Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Wien fast nichts geäussert, und Du kannst vielleicht
Monate lang auf öffentliche Häuser gehen, ehe Du ein
einziges Propos hörst, das auf Politik Bezug hätte; so
sehr hält man mit alter Strenge eben so wohl auf Or¬
thodoxie im Staate wie in der Kirche. Es ist überall
eine so andächtige Stille auf den Kaffehäusern, als ob
das Hochamt gehalten würde, wo jeder kaum zu ath¬
men wagt. Da ich gewohnt bin, zwar nicht laut zu
enragieren, aber doch gemächlich unbefangen für mich
hin zu sprechen, erhielt ich einige Mahl eine freund¬
liche Weisung von Bekannten, die mich vor den Un¬
sichtbaren warnten. In wie fern sie Recht hatten,
weiss ich nicht; aber so viel behaupte ich, dass die
Herren sehr Unrecht haben, welche die Unsichtbaren
brauchen. Einmahl spielte meine unbefangene Sorg¬
losigkeit fast einen Streich. Du weisst, dass ich durch¬
aus kein Revolutionär bin; weil man dadurch meistens
das Schlechte nur Schlimmer macht; ich habe aber
die Gewohnheit die Wirkung dessen was ich für gut
halte zuweilen etwas lauter werden zu lassen, als viel¬
leicht gut ist. So hat mir der Marseiller Marsch als
ein gutes musikalisches Stück gefallen, und es begeg¬
net mir wohl, dass ich, ohne eben irgend etwas zu den¬
ken, eben so wie aus irgend einem andern Musikstücke,
einige Takte unwillkührlich durch die Zähne brumme.
Diess geschah einmahl, freylich sehr am unrechten
Orte, in Wien, und wirkte natürlich wie ein Dämpfer
auf die Anwesenden. Mir war mehr bange für die
guten Leute als für mich: denn ich hatte weiter kei¬
nen Gedanken, als dass mir die Musik der Takte ge¬
fiel, und selbst diesen jetzt nur sehr dunkel.

Wien fast nichts geäuſsert, und Du kannst vielleicht
Monate lang auf öffentliche Häuser gehen, ehe Du ein
einziges Propos hörst, das auf Politik Bezug hätte; so
sehr hält man mit alter Strenge eben so wohl auf Or¬
thodoxie im Staate wie in der Kirche. Es ist überall
eine so andächtige Stille auf den Kaffehäusern, als ob
das Hochamt gehalten würde, wo jeder kaum zu ath¬
men wagt. Da ich gewohnt bin, zwar nicht laut zu
enragieren, aber doch gemächlich unbefangen für mich
hin zu sprechen, erhielt ich einige Mahl eine freund¬
liche Weisung von Bekannten, die mich vor den Un¬
sichtbaren warnten. In wie fern sie Recht hatten,
weiſs ich nicht; aber so viel behaupte ich, daſs die
Herren sehr Unrecht haben, welche die Unsichtbaren
brauchen. Einmahl spielte meine unbefangene Sorg¬
losigkeit fast einen Streich. Du weiſst, daſs ich durch¬
aus kein Revolutionär bin; weil man dadurch meistens
das Schlechte nur Schlimmer macht; ich habe aber
die Gewohnheit die Wirkung dessen was ich für gut
halte zuweilen etwas lauter werden zu lassen, als viel¬
leicht gut ist. So hat mir der Marseiller Marsch als
ein gutes musikalisches Stück gefallen, und es begeg¬
net mir wohl, daſs ich, ohne eben irgend etwas zu den¬
ken, eben so wie aus irgend einem andern Musikstücke,
einige Takte unwillkührlich durch die Zähne brumme.
Dieſs geschah einmahl, freylich sehr am unrechten
Orte, in Wien, und wirkte natürlich wie ein Dämpfer
auf die Anwesenden. Mir war mehr bange für die
guten Leute als für mich: denn ich hatte weiter kei¬
nen Gedanken, als daſs mir die Musik der Takte ge¬
fiel, und selbst diesen jetzt nur sehr dunkel.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0062" n="36"/>
Wien fast nichts geäu&#x017F;sert, und Du kannst vielleicht<lb/>
Monate lang auf öffentliche Häuser gehen, ehe Du ein<lb/>
einziges Propos hörst, das auf Politik Bezug hätte; so<lb/>
sehr hält man mit alter Strenge eben so wohl auf Or¬<lb/>
thodoxie im Staate wie in der Kirche. Es ist überall<lb/>
eine so andächtige Stille auf den Kaffehäusern, als ob<lb/>
das Hochamt gehalten würde, wo jeder kaum zu ath¬<lb/>
men wagt. Da ich gewohnt bin, zwar nicht laut zu<lb/>
enragieren, aber doch gemächlich unbefangen für mich<lb/>
hin zu sprechen, erhielt ich einige Mahl eine freund¬<lb/>
liche Weisung von Bekannten, die mich vor den Un¬<lb/>
sichtbaren warnten. In wie fern sie Recht hatten,<lb/>
wei&#x017F;s ich nicht; aber so viel behaupte ich, da&#x017F;s die<lb/>
Herren sehr Unrecht haben, welche die Unsichtbaren<lb/>
brauchen. Einmahl spielte meine unbefangene Sorg¬<lb/>
losigkeit fast einen Streich. Du wei&#x017F;st, da&#x017F;s ich durch¬<lb/>
aus kein Revolutionär bin; weil man dadurch meistens<lb/>
das Schlechte nur Schlimmer macht; ich habe aber<lb/>
die Gewohnheit die Wirkung dessen was ich für gut<lb/>
halte zuweilen etwas lauter werden zu lassen, als viel¬<lb/>
leicht gut ist. So hat mir der Marseiller Marsch als<lb/>
ein gutes musikalisches Stück gefallen, und es begeg¬<lb/>
net mir wohl, da&#x017F;s ich, ohne eben irgend etwas zu den¬<lb/>
ken, eben so wie aus irgend einem andern Musikstücke,<lb/>
einige Takte unwillkührlich durch die Zähne brumme.<lb/>
Die&#x017F;s geschah einmahl, freylich sehr am unrechten<lb/>
Orte, in Wien, und wirkte natürlich wie ein Dämpfer<lb/>
auf die Anwesenden. Mir war mehr bange für die<lb/>
guten Leute als für mich: denn ich hatte weiter kei¬<lb/>
nen Gedanken, als da&#x017F;s mir die Musik der Takte ge¬<lb/>
fiel, und selbst diesen jetzt nur sehr dunkel.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0062] Wien fast nichts geäuſsert, und Du kannst vielleicht Monate lang auf öffentliche Häuser gehen, ehe Du ein einziges Propos hörst, das auf Politik Bezug hätte; so sehr hält man mit alter Strenge eben so wohl auf Or¬ thodoxie im Staate wie in der Kirche. Es ist überall eine so andächtige Stille auf den Kaffehäusern, als ob das Hochamt gehalten würde, wo jeder kaum zu ath¬ men wagt. Da ich gewohnt bin, zwar nicht laut zu enragieren, aber doch gemächlich unbefangen für mich hin zu sprechen, erhielt ich einige Mahl eine freund¬ liche Weisung von Bekannten, die mich vor den Un¬ sichtbaren warnten. In wie fern sie Recht hatten, weiſs ich nicht; aber so viel behaupte ich, daſs die Herren sehr Unrecht haben, welche die Unsichtbaren brauchen. Einmahl spielte meine unbefangene Sorg¬ losigkeit fast einen Streich. Du weiſst, daſs ich durch¬ aus kein Revolutionär bin; weil man dadurch meistens das Schlechte nur Schlimmer macht; ich habe aber die Gewohnheit die Wirkung dessen was ich für gut halte zuweilen etwas lauter werden zu lassen, als viel¬ leicht gut ist. So hat mir der Marseiller Marsch als ein gutes musikalisches Stück gefallen, und es begeg¬ net mir wohl, daſs ich, ohne eben irgend etwas zu den¬ ken, eben so wie aus irgend einem andern Musikstücke, einige Takte unwillkührlich durch die Zähne brumme. Dieſs geschah einmahl, freylich sehr am unrechten Orte, in Wien, und wirkte natürlich wie ein Dämpfer auf die Anwesenden. Mir war mehr bange für die guten Leute als für mich: denn ich hatte weiter kei¬ nen Gedanken, als daſs mir die Musik der Takte ge¬ fiel, und selbst diesen jetzt nur sehr dunkel.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/62
Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/62>, abgerufen am 21.11.2024.