einer Unterlage gelernt. Mit Ausnahme der Zeiten und Zusammenhänge pse_666.004 mündlicher Dichtungsüberlieferung sind wir pse_666.005 auf die Materie der Handschrift oder des Buches oder einer pse_666.006 anderen Vervielfältigungsmöglichkeit angewiesen. Die Menschen, pse_666.007 die sich mit Dichtung abgeben, brauchen diese Materien pse_666.008 dazu. Das Publikum ist der Verbraucher der Materien, pse_666.009 in denen Dichtung aufbewahrt ist, es ist in bezug auf die pse_666.010 Dichtung Verbraucher.
pse_666.011 Da das Publikum Dichtung aus Büchern liest oder in Vorträgen pse_666.012 hört und da im allgemeinen der Dichter ein Publikum pse_666.013 erwartet, hat es auch Wünsche, wie das, was es erwartet, pse_666.014 beschaffen sein soll. Was nicht gefragt wird, wird kaum pse_666.015 gedruckt, und ein Großteil der Literaten wünscht doch gelesen pse_666.016 zu werden. Daher müssen sie sich bis zu einem gewissen pse_666.017 Grad auch den Wünschen des Publikums anbequemen. Das pse_666.018 gilt für die Zeiten, wo Dichtung in engem Zusammenhang pse_666.019 mit der Gemeinschaft stand, auch für Dichtung. Aber auch pse_666.020 der einsame Dichter, dem an der Öffentlichkeit nichts liegt, pse_666.021 findet nur über Handschrift oder Buch zu den Menschen, pse_666.022 oder sie nur so zu ihm. Die Lage des Publikums hat also einen pse_666.023 gewissen Einfluß auf die Entwicklung der Dichtung. Dafür pse_666.024 gibt es heute ein klares Beispiel: die Kurzgeschichte. Daß sie pse_666.025 ausgesprochene Mode werden konnte, hängt mit den Bedürfnissen pse_666.026 des modernen Großstadtpublikums zusammen. Im pse_666.027 Wirbel des Verkehrs und Betriebs hascht der Mensch nach pse_666.028 immer neuen Anregungen, bei der Fülle des Bedarfs dürfen pse_666.029 sie aber weder in die Tiefe gehen noch zu umfangreich sein. pse_666.030 Der Zeitungs- und Magazinkonsum nimmt daher überhand; pse_666.031 das Gewinnstreben wirkt mit, man kann mit solchen Artikeln pse_666.032 ein Geschäft machen. Aber in solchen Druckwerken kann pse_666.033 man wenig große Zusammenhänge bieten: "Wer vieles pse_666.034 bringt, wird manchem etwas bringen": es kommt auf Kürze pse_666.035 an. Auch das Hochkommen des Films, der immer wieder pse_666.036 kurze Ausschnitte aus dem Leben oder aus einem dargestellten pse_666.037 Vorgang bringt, regt zum Verdauen kurzer Produktionen pse_666.038 an. Endlich wirkt die Gehetztheit des modernen Lebens mit.
pse_666.001 Zeiten geschah dieser Vortrag ohne Unterlage. Heute liest pse_666.002 man vor, oder wenn man frei vorträgt, hat man den Text aus pse_666.003 einer Unterlage gelernt. Mit Ausnahme der Zeiten und Zusammenhänge pse_666.004 mündlicher Dichtungsüberlieferung sind wir pse_666.005 auf die Materie der Handschrift oder des Buches oder einer pse_666.006 anderen Vervielfältigungsmöglichkeit angewiesen. Die Menschen, pse_666.007 die sich mit Dichtung abgeben, brauchen diese Materien pse_666.008 dazu. Das Publikum ist der Verbraucher der Materien, pse_666.009 in denen Dichtung aufbewahrt ist, es ist in bezug auf die pse_666.010 Dichtung Verbraucher.
pse_666.011 Da das Publikum Dichtung aus Büchern liest oder in Vorträgen pse_666.012 hört und da im allgemeinen der Dichter ein Publikum pse_666.013 erwartet, hat es auch Wünsche, wie das, was es erwartet, pse_666.014 beschaffen sein soll. Was nicht gefragt wird, wird kaum pse_666.015 gedruckt, und ein Großteil der Literaten wünscht doch gelesen pse_666.016 zu werden. Daher müssen sie sich bis zu einem gewissen pse_666.017 Grad auch den Wünschen des Publikums anbequemen. Das pse_666.018 gilt für die Zeiten, wo Dichtung in engem Zusammenhang pse_666.019 mit der Gemeinschaft stand, auch für Dichtung. Aber auch pse_666.020 der einsame Dichter, dem an der Öffentlichkeit nichts liegt, pse_666.021 findet nur über Handschrift oder Buch zu den Menschen, pse_666.022 oder sie nur so zu ihm. Die Lage des Publikums hat also einen pse_666.023 gewissen Einfluß auf die Entwicklung der Dichtung. Dafür pse_666.024 gibt es heute ein klares Beispiel: die Kurzgeschichte. Daß sie pse_666.025 ausgesprochene Mode werden konnte, hängt mit den Bedürfnissen pse_666.026 des modernen Großstadtpublikums zusammen. Im pse_666.027 Wirbel des Verkehrs und Betriebs hascht der Mensch nach pse_666.028 immer neuen Anregungen, bei der Fülle des Bedarfs dürfen pse_666.029 sie aber weder in die Tiefe gehen noch zu umfangreich sein. pse_666.030 Der Zeitungs- und Magazinkonsum nimmt daher überhand; pse_666.031 das Gewinnstreben wirkt mit, man kann mit solchen Artikeln pse_666.032 ein Geschäft machen. Aber in solchen Druckwerken kann pse_666.033 man wenig große Zusammenhänge bieten: »Wer vieles pse_666.034 bringt, wird manchem etwas bringen«: es kommt auf Kürze pse_666.035 an. Auch das Hochkommen des Films, der immer wieder pse_666.036 kurze Ausschnitte aus dem Leben oder aus einem dargestellten pse_666.037 Vorgang bringt, regt zum Verdauen kurzer Produktionen pse_666.038 an. Endlich wirkt die Gehetztheit des modernen Lebens mit.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0682"n="666"/><lbn="pse_666.001"/>
Zeiten geschah dieser Vortrag ohne Unterlage. Heute liest <lbn="pse_666.002"/>
man vor, oder wenn man frei vorträgt, hat man den Text aus <lbn="pse_666.003"/>
einer Unterlage gelernt. Mit Ausnahme der Zeiten und Zusammenhänge <lbn="pse_666.004"/>
mündlicher Dichtungsüberlieferung sind wir <lbn="pse_666.005"/>
auf die Materie der Handschrift oder des Buches oder einer <lbn="pse_666.006"/>
anderen Vervielfältigungsmöglichkeit angewiesen. Die Menschen, <lbn="pse_666.007"/>
die sich mit Dichtung abgeben, brauchen diese Materien <lbn="pse_666.008"/>
dazu. Das Publikum ist der Verbraucher der Materien, <lbn="pse_666.009"/>
in denen Dichtung aufbewahrt ist, es ist in bezug auf die <lbn="pse_666.010"/>
Dichtung Verbraucher.</p><p><lbn="pse_666.011"/>
Da das Publikum Dichtung aus Büchern liest oder in Vorträgen <lbn="pse_666.012"/>
hört und da im allgemeinen der Dichter ein Publikum <lbn="pse_666.013"/>
erwartet, hat es auch Wünsche, wie das, was es erwartet, <lbn="pse_666.014"/>
beschaffen sein soll. Was nicht gefragt wird, wird kaum <lbn="pse_666.015"/>
gedruckt, und ein Großteil der Literaten wünscht doch gelesen <lbn="pse_666.016"/>
zu werden. Daher müssen sie sich bis zu einem gewissen <lbn="pse_666.017"/>
Grad auch den Wünschen des Publikums anbequemen. Das <lbn="pse_666.018"/>
gilt für die Zeiten, wo Dichtung in engem Zusammenhang <lbn="pse_666.019"/>
mit der Gemeinschaft stand, auch für Dichtung. Aber auch <lbn="pse_666.020"/>
der einsame Dichter, dem an der Öffentlichkeit nichts liegt, <lbn="pse_666.021"/>
findet nur über Handschrift oder Buch zu den Menschen, <lbn="pse_666.022"/>
oder sie nur so zu ihm. Die Lage des Publikums hat also einen <lbn="pse_666.023"/>
gewissen Einfluß auf die Entwicklung der Dichtung. Dafür <lbn="pse_666.024"/>
gibt es heute ein klares Beispiel: die Kurzgeschichte. Daß sie <lbn="pse_666.025"/>
ausgesprochene Mode werden konnte, hängt mit den Bedürfnissen <lbn="pse_666.026"/>
des modernen Großstadtpublikums zusammen. Im <lbn="pse_666.027"/>
Wirbel des Verkehrs und Betriebs hascht der Mensch nach <lbn="pse_666.028"/>
immer neuen Anregungen, bei der Fülle des Bedarfs dürfen <lbn="pse_666.029"/>
sie aber weder in die Tiefe gehen noch zu umfangreich sein. <lbn="pse_666.030"/>
Der Zeitungs- und Magazinkonsum nimmt daher überhand; <lbn="pse_666.031"/>
das Gewinnstreben wirkt mit, man kann mit solchen Artikeln <lbn="pse_666.032"/>
ein Geschäft machen. Aber in solchen Druckwerken kann <lbn="pse_666.033"/>
man wenig große Zusammenhänge bieten: »Wer vieles <lbn="pse_666.034"/>
bringt, wird manchem etwas bringen«: es kommt auf Kürze <lbn="pse_666.035"/>
an. Auch das Hochkommen des Films, der immer wieder <lbn="pse_666.036"/>
kurze Ausschnitte aus dem Leben oder aus einem dargestellten <lbn="pse_666.037"/>
Vorgang bringt, regt zum Verdauen kurzer Produktionen <lbn="pse_666.038"/>
an. Endlich wirkt die Gehetztheit des modernen Lebens mit.
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[666/0682]
pse_666.001
Zeiten geschah dieser Vortrag ohne Unterlage. Heute liest pse_666.002
man vor, oder wenn man frei vorträgt, hat man den Text aus pse_666.003
einer Unterlage gelernt. Mit Ausnahme der Zeiten und Zusammenhänge pse_666.004
mündlicher Dichtungsüberlieferung sind wir pse_666.005
auf die Materie der Handschrift oder des Buches oder einer pse_666.006
anderen Vervielfältigungsmöglichkeit angewiesen. Die Menschen, pse_666.007
die sich mit Dichtung abgeben, brauchen diese Materien pse_666.008
dazu. Das Publikum ist der Verbraucher der Materien, pse_666.009
in denen Dichtung aufbewahrt ist, es ist in bezug auf die pse_666.010
Dichtung Verbraucher.
pse_666.011
Da das Publikum Dichtung aus Büchern liest oder in Vorträgen pse_666.012
hört und da im allgemeinen der Dichter ein Publikum pse_666.013
erwartet, hat es auch Wünsche, wie das, was es erwartet, pse_666.014
beschaffen sein soll. Was nicht gefragt wird, wird kaum pse_666.015
gedruckt, und ein Großteil der Literaten wünscht doch gelesen pse_666.016
zu werden. Daher müssen sie sich bis zu einem gewissen pse_666.017
Grad auch den Wünschen des Publikums anbequemen. Das pse_666.018
gilt für die Zeiten, wo Dichtung in engem Zusammenhang pse_666.019
mit der Gemeinschaft stand, auch für Dichtung. Aber auch pse_666.020
der einsame Dichter, dem an der Öffentlichkeit nichts liegt, pse_666.021
findet nur über Handschrift oder Buch zu den Menschen, pse_666.022
oder sie nur so zu ihm. Die Lage des Publikums hat also einen pse_666.023
gewissen Einfluß auf die Entwicklung der Dichtung. Dafür pse_666.024
gibt es heute ein klares Beispiel: die Kurzgeschichte. Daß sie pse_666.025
ausgesprochene Mode werden konnte, hängt mit den Bedürfnissen pse_666.026
des modernen Großstadtpublikums zusammen. Im pse_666.027
Wirbel des Verkehrs und Betriebs hascht der Mensch nach pse_666.028
immer neuen Anregungen, bei der Fülle des Bedarfs dürfen pse_666.029
sie aber weder in die Tiefe gehen noch zu umfangreich sein. pse_666.030
Der Zeitungs- und Magazinkonsum nimmt daher überhand; pse_666.031
das Gewinnstreben wirkt mit, man kann mit solchen Artikeln pse_666.032
ein Geschäft machen. Aber in solchen Druckwerken kann pse_666.033
man wenig große Zusammenhänge bieten: »Wer vieles pse_666.034
bringt, wird manchem etwas bringen«: es kommt auf Kürze pse_666.035
an. Auch das Hochkommen des Films, der immer wieder pse_666.036
kurze Ausschnitte aus dem Leben oder aus einem dargestellten pse_666.037
Vorgang bringt, regt zum Verdauen kurzer Produktionen pse_666.038
an. Endlich wirkt die Gehetztheit des modernen Lebens mit.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 666. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/682>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.