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Siebold, Carl Theodor Ernst von: Die Süsswasserfische von Mitteleuropa. Leipzig, 1863.

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Familie: Petromyzonim.
Lippe des Maules, auf deren inneren Rande zugleich gelappte Cirrhen in dich-
ter Reihe allmählich zum Vorschein kommen. Das weitgeöffnete Maul steht
zuletzt auf einem langen, cylindrischen Rüssel, der fast die Dicke des Leibes
angenommen hat. Mit dieser Metamorphose des Kopfes verändert sich auch
der Brustkorb, was sich äusserlich durch das allmähliche Schwinden der bei-
den Furchen zu erkennen giebt, welche während des Larvenzustandes jeder-
seits die sieben Kiemenlöcher untereinander verbunden haben. Erst mit dem
Beginne der Erweiterung der ringförmigen Lippe nimmt die Neunaugenform
immer stärker überhand, indem sich von jetzt ab der Silberglanz unter der Haut
entwickelt und die bis dahin strahlenlosen Flossen höher auswachsen und durch
knorpelige Strahlen steifer werden. Zuletzt tritt zwischen den Lippen der
Afterspalte die Urogenitalpapille hervor, durch deren kürzere oder längere
Gestalt nun auch äusserlich über das Geschlecht des zum Neunauge gewor-
denen Querders entschieden wird, nachdem schon früher, ehe noch die
eigentliche Metamorphose des Petromyzon begonnen, im Innern des Ammo-
coetes
Hode und Eierstock zur Ausbildung gekommen waren. Diese frühe
Ausbildung der inneren Geschlechtswerkzeuge, welche man schon lange ge-
kannt hatte war die Hauptveranlassung, weshalb man den Ammocoetes
branchialis
als besondere Cyclostomen-Gattung hingestellt hatte, obwohl man
sich von der vollständigen Reife dieser beiden Geschlechtsorgane im Ammo-
coetes branchialis
niemals überzeugt hatte. Die Metamorphose der inneren
Organisation, welche mit der äusseren Umwandlung des Ammocoetes in einen
Petromyzon Hand in Hand geht, ist von A. Müller (a. a. O.) bis jetzt nur kurz
angedeutet worden; hoffen wir, dass derselbe seine darüber angestellten
höchst interessanten Untersuchungen der Wissenschaft nicht länger vorent-
hält. Ich war übrigens ausserordentlich überrascht, als ich aus den von
Baldner gemachten und auf das kleine Neunauge sich beziehenden Angaben
die Ueberzeugung schöpfen musste, dass dieser aufmerksame Beobachter mit
der Metamorphose dieses Fisches, welche erst jetzt von A. Müller wissen-
schaftlich nachgewiesen wurde, bereits bekannt war, wie man sich aus fol-
gender Mittheilung Baldner's überzeugen wird. Zur Erläuterung der oben
angeführten 25ten Tafel, auf welcher dreierlei sehende Neunaugen (P. Planeri)
und ein blindes Neunauge (A. branchialis) dargestellt sind, sagt Baldner un-
ter anderen: "Von August bis den letzten Christmonat, so werden dieser
Gattung (sehende Neunaugen) nicht viel gesehen oder gar wenig gefangen,
aber der Blind Neunhocken gibt es ein gantzes Jahr genung. Die gesehenden
und blinden sind sonst einerley art, dann die Jungen von anfang alle blind
sein, und verschlieffen sich gleich in den Muhr, sobald Sie vom Rogen leben-
dig werden. Die Blinden bekommen keinen Rogen biss Sie gesehendt werden".



Familie: Petromyzonim.
Lippe des Maules, auf deren inneren Rande zugleich gelappte Cirrhen in dich-
ter Reihe allmählich zum Vorschein kommen. Das weitgeöffnete Maul steht
zuletzt auf einem langen, cylindrischen Rüssel, der fast die Dicke des Leibes
angenommen hat. Mit dieser Metamorphose des Kopfes verändert sich auch
der Brustkorb, was sich äusserlich durch das allmähliche Schwinden der bei-
den Furchen zu erkennen giebt, welche während des Larvenzustandes jeder-
seits die sieben Kiemenlöcher untereinander verbunden haben. Erst mit dem
Beginne der Erweiterung der ringförmigen Lippe nimmt die Neunaugenform
immer stärker überhand, indem sich von jetzt ab der Silberglanz unter der Haut
entwickelt und die bis dahin strahlenlosen Flossen höher auswachsen und durch
knorpelige Strahlen steifer werden. Zuletzt tritt zwischen den Lippen der
Afterspalte die Urogenitalpapille hervor, durch deren kürzere oder längere
Gestalt nun auch äusserlich über das Geschlecht des zum Neunauge gewor-
denen Querders entschieden wird, nachdem schon früher, ehe noch die
eigentliche Metamorphose des Petromyzon begonnen, im Innern des Ammo-
coetes
Hode und Eierstock zur Ausbildung gekommen waren. Diese frühe
Ausbildung der inneren Geschlechtswerkzeuge, welche man schon lange ge-
kannt hatte war die Hauptveranlassung, weshalb man den Ammocoetes
branchialis
als besondere Cyclostomen-Gattung hingestellt hatte, obwohl man
sich von der vollständigen Reife dieser beiden Geschlechtsorgane im Ammo-
coetes branchialis
niemals überzeugt hatte. Die Metamorphose der inneren
Organisation, welche mit der äusseren Umwandlung des Ammocoetes in einen
Petromyzon Hand in Hand geht, ist von A. Müller (a. a. O.) bis jetzt nur kurz
angedeutet worden; hoffen wir, dass derselbe seine darüber angestellten
höchst interessanten Untersuchungen der Wissenschaft nicht länger vorent-
hält. Ich war übrigens ausserordentlich überrascht, als ich aus den von
Baldner gemachten und auf das kleine Neunauge sich beziehenden Angaben
die Ueberzeugung schöpfen musste, dass dieser aufmerksame Beobachter mit
der Metamorphose dieses Fisches, welche erst jetzt von A. Müller wissen-
schaftlich nachgewiesen wurde, bereits bekannt war, wie man sich aus fol-
gender Mittheilung Baldner’s überzeugen wird. Zur Erläuterung der oben
angeführten 25ten Tafel, auf welcher dreierlei sehende Neunaugen (P. Planeri)
und ein blindes Neunauge (A. branchialis) dargestellt sind, sagt Baldner un-
ter anderen: »Von August bis den letzten Christmonat, so werden dieser
Gattung (sehende Neunaugen) nicht viel gesehen oder gar wenig gefangen,
aber der Blind Neunhocken gibt es ein gantzes Jahr genung. Die gesehenden
und blinden sind sonst einerley art, dann die Jungen von anfang alle blind
sein, und verschlieffen sich gleich in den Muhr, sobald Sie vom Rogen leben-
dig werden. Die Blinden bekommen keinen Rogen biss Sie gesehendt werden«.



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[382/0395] Familie: Petromyzonim. Lippe des Maules, auf deren inneren Rande zugleich gelappte Cirrhen in dich- ter Reihe allmählich zum Vorschein kommen. Das weitgeöffnete Maul steht zuletzt auf einem langen, cylindrischen Rüssel, der fast die Dicke des Leibes angenommen hat. Mit dieser Metamorphose des Kopfes verändert sich auch der Brustkorb, was sich äusserlich durch das allmähliche Schwinden der bei- den Furchen zu erkennen giebt, welche während des Larvenzustandes jeder- seits die sieben Kiemenlöcher untereinander verbunden haben. Erst mit dem Beginne der Erweiterung der ringförmigen Lippe nimmt die Neunaugenform immer stärker überhand, indem sich von jetzt ab der Silberglanz unter der Haut entwickelt und die bis dahin strahlenlosen Flossen höher auswachsen und durch knorpelige Strahlen steifer werden. Zuletzt tritt zwischen den Lippen der Afterspalte die Urogenitalpapille hervor, durch deren kürzere oder längere Gestalt nun auch äusserlich über das Geschlecht des zum Neunauge gewor- denen Querders entschieden wird, nachdem schon früher, ehe noch die eigentliche Metamorphose des Petromyzon begonnen, im Innern des Ammo- coetes Hode und Eierstock zur Ausbildung gekommen waren. Diese frühe Ausbildung der inneren Geschlechtswerkzeuge, welche man schon lange ge- kannt hatte war die Hauptveranlassung, weshalb man den Ammocoetes branchialis als besondere Cyclostomen-Gattung hingestellt hatte, obwohl man sich von der vollständigen Reife dieser beiden Geschlechtsorgane im Ammo- coetes branchialis niemals überzeugt hatte. Die Metamorphose der inneren Organisation, welche mit der äusseren Umwandlung des Ammocoetes in einen Petromyzon Hand in Hand geht, ist von A. Müller (a. a. O.) bis jetzt nur kurz angedeutet worden; hoffen wir, dass derselbe seine darüber angestellten höchst interessanten Untersuchungen der Wissenschaft nicht länger vorent- hält. Ich war übrigens ausserordentlich überrascht, als ich aus den von Baldner gemachten und auf das kleine Neunauge sich beziehenden Angaben die Ueberzeugung schöpfen musste, dass dieser aufmerksame Beobachter mit der Metamorphose dieses Fisches, welche erst jetzt von A. Müller wissen- schaftlich nachgewiesen wurde, bereits bekannt war, wie man sich aus fol- gender Mittheilung Baldner’s überzeugen wird. Zur Erläuterung der oben angeführten 25ten Tafel, auf welcher dreierlei sehende Neunaugen (P. Planeri) und ein blindes Neunauge (A. branchialis) dargestellt sind, sagt Baldner un- ter anderen: »Von August bis den letzten Christmonat, so werden dieser Gattung (sehende Neunaugen) nicht viel gesehen oder gar wenig gefangen, aber der Blind Neunhocken gibt es ein gantzes Jahr genung. Die gesehenden und blinden sind sonst einerley art, dann die Jungen von anfang alle blind sein, und verschlieffen sich gleich in den Muhr, sobald Sie vom Rogen leben- dig werden. Die Blinden bekommen keinen Rogen biss Sie gesehendt werden«.

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Zitationshilfe: Siebold, Carl Theodor Ernst von: Die Süsswasserfische von Mitteleuropa. Leipzig, 1863, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siebold_suesswasserfische_1863/395>, abgerufen am 23.11.2024.