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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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kleiner; doch sind die Berghöhen nicht unbeträchtlich
und sehr malerisch gruppiert. Das Städtchen Schott¬
wien liegt an dem kleinen Flüsschen Wien zwischen
furchtbar hohen Bergen, und macht fast nur eine ein¬
zige Gasse. Vorzüglich schön sind die Felsenmassen
am Eingange und Ausgange.

Es hatte zwey Tage ziemlich stark gefroren und
fing heute zu Mittage merklich an zu thauen, und
jetzt schlagen Regengüsse an meine Fenster und das
Wasser schiesst von den Dächern und der kleine Fluss
rauscht mächtig durch die Gasse hinab. Mir schmeckt
der Horaz und die gute Mahlzeit hinter dem warmen
Ofen meines kleinen Zimmers vortrefflich. Der Horaz
schmeckt mir, das heisst, viele seiner Verse; denn der
Mensch selbst mit seiner Kriecherey ist mir ziemlich
zuwider. Da ist Juvenal ein ganz anderer Mann, ne¬
ben dem der Oktavianer wie ein Knabe steht. Es ist
vielleicht schwer zu entscheiden, wer von beyden den
Anstand und die Sitten mehr ins Auge schlägt, ob
Horazens Kanidia oder Juvenals Fulvia; es ist aber ein
wesentlicher Unterschied zwischen beyden zum Vor¬
theil des letztern. Wo Horaz zweydeutig witzelt oder
gar ekelhaft schmutzig wird, sieht man überall, dass
es ihm gemüthlich ist, so etwas zu sagen; er gefällt
sich darin: bey Juvenal ist es reiner tiefer moralischer
Ingrimm. Er beleidigt mehr die Sitten als jener; aber
bey ihm ist mehr Sittlichkeit. Horaz nennt die Sache
noch feiner und kitzelt sich; Juvenal nennt sie wie sie
ist, aber Zorn und Unwille hat den Vers gemacht.

Ein Felsenstück hängt drohend über das Haus her,
in welchem ich übernachte. Hier fängt die Gegend

kleiner; doch sind die Berghöhen nicht unbeträchtlich
und sehr malerisch gruppiert. Das Städtchen Schott¬
wien liegt an dem kleinen Flüſschen Wien zwischen
furchtbar hohen Bergen, und macht fast nur eine ein¬
zige Gasse. Vorzüglich schön sind die Felsenmassen
am Eingange und Ausgange.

Es hatte zwey Tage ziemlich stark gefroren und
fing heute zu Mittage merklich an zu thauen, und
jetzt schlagen Regengüsse an meine Fenster und das
Wasser schieſst von den Dächern und der kleine Fluſs
rauscht mächtig durch die Gasse hinab. Mir schmeckt
der Horaz und die gute Mahlzeit hinter dem warmen
Ofen meines kleinen Zimmers vortrefflich. Der Horaz
schmeckt mir, das heiſst, viele seiner Verse; denn der
Mensch selbst mit seiner Kriecherey ist mir ziemlich
zuwider. Da ist Juvenal ein ganz anderer Mann, ne¬
ben dem der Oktavianer wie ein Knabe steht. Es ist
vielleicht schwer zu entscheiden, wer von beyden den
Anstand und die Sitten mehr ins Auge schlägt, ob
Horazens Kanidia oder Juvenals Fulvia; es ist aber ein
wesentlicher Unterschied zwischen beyden zum Vor¬
theil des letztern. Wo Horaz zweydeutig witzelt oder
gar ekelhaft schmutzig wird, sieht man überall, daſs
es ihm gemüthlich ist, so etwas zu sagen; er gefällt
sich darin: bey Juvenal ist es reiner tiefer moralischer
Ingrimm. Er beleidigt mehr die Sitten als jener; aber
bey ihm ist mehr Sittlichkeit. Horaz nennt die Sache
noch feiner und kitzelt sich; Juvenal nennt sie wie sie
ist, aber Zorn und Unwille hat den Vers gemacht.

Ein Felsenstück hängt drohend über das Haus her,
in welchem ich übernachte. Hier fängt die Gegend

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[47/0073] kleiner; doch sind die Berghöhen nicht unbeträchtlich und sehr malerisch gruppiert. Das Städtchen Schott¬ wien liegt an dem kleinen Flüſschen Wien zwischen furchtbar hohen Bergen, und macht fast nur eine ein¬ zige Gasse. Vorzüglich schön sind die Felsenmassen am Eingange und Ausgange. Es hatte zwey Tage ziemlich stark gefroren und fing heute zu Mittage merklich an zu thauen, und jetzt schlagen Regengüsse an meine Fenster und das Wasser schieſst von den Dächern und der kleine Fluſs rauscht mächtig durch die Gasse hinab. Mir schmeckt der Horaz und die gute Mahlzeit hinter dem warmen Ofen meines kleinen Zimmers vortrefflich. Der Horaz schmeckt mir, das heiſst, viele seiner Verse; denn der Mensch selbst mit seiner Kriecherey ist mir ziemlich zuwider. Da ist Juvenal ein ganz anderer Mann, ne¬ ben dem der Oktavianer wie ein Knabe steht. Es ist vielleicht schwer zu entscheiden, wer von beyden den Anstand und die Sitten mehr ins Auge schlägt, ob Horazens Kanidia oder Juvenals Fulvia; es ist aber ein wesentlicher Unterschied zwischen beyden zum Vor¬ theil des letztern. Wo Horaz zweydeutig witzelt oder gar ekelhaft schmutzig wird, sieht man überall, daſs es ihm gemüthlich ist, so etwas zu sagen; er gefällt sich darin: bey Juvenal ist es reiner tiefer moralischer Ingrimm. Er beleidigt mehr die Sitten als jener; aber bey ihm ist mehr Sittlichkeit. Horaz nennt die Sache noch feiner und kitzelt sich; Juvenal nennt sie wie sie ist, aber Zorn und Unwille hat den Vers gemacht. Ein Felsenstück hängt drohend über das Haus her, in welchem ich übernachte. Hier fängt die Gegend

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/73>, abgerufen am 21.11.2024.