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Siebold, Carl Theodor Ernst von: Die Süsswasserfische von Mitteleuropa. Leipzig, 1863.

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Einleitung.

Nachdem ich mich auf die angegebene Weise mit Material und Erfahrun-
gen ausgerüstet hatte und damit nun im Stande zu sein glaubte, eine mög-
lichst vollständige Zusammenstellung der mitteleuropäischen Fische vornehmen
zu können, fiel es mir auf, dass ich um vieles weniger Fischarten aufzuzählen
hatte, als frühere Bearbeiter desselben Gegenstandes. Ich musste mir sagen,
dass ich durch mein achtjähriges den Süsswasserfischen unausgesetzt gewid-
metes Studium die mitteleuropäische Fauna kaum um eine Art bereichert,
sondern im Gegentheil um viele Arten ärmer gemacht habe. Da ich bei meinem
Verfahren eine Menge Arten, welche von Agassiz, Valenciennes, Bonaparte,
Heckel
und anderen anerkannten Ichthyologen aufgestellt worden waren, habe
eingehen lassen, so bin ich es der Wissenschaft und mir schuldig, über diese
Verminderung und Einschmelzung von Arten Rechenschaft abzulegen. Zwar
habe ich es bei der Besprechung der einzelnen Fischspecies nie versäumt,
meine speciellen Gründe anzugeben, die mich veranlasst haben, diese und jene
Art als unhaltbar fallen zu lassen, indessen halte ich es dennoch für ange-
messen, auch die allgemeinen Principien hier hervorzuheben, nach denen ich
die Artberechtigung der verschiedenen Fischformen abschätzte.

Dass die Handhabung dieser Principien als Resultat meiner Untersuchun-
gen eine so auffallende Verminderung der Arten zur Folge hatte, konnte mich
nicht irre machen. Durch das bisher befolgte und bereits sehr ausgeartete
Bestreben vieler Zoologen, der Wissenschaft durch Aufsuchen und Aufstellen
neuer Thierarten Dienste leisten zu wollen, ist das Thiersystem sowie der
Thierkatalog mit einer Unzahl sogenannter schlechter Arten wahrhaft über-
bürdet worden. Auch das ichthyologische Arten-Verzeichniss, namentlich das
Verzeichniss unserer Süsswasserfische strotzt von unhaltbaren Fischspecies.
Einen Theil der Schuld an diesen Missbräuchen trugen die Systematiker, welche
die Vermehrung der Gattungen so sehr übertrieben und dabei die Gattungs-
charaktere so wenig scharf abgegrenzt haben, dass als Folge solcher ungenü-
gender Untersuchungen Fische, welche von jedem Unbefangenen als zu einer
und derselben Art gerechnet werden müssen, den unnatürlichen Systemen zu
Liebe nicht bloss als zwei Arten auseinandergerissen, sondern sogar in zwei
verschiedene Gattungen eingereiht werden mussten 1).

Einen andern Theil der Schuld, durch welche das Verkennen der Arten
herbeigeführt wurde, ist der Methode zuzuschreiben, mit welcher überhaupt
das ganze Studium der Ichthyologie bisher betrieben wurde. Man beschränkte
sich meistens darauf, die Fische aus Weingeistexemplaren kennen zu lernen,
wobei man sich oft mit einigen verfärbten und eingeschrumpften Exem-
plaren begnügte, um darauf die Aufstellung einer ganz neuen Art zu gründen.

1) Ich berufe mich hier unter anderm auf die beiden von Valenciennes aufgestellten
Gattungen Salar und Fario, sowie auf die durch Heckel von Leuciscus abgetrennte Gattung
Leucos, deren Unhaltbarkeit ich weiter unten nachweisen werde.
Einleitung.

Nachdem ich mich auf die angegebene Weise mit Material und Erfahrun-
gen ausgerüstet hatte und damit nun im Stande zu sein glaubte, eine mög-
lichst vollständige Zusammenstellung der mitteleuropäischen Fische vornehmen
zu können, fiel es mir auf, dass ich um vieles weniger Fischarten aufzuzählen
hatte, als frühere Bearbeiter desselben Gegenstandes. Ich musste mir sagen,
dass ich durch mein achtjähriges den Süsswasserfischen unausgesetzt gewid-
metes Studium die mitteleuropäische Fauna kaum um eine Art bereichert,
sondern im Gegentheil um viele Arten ärmer gemacht habe. Da ich bei meinem
Verfahren eine Menge Arten, welche von Agassiz, Valenciennes, Bonaparte,
Heckel
und anderen anerkannten Ichthyologen aufgestellt worden waren, habe
eingehen lassen, so bin ich es der Wissenschaft und mir schuldig, über diese
Verminderung und Einschmelzung von Arten Rechenschaft abzulegen. Zwar
habe ich es bei der Besprechung der einzelnen Fischspecies nie versäumt,
meine speciellen Gründe anzugeben, die mich veranlasst haben, diese und jene
Art als unhaltbar fallen zu lassen, indessen halte ich es dennoch für ange-
messen, auch die allgemeinen Principien hier hervorzuheben, nach denen ich
die Artberechtigung der verschiedenen Fischformen abschätzte.

Dass die Handhabung dieser Principien als Resultat meiner Untersuchun-
gen eine so auffallende Verminderung der Arten zur Folge hatte, konnte mich
nicht irre machen. Durch das bisher befolgte und bereits sehr ausgeartete
Bestreben vieler Zoologen, der Wissenschaft durch Aufsuchen und Aufstellen
neuer Thierarten Dienste leisten zu wollen, ist das Thiersystem sowie der
Thierkatalog mit einer Unzahl sogenannter schlechter Arten wahrhaft über-
bürdet worden. Auch das ichthyologische Arten-Verzeichniss, namentlich das
Verzeichniss unserer Süsswasserfische strotzt von unhaltbaren Fischspecies.
Einen Theil der Schuld an diesen Missbräuchen trugen die Systematiker, welche
die Vermehrung der Gattungen so sehr übertrieben und dabei die Gattungs-
charaktere so wenig scharf abgegrenzt haben, dass als Folge solcher ungenü-
gender Untersuchungen Fische, welche von jedem Unbefangenen als zu einer
und derselben Art gerechnet werden müssen, den unnatürlichen Systemen zu
Liebe nicht bloss als zwei Arten auseinandergerissen, sondern sogar in zwei
verschiedene Gattungen eingereiht werden mussten 1).

Einen andern Theil der Schuld, durch welche das Verkennen der Arten
herbeigeführt wurde, ist der Methode zuzuschreiben, mit welcher überhaupt
das ganze Studium der Ichthyologie bisher betrieben wurde. Man beschränkte
sich meistens darauf, die Fische aus Weingeistexemplaren kennen zu lernen,
wobei man sich oft mit einigen verfärbten und eingeschrumpften Exem-
plaren begnügte, um darauf die Aufstellung einer ganz neuen Art zu gründen.

1) Ich berufe mich hier unter anderm auf die beiden von Valenciennes aufgestellten
Gattungen Salar und Fario, sowie auf die durch Heckel von Leuciscus abgetrennte Gattung
Leucos, deren Unhaltbarkeit ich weiter unten nachweisen werde.
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[9/0022] Einleitung. Nachdem ich mich auf die angegebene Weise mit Material und Erfahrun- gen ausgerüstet hatte und damit nun im Stande zu sein glaubte, eine mög- lichst vollständige Zusammenstellung der mitteleuropäischen Fische vornehmen zu können, fiel es mir auf, dass ich um vieles weniger Fischarten aufzuzählen hatte, als frühere Bearbeiter desselben Gegenstandes. Ich musste mir sagen, dass ich durch mein achtjähriges den Süsswasserfischen unausgesetzt gewid- metes Studium die mitteleuropäische Fauna kaum um eine Art bereichert, sondern im Gegentheil um viele Arten ärmer gemacht habe. Da ich bei meinem Verfahren eine Menge Arten, welche von Agassiz, Valenciennes, Bonaparte, Heckel und anderen anerkannten Ichthyologen aufgestellt worden waren, habe eingehen lassen, so bin ich es der Wissenschaft und mir schuldig, über diese Verminderung und Einschmelzung von Arten Rechenschaft abzulegen. Zwar habe ich es bei der Besprechung der einzelnen Fischspecies nie versäumt, meine speciellen Gründe anzugeben, die mich veranlasst haben, diese und jene Art als unhaltbar fallen zu lassen, indessen halte ich es dennoch für ange- messen, auch die allgemeinen Principien hier hervorzuheben, nach denen ich die Artberechtigung der verschiedenen Fischformen abschätzte. Dass die Handhabung dieser Principien als Resultat meiner Untersuchun- gen eine so auffallende Verminderung der Arten zur Folge hatte, konnte mich nicht irre machen. Durch das bisher befolgte und bereits sehr ausgeartete Bestreben vieler Zoologen, der Wissenschaft durch Aufsuchen und Aufstellen neuer Thierarten Dienste leisten zu wollen, ist das Thiersystem sowie der Thierkatalog mit einer Unzahl sogenannter schlechter Arten wahrhaft über- bürdet worden. Auch das ichthyologische Arten-Verzeichniss, namentlich das Verzeichniss unserer Süsswasserfische strotzt von unhaltbaren Fischspecies. Einen Theil der Schuld an diesen Missbräuchen trugen die Systematiker, welche die Vermehrung der Gattungen so sehr übertrieben und dabei die Gattungs- charaktere so wenig scharf abgegrenzt haben, dass als Folge solcher ungenü- gender Untersuchungen Fische, welche von jedem Unbefangenen als zu einer und derselben Art gerechnet werden müssen, den unnatürlichen Systemen zu Liebe nicht bloss als zwei Arten auseinandergerissen, sondern sogar in zwei verschiedene Gattungen eingereiht werden mussten 1). Einen andern Theil der Schuld, durch welche das Verkennen der Arten herbeigeführt wurde, ist der Methode zuzuschreiben, mit welcher überhaupt das ganze Studium der Ichthyologie bisher betrieben wurde. Man beschränkte sich meistens darauf, die Fische aus Weingeistexemplaren kennen zu lernen, wobei man sich oft mit einigen verfärbten und eingeschrumpften Exem- plaren begnügte, um darauf die Aufstellung einer ganz neuen Art zu gründen. 1) Ich berufe mich hier unter anderm auf die beiden von Valenciennes aufgestellten Gattungen Salar und Fario, sowie auf die durch Heckel von Leuciscus abgetrennte Gattung Leucos, deren Unhaltbarkeit ich weiter unten nachweisen werde.

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Zitationshilfe: Siebold, Carl Theodor Ernst von: Die Süsswasserfische von Mitteleuropa. Leipzig, 1863, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siebold_suesswasserfische_1863/22>, abgerufen am 21.11.2024.