Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822.und Wissenschaften, und mithin auch eine Bestätigung des Ausspruchs Les- Man hat häufig angenommen, daß die Phantasie des Tonkünstlers bei und Wiſſenſchaften, und mithin auch eine Beſtaͤtigung des Ausſpruchs Leſ- Man hat haͤufig angenommen, daß die Phantaſie des Tonkuͤnſtlers bei <TEI> <text> <front> <div n="1"> <p><pb facs="#f0011" n="V"/> und Wiſſenſchaften, und mithin auch eine Beſtaͤtigung des Ausſpruchs <hi rendition="#g">Leſ-<lb/> ſings</hi> „Nichts iſt ſchoͤn, was nicht wahr iſt“. Solche muſikaliſche Unwahr-<lb/> heiten ſind aber leider haͤufig anzutreffen; um jedoch kein Beiſpiel anfuͤhren zu<lb/> duͤrfen, will ich nur im Allgemeinen bemerken; daß diejenigen Stellen eines<lb/> Tonſtuͤcks immer ſolche Unwahrheiten ſind, die <hi rendition="#g">einem gebildeten Gehoͤre<lb/> mißfallen</hi>, ſie moͤgen ihren Grund in der Harmonie oder in der Melodie<lb/> oder im Rhythmus haben. Da nun aber die Genialitaͤt in der Muſik nicht in<lb/> der Kenntniß <hi rendition="#g">einzelner</hi> ſondern in der Erfindungsgabe <hi rendition="#g">aller weſentli-<lb/> chen Theile</hi> und in der beſondern Zuſammenſtellung der letztern zu einem<lb/> vollkommenen ſchoͤnen Ganzen beſteht, ſo kann auch in der Muſik etwas rich-<lb/> tig oder wahr ſein ohne daß es deswegen ſchoͤn iſt. Und dies unterſcheidet den<lb/> blos guten Arbeiter von dem Genie, denn die <hi rendition="#g">Kenntniß</hi> iſt Sache des Ver-<lb/> ſtandes und der Urtheilskraft, die <hi rendition="#g">Genialitaͤt</hi> aber Eigenſchaft der Erfin-<lb/> dungsgabe und der Urtheilskraft <hi rendition="#g">zugleich</hi>.</p><lb/> <p>Man hat haͤufig angenommen, daß die Phantaſie des Tonkuͤnſtlers bei<lb/> Erfindung ſeiner Tonſtuͤcke ganz allein, (gleich dem Fatum der Alten uͤber die<lb/> menſchlichen Schickſale) walte, und den techniſchen Theil mit wenigerer Auf-<lb/> merkſamkeit in Hinſicht auf Erfindung behandelt. Es iſt zwar wahr, daß ein<lb/> gluͤcklicher und freundlicher Genius den Kuͤnſtler umſchweben muß, allein es<lb/> iſt auch nicht weniger wahr, daß die Schoͤnheiten der Kunſtwerke groͤßten-<lb/> theils nur aus der <hi rendition="#g">Vervollkommung aller, ſelbſt der kleinſten ma-<lb/> teriellen Theile entſtehen</hi>, und daß die <hi rendition="#g">Phantaſie nur die Fackel<lb/> haͤlt das Ganze zu erleuchten</hi>, um ſich mit ungewoͤhnlichen Schwunge<lb/> uͤber alle Hinderniſſe und Unvollkommenheiten erheben zu koͤnnen. Die Phan-<lb/> taſie muß mit der Wiſſenſchaft unter Controlle der Urtheilskraft und des gu-<lb/> ten Geſchmacks, gleichen Schritt gehen, denn faſt alle große Werke ſind, naͤchſt<lb/> einer lebhaften Phantaſie (die vorauszuſetzen iſt) Fruͤchte der Kenntniß und des<lb/> Fleißes, und wenn ſo wenig Menſchen bei ſolchen Eigenſchaften einen großen<lb/> Zweck erreichen, ſo liegt die Urſache groͤßtentheils an dem Mangel einer rich-<lb/> tigen Anſicht der Kunſt-Produkte und an einem gewiſſen feindlichen Geſchicke<lb/> der Lebens-Verhaͤltniſſe, die auf das Gelingen und dem Beifall unſerer Ar-<lb/> beiten einen ſo bedeutenden Einfluß haben.</p><lb/> </div> </front> </text> </TEI> [V/0011]
und Wiſſenſchaften, und mithin auch eine Beſtaͤtigung des Ausſpruchs Leſ-
ſings „Nichts iſt ſchoͤn, was nicht wahr iſt“. Solche muſikaliſche Unwahr-
heiten ſind aber leider haͤufig anzutreffen; um jedoch kein Beiſpiel anfuͤhren zu
duͤrfen, will ich nur im Allgemeinen bemerken; daß diejenigen Stellen eines
Tonſtuͤcks immer ſolche Unwahrheiten ſind, die einem gebildeten Gehoͤre
mißfallen, ſie moͤgen ihren Grund in der Harmonie oder in der Melodie
oder im Rhythmus haben. Da nun aber die Genialitaͤt in der Muſik nicht in
der Kenntniß einzelner ſondern in der Erfindungsgabe aller weſentli-
chen Theile und in der beſondern Zuſammenſtellung der letztern zu einem
vollkommenen ſchoͤnen Ganzen beſteht, ſo kann auch in der Muſik etwas rich-
tig oder wahr ſein ohne daß es deswegen ſchoͤn iſt. Und dies unterſcheidet den
blos guten Arbeiter von dem Genie, denn die Kenntniß iſt Sache des Ver-
ſtandes und der Urtheilskraft, die Genialitaͤt aber Eigenſchaft der Erfin-
dungsgabe und der Urtheilskraft zugleich.
Man hat haͤufig angenommen, daß die Phantaſie des Tonkuͤnſtlers bei
Erfindung ſeiner Tonſtuͤcke ganz allein, (gleich dem Fatum der Alten uͤber die
menſchlichen Schickſale) walte, und den techniſchen Theil mit wenigerer Auf-
merkſamkeit in Hinſicht auf Erfindung behandelt. Es iſt zwar wahr, daß ein
gluͤcklicher und freundlicher Genius den Kuͤnſtler umſchweben muß, allein es
iſt auch nicht weniger wahr, daß die Schoͤnheiten der Kunſtwerke groͤßten-
theils nur aus der Vervollkommung aller, ſelbſt der kleinſten ma-
teriellen Theile entſtehen, und daß die Phantaſie nur die Fackel
haͤlt das Ganze zu erleuchten, um ſich mit ungewoͤhnlichen Schwunge
uͤber alle Hinderniſſe und Unvollkommenheiten erheben zu koͤnnen. Die Phan-
taſie muß mit der Wiſſenſchaft unter Controlle der Urtheilskraft und des gu-
ten Geſchmacks, gleichen Schritt gehen, denn faſt alle große Werke ſind, naͤchſt
einer lebhaften Phantaſie (die vorauszuſetzen iſt) Fruͤchte der Kenntniß und des
Fleißes, und wenn ſo wenig Menſchen bei ſolchen Eigenſchaften einen großen
Zweck erreichen, ſo liegt die Urſache groͤßtentheils an dem Mangel einer rich-
tigen Anſicht der Kunſt-Produkte und an einem gewiſſen feindlichen Geſchicke
der Lebens-Verhaͤltniſſe, die auf das Gelingen und dem Beifall unſerer Ar-
beiten einen ſo bedeutenden Einfluß haben.
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