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Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822.

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Scene des steinernen Gastes mit den D. Juan, (wie sich Lesing über das erhabene und
furchtbare des Shackespeare ausdrückt) nicht die Haare zu Berge stehen, sie mögen ein
gläubiges oder ungläubiges Haupt bedecken? Es ist die Macht des Gefühls und die
Wahl des Ausdrucks, was diesen großen Mann, dessen Grab man nicht einmal
mehr kennt, vor allen andern so sehr auszeichnet. Wie man zu einem solchen tiefen
Gefühle gelangt was uns nicht angebohren ist, weiß ich nicht, aber wie ein von Natur
gutes Gefühl für Musik veredelt und verfeinert werden kann, dazu ist eine Möglich-
keit vorhanden, wenn wir uns nur sonst nicht durch National-Manieren und der Ver-
gänglichkeit unterworfene Lieblings-Effecte verleiten laßen, von der wahren Bahn des
richtigen Ausdrucks abzuweichen, und vor den Mustern die uns dieser große Mann
hinterlassen hat, erschrecken; denn es ist gewis, daß nicht tiefes Gefühl und eine über-
aus lebhafte Phantasie die Wunder die wir anstaunen allein bewirkt haben, sondern auch
und zwar vorzüglich die große Kenntniß und Umsicht der technischen Theile die er ganz
in seiner Gewalt hatte, wie dies bei jedem großen Genie: wenn man nicht die blos
natürlichen Anlagen darunter verstehen will, der Fall sein muß. Um wieder auf den
Ausdruck zurückzukommen, so ist zu bemerken, daß er ein sehr wichtiger Gegenstand in
der Musik ist und in zwei Hauptverrichtungen besteht, 1) in den Bestreben, solche Ge-
danken zu erfinden wie sie zu den beabsichtigten Zwecke und Effecte nöthig sind 2) in
der Kenntniß, die Gedanken durch Noten so auszudrücken um ihnen die intereßanteste
Seite abzugewinnen. Beides nennt man im Allgemeinen immer: die Schreibart, den
Styl eines Componisten. Den ersten Punkt deutlich zu machen, erlaubt der Raum die-
ser Blätter nicht, und der zweite setzt eine genaue Kenntniß aller bisher abgehandelten
Abtheilungen und Kapitel, so wie eine klare Vorstellung, welchen Effect die Ideen auf
diese oder jene Art ausgedrückt machen können, voraus. Ob ich nun schon das ganze
Werk hindurch nicht nur die grammatikalische Richtigkeit, die schon von vielen gelehrt
worden ist, sondern auch so viel als möglich die Schönheit der Musik vor Augen gehabt,
und hin und wieder auf den guten Ausdruck hingedeutet habe, so wird man doch wohl
noch schwerlich im Stande sein, eher zu einem intereßanten Ausdrucke zu gelangen und
einer gewöhnlichen Idee besonders Feuer und Leben geben zu können, als bis man den
wahren Sinn des Contrapuncts und der ihm untergeordneten Fuge, (deren Abhandlung
schon vorangegangen ist) gefaßt hat, um ihn auf das Intereße des Ausdrucks vorzüglich
mit anwenden zu können; und zwar aus dem Grunde, als uns der Contrapunct lehrt,
eine Melodie der andern harmonisch richtig, und rhythmisch zweckmäßig entgegen (ent-
weder darüber oder darunter) setzen zu können. Findet man nach allen bisherigen Ab-
handlungen und des hierauf folgenden Contrapuncts, als den Inbegriffe der ganzen Setz-
kunst der wie der Riß eines Gebäudes zu betrachten ist, die Mittel des Ausdrucks
noch nicht, so ist es eine vergebliche Mühe, sie in etwas andern zu suchen. Bei dem

Scene des ſteinernen Gaſtes mit den D. Juan, (wie ſich Leſing uͤber das erhabene und
furchtbare des Shackespeare ausdruͤckt) nicht die Haare zu Berge ſtehen, ſie moͤgen ein
glaͤubiges oder unglaͤubiges Haupt bedecken? Es iſt die Macht des Gefuͤhls und die
Wahl des Ausdrucks, was dieſen großen Mann, deſſen Grab man nicht einmal
mehr kennt, vor allen andern ſo ſehr auszeichnet. Wie man zu einem ſolchen tiefen
Gefuͤhle gelangt was uns nicht angebohren iſt, weiß ich nicht, aber wie ein von Natur
gutes Gefuͤhl fuͤr Muſik veredelt und verfeinert werden kann, dazu iſt eine Moͤglich-
keit vorhanden, wenn wir uns nur ſonſt nicht durch National-Manieren und der Ver-
gaͤnglichkeit unterworfene Lieblings-Effecte verleiten laßen, von der wahren Bahn des
richtigen Ausdrucks abzuweichen, und vor den Muſtern die uns dieſer große Mann
hinterlaſſen hat, erſchrecken; denn es iſt gewis, daß nicht tiefes Gefuͤhl und eine uͤber-
aus lebhafte Phantaſie die Wunder die wir anſtaunen allein bewirkt haben, ſondern auch
und zwar vorzuͤglich die große Kenntniß und Umſicht der techniſchen Theile die er ganz
in ſeiner Gewalt hatte, wie dies bei jedem großen Genie: wenn man nicht die blos
natuͤrlichen Anlagen darunter verſtehen will, der Fall ſein muß. Um wieder auf den
Ausdruck zuruͤckzukommen, ſo iſt zu bemerken, daß er ein ſehr wichtiger Gegenſtand in
der Muſik iſt und in zwei Hauptverrichtungen beſteht, 1) in den Beſtreben, ſolche Ge-
danken zu erfinden wie ſie zu den beabſichtigten Zwecke und Effecte noͤthig ſind 2) in
der Kenntniß, die Gedanken durch Noten ſo auszudruͤcken um ihnen die intereßanteſte
Seite abzugewinnen. Beides nennt man im Allgemeinen immer: die Schreibart, den
Styl eines Componiſten. Den erſten Punkt deutlich zu machen, erlaubt der Raum die-
ſer Blaͤtter nicht, und der zweite ſetzt eine genaue Kenntniß aller bisher abgehandelten
Abtheilungen und Kapitel, ſo wie eine klare Vorſtellung, welchen Effect die Ideen auf
dieſe oder jene Art ausgedruͤckt machen koͤnnen, voraus. Ob ich nun ſchon das ganze
Werk hindurch nicht nur die grammatikaliſche Richtigkeit, die ſchon von vielen gelehrt
worden iſt, ſondern auch ſo viel als moͤglich die Schoͤnheit der Muſik vor Augen gehabt,
und hin und wieder auf den guten Ausdruck hingedeutet habe, ſo wird man doch wohl
noch ſchwerlich im Stande ſein, eher zu einem intereßanten Ausdrucke zu gelangen und
einer gewoͤhnlichen Idee beſonders Feuer und Leben geben zu koͤnnen, als bis man den
wahren Sinn des Contrapuncts und der ihm untergeordneten Fuge, (deren Abhandlung
ſchon vorangegangen iſt) gefaßt hat, um ihn auf das Intereße des Ausdrucks vorzuͤglich
mit anwenden zu koͤnnen; und zwar aus dem Grunde, als uns der Contrapunct lehrt,
eine Melodie der andern harmoniſch richtig, und rhythmiſch zweckmaͤßig entgegen (ent-
weder daruͤber oder darunter) ſetzen zu koͤnnen. Findet man nach allen bisherigen Ab-
handlungen und des hierauf folgenden Contrapuncts, als den Inbegriffe der ganzen Setz-
kunſt der wie der Riß eines Gebaͤudes zu betrachten iſt, die Mittel des Ausdrucks
noch nicht, ſo iſt es eine vergebliche Muͤhe, ſie in etwas andern zu ſuchen. Bei dem

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[246/0264] Scene des ſteinernen Gaſtes mit den D. Juan, (wie ſich Leſing uͤber das erhabene und furchtbare des Shackespeare ausdruͤckt) nicht die Haare zu Berge ſtehen, ſie moͤgen ein glaͤubiges oder unglaͤubiges Haupt bedecken? Es iſt die Macht des Gefuͤhls und die Wahl des Ausdrucks, was dieſen großen Mann, deſſen Grab man nicht einmal mehr kennt, vor allen andern ſo ſehr auszeichnet. Wie man zu einem ſolchen tiefen Gefuͤhle gelangt was uns nicht angebohren iſt, weiß ich nicht, aber wie ein von Natur gutes Gefuͤhl fuͤr Muſik veredelt und verfeinert werden kann, dazu iſt eine Moͤglich- keit vorhanden, wenn wir uns nur ſonſt nicht durch National-Manieren und der Ver- gaͤnglichkeit unterworfene Lieblings-Effecte verleiten laßen, von der wahren Bahn des richtigen Ausdrucks abzuweichen, und vor den Muſtern die uns dieſer große Mann hinterlaſſen hat, erſchrecken; denn es iſt gewis, daß nicht tiefes Gefuͤhl und eine uͤber- aus lebhafte Phantaſie die Wunder die wir anſtaunen allein bewirkt haben, ſondern auch und zwar vorzuͤglich die große Kenntniß und Umſicht der techniſchen Theile die er ganz in ſeiner Gewalt hatte, wie dies bei jedem großen Genie: wenn man nicht die blos natuͤrlichen Anlagen darunter verſtehen will, der Fall ſein muß. Um wieder auf den Ausdruck zuruͤckzukommen, ſo iſt zu bemerken, daß er ein ſehr wichtiger Gegenſtand in der Muſik iſt und in zwei Hauptverrichtungen beſteht, 1) in den Beſtreben, ſolche Ge- danken zu erfinden wie ſie zu den beabſichtigten Zwecke und Effecte noͤthig ſind 2) in der Kenntniß, die Gedanken durch Noten ſo auszudruͤcken um ihnen die intereßanteſte Seite abzugewinnen. Beides nennt man im Allgemeinen immer: die Schreibart, den Styl eines Componiſten. Den erſten Punkt deutlich zu machen, erlaubt der Raum die- ſer Blaͤtter nicht, und der zweite ſetzt eine genaue Kenntniß aller bisher abgehandelten Abtheilungen und Kapitel, ſo wie eine klare Vorſtellung, welchen Effect die Ideen auf dieſe oder jene Art ausgedruͤckt machen koͤnnen, voraus. Ob ich nun ſchon das ganze Werk hindurch nicht nur die grammatikaliſche Richtigkeit, die ſchon von vielen gelehrt worden iſt, ſondern auch ſo viel als moͤglich die Schoͤnheit der Muſik vor Augen gehabt, und hin und wieder auf den guten Ausdruck hingedeutet habe, ſo wird man doch wohl noch ſchwerlich im Stande ſein, eher zu einem intereßanten Ausdrucke zu gelangen und einer gewoͤhnlichen Idee beſonders Feuer und Leben geben zu koͤnnen, als bis man den wahren Sinn des Contrapuncts und der ihm untergeordneten Fuge, (deren Abhandlung ſchon vorangegangen iſt) gefaßt hat, um ihn auf das Intereße des Ausdrucks vorzuͤglich mit anwenden zu koͤnnen; und zwar aus dem Grunde, als uns der Contrapunct lehrt, eine Melodie der andern harmoniſch richtig, und rhythmiſch zweckmaͤßig entgegen (ent- weder daruͤber oder darunter) ſetzen zu koͤnnen. Findet man nach allen bisherigen Ab- handlungen und des hierauf folgenden Contrapuncts, als den Inbegriffe der ganzen Setz- kunſt der wie der Riß eines Gebaͤudes zu betrachten iſt, die Mittel des Ausdrucks noch nicht, ſo iſt es eine vergebliche Muͤhe, ſie in etwas andern zu ſuchen. Bei dem

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Zitationshilfe: Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siegmeyer_tonsetzkunst_1822/264>, abgerufen am 23.11.2024.