dieses war nun das grösste und fürchterlichste. Die Mönche bewirtheten mich mit schönen Orangen, und bedauerten, dass die Engländer schon die besten alle aufgegessen und mitgenommen hätten, sagten aber nicht dabey, wie viel das Kloster Geschenke dafür er¬ halten haben mag: denn man bezahlt gewöhnlich der¬ gleichen Höflichkeiten ziemlich theuer. Hier hat man einen ähnlichen Gang, wie das Ohr des Dionysius; er ist aber nicht ausgeführt worden, weil man ver¬ muthlich den Stein zu dem Behufe nicht tauglich fand. Man kann stundenlang hier herum spazieren, und findet immer wieder irgend etwas groteskes und abenteuerliches, das man noch nicht gesehen hat. Wenn man nun die alte Geschichte zurückruft, so er¬ hält das Ganze ein sonderbares Interesse, das man vielleicht an keinem Platze des Erdbodens in diesem Grade wieder findet. Besonders rührend war mir hier an Ort und Stelle die bekannte Anekdote, dass viele Gefangene sich aus der traurigen Lage bloss durch ei¬ nige Verse des Euripides zogen: und mich däucht, ein schöneres Opfer ist nie einem Dichter gebracht worden.
In dem heutigen Syrakus oder dem alten Insel¬ chen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als der alte Minerventempel und die Arethuse. Diese Quelle ist, wenn man auch mit keiner Sylbe an die alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten und sonderbarsten, die es vielleicht giebt. Wenn sie auch nicht vom Alpheus kommt, so kommt sie doch gewiss von dem festen Lande der Insel; und schon dieser Gang ist wundersam genug. Wo einmahl etwas da ist, kommt es den Dichtern auf einige Grade Er¬
dieses war nun das gröſste und fürchterlichste. Die Mönche bewirtheten mich mit schönen Orangen, und bedauerten, daſs die Engländer schon die besten alle aufgegessen und mitgenommen hätten, sagten aber nicht dabey, wie viel das Kloster Geschenke dafür er¬ halten haben mag: denn man bezahlt gewöhnlich der¬ gleichen Höflichkeiten ziemlich theuer. Hier hat man einen ähnlichen Gang, wie das Ohr des Dionysius; er ist aber nicht ausgeführt worden, weil man ver¬ muthlich den Stein zu dem Behufe nicht tauglich fand. Man kann stundenlang hier herum spazieren, und findet immer wieder irgend etwas groteskes und abenteuerliches, das man noch nicht gesehen hat. Wenn man nun die alte Geschichte zurückruft, so er¬ hält das Ganze ein sonderbares Interesse, das man vielleicht an keinem Platze des Erdbodens in diesem Grade wieder findet. Besonders rührend war mir hier an Ort und Stelle die bekannte Anekdote, daſs viele Gefangene sich aus der traurigen Lage bloſs durch ei¬ nige Verse des Euripides zogen: und mich däucht, ein schöneres Opfer ist nie einem Dichter gebracht worden.
In dem heutigen Syrakus oder dem alten Insel¬ chen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als der alte Minerventempel und die Arethuse. Diese Quelle ist, wenn man auch mit keiner Sylbe an die alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten und sonderbarsten, die es vielleicht giebt. Wenn sie auch nicht vom Alpheus kommt, so kommt sie doch gewiſs von dem festen Lande der Insel; und schon dieser Gang ist wundersam genug. Wo einmahl etwas da ist, kommt es den Dichtern auf einige Grade Er¬
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[254/0280]
dieses war nun das gröſste und fürchterlichste. Die
Mönche bewirtheten mich mit schönen Orangen, und
bedauerten, daſs die Engländer schon die besten alle
aufgegessen und mitgenommen hätten, sagten aber
nicht dabey, wie viel das Kloster Geschenke dafür er¬
halten haben mag: denn man bezahlt gewöhnlich der¬
gleichen Höflichkeiten ziemlich theuer. Hier hat man
einen ähnlichen Gang, wie das Ohr des Dionysius;
er ist aber nicht ausgeführt worden, weil man ver¬
muthlich den Stein zu dem Behufe nicht tauglich
fand. Man kann stundenlang hier herum spazieren,
und findet immer wieder irgend etwas groteskes und
abenteuerliches, das man noch nicht gesehen hat.
Wenn man nun die alte Geschichte zurückruft, so er¬
hält das Ganze ein sonderbares Interesse, das man
vielleicht an keinem Platze des Erdbodens in diesem
Grade wieder findet. Besonders rührend war mir hier
an Ort und Stelle die bekannte Anekdote, daſs viele
Gefangene sich aus der traurigen Lage bloſs durch ei¬
nige Verse des Euripides zogen: und mich däucht, ein
schöneres Opfer ist nie einem Dichter gebracht worden.
In dem heutigen Syrakus oder dem alten Insel¬
chen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als
der alte Minerventempel und die Arethuse. Diese
Quelle ist, wenn man auch mit keiner Sylbe an die
alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten
und sonderbarsten, die es vielleicht giebt. Wenn sie
auch nicht vom Alpheus kommt, so kommt sie doch
gewiſs von dem festen Lande der Insel; und schon
dieser Gang ist wundersam genug. Wo einmahl etwas
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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/280>, abgerufen am 22.11.2024.
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