pse_685.001 eine bestimmte festgefahrene Richtung ästhetischen pse_685.002 Fühlens. Es gibt nicht nur persönlichen Geschmack, sondern pse_685.003 auch zeitgebundenen, der dann mehr oder weniger einer pse_685.004 ganzen Gemeinschaft eigen ist. Wenn einmal das ästhetische pse_685.005 Fühlen des Menschen eine solche feste Richtung bekommen pse_685.006 hat, wird auch die Urteilstätigkeit einsetzen, der Mensch fällt pse_685.007 Urteile über die ästhetischen Gegenstände, die Kunstwerke, pse_685.008 er wertet sie. Man kann den Geschmack bilden in der Richtung pse_685.009 auf richtige, dem Wesen des beurteilten Werkes zukommende pse_685.010 Wertung.
pse_685.011 Eine dritte Möglichkeit ist die, die Dichtung im geschichtlichen pse_685.012 Zusammenhang zu werten. Dabei muß zweierlei unterschieden pse_685.013 werden. 1. Bedeutenden Dichtungen kommt ein pse_685.014 ganz bestimmter Wert in der geschichtlichen Entwicklung pse_685.015 der Dichtkunst zu. Dieser kann aus dem Gesamtblick auf die pse_685.016 Literaturgeschichte ziemlich einwandfrei festgestellt werden. pse_685.017 Gewisse Dichtungen sind dann geradezu durch diese geschichtliche pse_685.018 Bedeutung bekannt geblieben. So etwa Corneilles pse_685.019 "Cid", der Canzoniere des Petrarca, Otfrieds Christusdichtung. pse_685.020 Dieser geschichtliche Wert muß nicht immer mit dem pse_685.021 Wert der Dichtung als künstlerischen Gebildes zusammenfallen, pse_685.022 höchste Kunstwerke werden aber auch meist geschichtlich pse_685.023 bedeutsam sein. Zum geschichtlichen Wert einer pse_685.024 Dichtung gehört auch ihre Anregungskraft. In dieser Hinsicht pse_685.025 stehen Goethes "Werther", "Götz" und "Lehrjahre" an pse_685.026 besonders hoher Stelle. 2. Eine andere Frage ist die nach der pse_685.027 Art, wie zu gewissen Zeiten gewertet wurde. Goethe und pse_685.028 Schiller haben Hölderlin lange nicht so geschätzt, wie wir es pse_685.029 heute tun, Jean Paul und in gebührendem Abstand von ihm pse_685.030 Heyse und Gustav Freytag wurden früher viel höher gewertet pse_685.031 als heute. Diese Betrachtung der Wertung früherer Zeiten pse_685.032 führt zur Geschmacksgeschichte. Man hat zu fragen, was in pse_685.033 bestimmten Zeiten gelesen wurde, warum gerade diese Dichtungen. pse_685.034 Es bilden sich Geschmacksgruppen und Geschmacksträger pse_685.035 heraus, die dann mit der Zeit bestimmend dafür werden, pse_685.036 was und wie gedichtet werden soll. Dabei kann es zu pse_685.037 ragen Fehlurteilen kommen, wie jede Geschichte der literarischen pse_685.038 Wertungen zeigen kann. Unmittelbar nach dem
pse_685.001 eine bestimmte festgefahrene Richtung ästhetischen pse_685.002 Fühlens. Es gibt nicht nur persönlichen Geschmack, sondern pse_685.003 auch zeitgebundenen, der dann mehr oder weniger einer pse_685.004 ganzen Gemeinschaft eigen ist. Wenn einmal das ästhetische pse_685.005 Fühlen des Menschen eine solche feste Richtung bekommen pse_685.006 hat, wird auch die Urteilstätigkeit einsetzen, der Mensch fällt pse_685.007 Urteile über die ästhetischen Gegenstände, die Kunstwerke, pse_685.008 er wertet sie. Man kann den Geschmack bilden in der Richtung pse_685.009 auf richtige, dem Wesen des beurteilten Werkes zukommende pse_685.010 Wertung.
pse_685.011 Eine dritte Möglichkeit ist die, die Dichtung im geschichtlichen pse_685.012 Zusammenhang zu werten. Dabei muß zweierlei unterschieden pse_685.013 werden. 1. Bedeutenden Dichtungen kommt ein pse_685.014 ganz bestimmter Wert in der geschichtlichen Entwicklung pse_685.015 der Dichtkunst zu. Dieser kann aus dem Gesamtblick auf die pse_685.016 Literaturgeschichte ziemlich einwandfrei festgestellt werden. pse_685.017 Gewisse Dichtungen sind dann geradezu durch diese geschichtliche pse_685.018 Bedeutung bekannt geblieben. So etwa Corneilles pse_685.019 »Cid«, der Canzoniere des Petrarca, Otfrieds Christusdichtung. pse_685.020 Dieser geschichtliche Wert muß nicht immer mit dem pse_685.021 Wert der Dichtung als künstlerischen Gebildes zusammenfallen, pse_685.022 höchste Kunstwerke werden aber auch meist geschichtlich pse_685.023 bedeutsam sein. Zum geschichtlichen Wert einer pse_685.024 Dichtung gehört auch ihre Anregungskraft. In dieser Hinsicht pse_685.025 stehen Goethes »Werther«, »Götz« und »Lehrjahre« an pse_685.026 besonders hoher Stelle. 2. Eine andere Frage ist die nach der pse_685.027 Art, wie zu gewissen Zeiten gewertet wurde. Goethe und pse_685.028 Schiller haben Hölderlin lange nicht so geschätzt, wie wir es pse_685.029 heute tun, Jean Paul und in gebührendem Abstand von ihm pse_685.030 Heyse und Gustav Freytag wurden früher viel höher gewertet pse_685.031 als heute. Diese Betrachtung der Wertung früherer Zeiten pse_685.032 führt zur Geschmacksgeschichte. Man hat zu fragen, was in pse_685.033 bestimmten Zeiten gelesen wurde, warum gerade diese Dichtungen. pse_685.034 Es bilden sich Geschmacksgruppen und Geschmacksträger pse_685.035 heraus, die dann mit der Zeit bestimmend dafür werden, pse_685.036 was und wie gedichtet werden soll. Dabei kann es zu pse_685.037 ragen Fehlurteilen kommen, wie jede Geschichte der literarischen pse_685.038 Wertungen zeigen kann. Unmittelbar nach dem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0701"n="685"/><lbn="pse_685.001"/>
eine bestimmte festgefahrene Richtung ästhetischen <lbn="pse_685.002"/>
Fühlens. Es gibt nicht nur persönlichen Geschmack, sondern <lbn="pse_685.003"/>
auch zeitgebundenen, der dann mehr oder weniger einer <lbn="pse_685.004"/>
ganzen Gemeinschaft eigen ist. Wenn einmal das ästhetische <lbn="pse_685.005"/>
Fühlen des Menschen eine solche feste Richtung bekommen <lbn="pse_685.006"/>
hat, wird auch die Urteilstätigkeit einsetzen, der Mensch fällt <lbn="pse_685.007"/>
Urteile über die ästhetischen Gegenstände, die Kunstwerke, <lbn="pse_685.008"/>
er wertet sie. Man kann den Geschmack bilden in der Richtung <lbn="pse_685.009"/>
auf richtige, dem Wesen des beurteilten Werkes zukommende <lbn="pse_685.010"/>
Wertung.</p><p><lbn="pse_685.011"/>
Eine dritte Möglichkeit ist die, die Dichtung im geschichtlichen <lbn="pse_685.012"/>
Zusammenhang zu werten. Dabei muß zweierlei unterschieden <lbn="pse_685.013"/>
werden. 1. Bedeutenden Dichtungen kommt ein <lbn="pse_685.014"/>
ganz bestimmter Wert in der geschichtlichen Entwicklung <lbn="pse_685.015"/>
der Dichtkunst zu. Dieser kann aus dem Gesamtblick auf die <lbn="pse_685.016"/>
Literaturgeschichte ziemlich einwandfrei festgestellt werden. <lbn="pse_685.017"/>
Gewisse Dichtungen sind dann geradezu durch diese geschichtliche <lbn="pse_685.018"/>
Bedeutung bekannt geblieben. So etwa Corneilles <lbn="pse_685.019"/>
»Cid«, der Canzoniere des Petrarca, Otfrieds Christusdichtung. <lbn="pse_685.020"/>
Dieser geschichtliche Wert muß nicht immer mit dem <lbn="pse_685.021"/>
Wert der Dichtung als künstlerischen Gebildes zusammenfallen, <lbn="pse_685.022"/>
höchste Kunstwerke werden aber auch meist geschichtlich <lbn="pse_685.023"/>
bedeutsam sein. Zum geschichtlichen Wert einer <lbn="pse_685.024"/>
Dichtung gehört auch ihre Anregungskraft. In dieser Hinsicht <lbn="pse_685.025"/>
stehen Goethes »Werther«, »Götz« und »Lehrjahre« an <lbn="pse_685.026"/>
besonders hoher Stelle. 2. Eine andere Frage ist die nach der <lbn="pse_685.027"/>
Art, wie zu gewissen Zeiten gewertet wurde. Goethe und <lbn="pse_685.028"/>
Schiller haben Hölderlin lange nicht so geschätzt, wie wir es <lbn="pse_685.029"/>
heute tun, Jean Paul und in gebührendem Abstand von ihm <lbn="pse_685.030"/>
Heyse und Gustav Freytag wurden früher viel höher gewertet <lbn="pse_685.031"/>
als heute. Diese Betrachtung der Wertung früherer Zeiten <lbn="pse_685.032"/>
führt zur Geschmacksgeschichte. Man hat zu fragen, was in <lbn="pse_685.033"/>
bestimmten Zeiten gelesen wurde, warum gerade diese Dichtungen. <lbn="pse_685.034"/>
Es bilden sich Geschmacksgruppen und Geschmacksträger <lbn="pse_685.035"/>
heraus, die dann mit der Zeit bestimmend dafür werden, <lbn="pse_685.036"/>
was und wie gedichtet werden soll. Dabei kann es zu <lbn="pse_685.037"/>
ragen Fehlurteilen kommen, wie jede Geschichte der literarischen <lbn="pse_685.038"/>
Wertungen zeigen kann. Unmittelbar nach dem
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[685/0701]
pse_685.001
eine bestimmte festgefahrene Richtung ästhetischen pse_685.002
Fühlens. Es gibt nicht nur persönlichen Geschmack, sondern pse_685.003
auch zeitgebundenen, der dann mehr oder weniger einer pse_685.004
ganzen Gemeinschaft eigen ist. Wenn einmal das ästhetische pse_685.005
Fühlen des Menschen eine solche feste Richtung bekommen pse_685.006
hat, wird auch die Urteilstätigkeit einsetzen, der Mensch fällt pse_685.007
Urteile über die ästhetischen Gegenstände, die Kunstwerke, pse_685.008
er wertet sie. Man kann den Geschmack bilden in der Richtung pse_685.009
auf richtige, dem Wesen des beurteilten Werkes zukommende pse_685.010
Wertung.
pse_685.011
Eine dritte Möglichkeit ist die, die Dichtung im geschichtlichen pse_685.012
Zusammenhang zu werten. Dabei muß zweierlei unterschieden pse_685.013
werden. 1. Bedeutenden Dichtungen kommt ein pse_685.014
ganz bestimmter Wert in der geschichtlichen Entwicklung pse_685.015
der Dichtkunst zu. Dieser kann aus dem Gesamtblick auf die pse_685.016
Literaturgeschichte ziemlich einwandfrei festgestellt werden. pse_685.017
Gewisse Dichtungen sind dann geradezu durch diese geschichtliche pse_685.018
Bedeutung bekannt geblieben. So etwa Corneilles pse_685.019
»Cid«, der Canzoniere des Petrarca, Otfrieds Christusdichtung. pse_685.020
Dieser geschichtliche Wert muß nicht immer mit dem pse_685.021
Wert der Dichtung als künstlerischen Gebildes zusammenfallen, pse_685.022
höchste Kunstwerke werden aber auch meist geschichtlich pse_685.023
bedeutsam sein. Zum geschichtlichen Wert einer pse_685.024
Dichtung gehört auch ihre Anregungskraft. In dieser Hinsicht pse_685.025
stehen Goethes »Werther«, »Götz« und »Lehrjahre« an pse_685.026
besonders hoher Stelle. 2. Eine andere Frage ist die nach der pse_685.027
Art, wie zu gewissen Zeiten gewertet wurde. Goethe und pse_685.028
Schiller haben Hölderlin lange nicht so geschätzt, wie wir es pse_685.029
heute tun, Jean Paul und in gebührendem Abstand von ihm pse_685.030
Heyse und Gustav Freytag wurden früher viel höher gewertet pse_685.031
als heute. Diese Betrachtung der Wertung früherer Zeiten pse_685.032
führt zur Geschmacksgeschichte. Man hat zu fragen, was in pse_685.033
bestimmten Zeiten gelesen wurde, warum gerade diese Dichtungen. pse_685.034
Es bilden sich Geschmacksgruppen und Geschmacksträger pse_685.035
heraus, die dann mit der Zeit bestimmend dafür werden, pse_685.036
was und wie gedichtet werden soll. Dabei kann es zu pse_685.037
ragen Fehlurteilen kommen, wie jede Geschichte der literarischen pse_685.038
Wertungen zeigen kann. Unmittelbar nach dem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/701>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.