Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Sievers Briefe
beunruhigen diese Nomaden nie. -- Jch hörte bey de-
nen am Fuße meines Berges liegenden Jurten Musik;
um hieran Theil zu nehmen stieg ich zu diesen guten Leu-
ten herunter und fand die fröhlichste Gesellschaft von der
Welt. Ein Blinder spielte auf dem Chomus, einem
Jnstrument welches nur 2 -- 3 Sayten hat und wie ei-
ne Zitter aussiehet; ein anderer Nichtblinder accom-
pagnirte ihn auf dem Tschetagan, welches ein Faden lan-
ger und vier Zoll breiter, viereckiger Trog ist, wenn ich
es so nennen darf. Die offene Seite dieses Troges ist
unterwärts gekehrt und auf den Rücken sind 6 Pferde-
haarne Sayten, welche mit den Fingern gerührt werden.
Zwey Sänger sangen ein beynahe monotonisches Hir-
tenlied im tiefen brummenden Baß dazu. Dieses Con-
cert, Trinken, Tobackrauchen und nach ihrer Art philo-
sophiren dauerte bis 3 Uhr nach Mitternacht, wo Mor-
pheus dem Spiel ein Ende machte.

Den nächsten Tag sah ich wiederum eine traurige
Scene: Eine ganze Familie war angelangt, denen in
sehr kurzer Zeit der Tod sünf Brüder, und eine Feuers-
brunst ihre Jurten geraubt hatte. Hier gieng das Heu-
len, Lamentiren, Singen, Trinken, Tobackrauchen und
Philosophiren von Neuem wieder an. --

Ohnweit dem Flüßchen Tuüm ist ein Salzreicher
großer See (Samosadno Osero), den ich zu sehen wünsch-
te. Jch nahm also von meinen Tataren hier Abschied
und fuhr dorthin. Ein von dem nicht längst verstorbe-
nen krasnojarskischen Woewoden Fürsten Pelymsky vor
etwa 15 Jahren erbauetes steinernes Magazin stehet

noch

Sievers Briefe
beunruhigen dieſe Nomaden nie. — Jch hoͤrte bey de-
nen am Fuße meines Berges liegenden Jurten Muſik;
um hieran Theil zu nehmen ſtieg ich zu dieſen guten Leu-
ten herunter und fand die froͤhlichſte Geſellſchaft von der
Welt. Ein Blinder ſpielte auf dem Chómus, einem
Jnſtrument welches nur 2 — 3 Sayten hat und wie ei-
ne Zitter ausſiehet; ein anderer Nichtblinder accom-
pagnirte ihn auf dem Tſchétagan, welches ein Faden lan-
ger und vier Zoll breiter, viereckiger Trog iſt, wenn ich
es ſo nennen darf. Die offene Seite dieſes Troges iſt
unterwaͤrts gekehrt und auf den Ruͤcken ſind 6 Pferde-
haarne Sayten, welche mit den Fingern geruͤhrt werden.
Zwey Saͤnger ſangen ein beynahe monotoniſches Hir-
tenlied im tiefen brummenden Baß dazu. Dieſes Con-
cert, Trinken, Tobackrauchen und nach ihrer Art philo-
ſophiren dauerte bis 3 Uhr nach Mitternacht, wo Mor-
pheus dem Spiel ein Ende machte.

Den naͤchſten Tag ſah ich wiederum eine traurige
Scene: Eine ganze Familie war angelangt, denen in
ſehr kurzer Zeit der Tod ſuͤnf Bruͤder, und eine Feuers-
brunſt ihre Jurten geraubt hatte. Hier gieng das Heu-
len, Lamentiren, Singen, Trinken, Tobackrauchen und
Philoſophiren von Neuem wieder an. —

Ohnweit dem Fluͤßchen Tuuͤm iſt ein Salzreicher
großer See (Samoſadno Oſero), den ich zu ſehen wuͤnſch-
te. Jch nahm alſo von meinen Tataren hier Abſchied
und fuhr dorthin. Ein von dem nicht laͤngſt verſtorbe-
nen krasnojarskiſchen Woewoden Fuͤrſten Pelymsky vor
etwa 15 Jahren erbauetes ſteinernes Magazin ſtehet

noch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0108" n="100"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Sievers Briefe</hi></fw><lb/>
beunruhigen die&#x017F;e Nomaden nie. &#x2014; Jch ho&#x0364;rte bey de-<lb/>
nen am Fuße meines Berges liegenden Jurten Mu&#x017F;ik;<lb/>
um hieran Theil zu nehmen &#x017F;tieg ich zu die&#x017F;en guten Leu-<lb/>
ten herunter und fand die fro&#x0364;hlich&#x017F;te Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft von der<lb/>
Welt. Ein Blinder &#x017F;pielte auf dem Ch<hi rendition="#aq">ó</hi>mus, einem<lb/>
Jn&#x017F;trument welches nur 2 &#x2014; 3 Sayten hat und wie ei-<lb/>
ne Zitter aus&#x017F;iehet; ein anderer Nichtblinder accom-<lb/>
pagnirte ihn auf dem T&#x017F;ch<hi rendition="#aq">é</hi>tagan, welches ein Faden lan-<lb/>
ger und vier Zoll breiter, viereckiger Trog i&#x017F;t, wenn ich<lb/>
es &#x017F;o nennen darf. Die offene Seite die&#x017F;es Troges i&#x017F;t<lb/>
unterwa&#x0364;rts gekehrt und auf den Ru&#x0364;cken &#x017F;ind 6 Pferde-<lb/>
haarne Sayten, welche mit den Fingern geru&#x0364;hrt werden.<lb/>
Zwey Sa&#x0364;nger &#x017F;angen ein beynahe monotoni&#x017F;ches Hir-<lb/>
tenlied im tiefen brummenden Baß dazu. Die&#x017F;es Con-<lb/>
cert, Trinken, Tobackrauchen und nach ihrer Art philo-<lb/>
&#x017F;ophiren dauerte bis 3 Uhr nach Mitternacht, wo Mor-<lb/>
pheus dem Spiel ein Ende machte.</p><lb/>
          <p>Den na&#x0364;ch&#x017F;ten Tag &#x017F;ah ich wiederum eine traurige<lb/>
Scene: Eine ganze Familie war angelangt, denen in<lb/>
&#x017F;ehr kurzer Zeit der Tod &#x017F;u&#x0364;nf Bru&#x0364;der, und eine Feuers-<lb/>
brun&#x017F;t ihre Jurten geraubt hatte. Hier gieng das Heu-<lb/>
len, Lamentiren, Singen, Trinken, Tobackrauchen und<lb/>
Philo&#x017F;ophiren von Neuem wieder an. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Ohnweit dem Flu&#x0364;ßchen Tuu&#x0364;m i&#x017F;t ein Salzreicher<lb/>
großer See (Samo&#x017F;adno O&#x017F;ero), den ich zu &#x017F;ehen wu&#x0364;n&#x017F;ch-<lb/>
te. Jch nahm al&#x017F;o von meinen Tataren hier Ab&#x017F;chied<lb/>
und fuhr dorthin. Ein von dem nicht la&#x0364;ng&#x017F;t ver&#x017F;torbe-<lb/>
nen krasnojarski&#x017F;chen Woewoden Fu&#x0364;r&#x017F;ten Pelymsky vor<lb/>
etwa 15 Jahren erbauetes &#x017F;teinernes Magazin &#x017F;tehet<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">noch</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0108] Sievers Briefe beunruhigen dieſe Nomaden nie. — Jch hoͤrte bey de- nen am Fuße meines Berges liegenden Jurten Muſik; um hieran Theil zu nehmen ſtieg ich zu dieſen guten Leu- ten herunter und fand die froͤhlichſte Geſellſchaft von der Welt. Ein Blinder ſpielte auf dem Chómus, einem Jnſtrument welches nur 2 — 3 Sayten hat und wie ei- ne Zitter ausſiehet; ein anderer Nichtblinder accom- pagnirte ihn auf dem Tſchétagan, welches ein Faden lan- ger und vier Zoll breiter, viereckiger Trog iſt, wenn ich es ſo nennen darf. Die offene Seite dieſes Troges iſt unterwaͤrts gekehrt und auf den Ruͤcken ſind 6 Pferde- haarne Sayten, welche mit den Fingern geruͤhrt werden. Zwey Saͤnger ſangen ein beynahe monotoniſches Hir- tenlied im tiefen brummenden Baß dazu. Dieſes Con- cert, Trinken, Tobackrauchen und nach ihrer Art philo- ſophiren dauerte bis 3 Uhr nach Mitternacht, wo Mor- pheus dem Spiel ein Ende machte. Den naͤchſten Tag ſah ich wiederum eine traurige Scene: Eine ganze Familie war angelangt, denen in ſehr kurzer Zeit der Tod ſuͤnf Bruͤder, und eine Feuers- brunſt ihre Jurten geraubt hatte. Hier gieng das Heu- len, Lamentiren, Singen, Trinken, Tobackrauchen und Philoſophiren von Neuem wieder an. — Ohnweit dem Fluͤßchen Tuuͤm iſt ein Salzreicher großer See (Samoſadno Oſero), den ich zu ſehen wuͤnſch- te. Jch nahm alſo von meinen Tataren hier Abſchied und fuhr dorthin. Ein von dem nicht laͤngſt verſtorbe- nen krasnojarskiſchen Woewoden Fuͤrſten Pelymsky vor etwa 15 Jahren erbauetes ſteinernes Magazin ſtehet noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796/108
Zitationshilfe: Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796/108>, abgerufen am 16.05.2024.