Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796.Sievers Briefe Jch blieb nun allein ausgestreckt, wie ein Sultan aufseinem Sopha, und überdachte das äußerst beglückte Le- ben der Nomaden. Jndem sie die sorgenlosesten, frohe- sten Stunden verleben, quält sich der Europäer, wie er Ruhm, Ehre, Reichthümer, hohe Ehrenstellen u. s. w. für ein spannenlanges Leben erwerben will. Hundertmal kam mir der Gedanke in den Kopf, meine Stelle nieder- zulegen und hieher wieder zurückzukehren, zu Völkern wo, beynahe möchte ich sagen, ein sündloses Leben und das wahre delicioso far niente der Jtaliäner herrscht. Aber leider, fand ich, daß ich noch zu wenig Philosoph war; der Hang zu den Europäern behielt für dasmal noch die Oberhand. Was doch die Erziehung nicht macht? -- Jch fieng beinahe an ganz unwillig zu werden, als den
Sievers Briefe Jch blieb nun allein ausgeſtreckt, wie ein Sultan aufſeinem Sopha, und uͤberdachte das aͤußerſt begluͤckte Le- ben der Nomaden. Jndem ſie die ſorgenloſeſten, frohe- ſten Stunden verleben, quaͤlt ſich der Europaͤer, wie er Ruhm, Ehre, Reichthuͤmer, hohe Ehrenſtellen u. ſ. w. fuͤr ein ſpannenlanges Leben erwerben will. Hundertmal kam mir der Gedanke in den Kopf, meine Stelle nieder- zulegen und hieher wieder zuruͤckzukehren, zu Voͤlkern wo, beynahe moͤchte ich ſagen, ein ſuͤndloſes Leben und das wahre delicioſo far niente der Jtaliaͤner herrſcht. Aber leider, fand ich, daß ich noch zu wenig Philoſoph war; der Hang zu den Europaͤern behielt fuͤr dasmal noch die Oberhand. Was doch die Erziehung nicht macht? — Jch fieng beinahe an ganz unwillig zu werden, als den
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Sievers Briefe
Jch blieb nun allein ausgeſtreckt, wie ein Sultan auf
ſeinem Sopha, und uͤberdachte das aͤußerſt begluͤckte Le-
ben der Nomaden. Jndem ſie die ſorgenloſeſten, frohe-
ſten Stunden verleben, quaͤlt ſich der Europaͤer, wie er
Ruhm, Ehre, Reichthuͤmer, hohe Ehrenſtellen u. ſ. w.
fuͤr ein ſpannenlanges Leben erwerben will. Hundertmal
kam mir der Gedanke in den Kopf, meine Stelle nieder-
zulegen und hieher wieder zuruͤckzukehren, zu Voͤlkern
wo, beynahe moͤchte ich ſagen, ein ſuͤndloſes Leben und
das wahre delicioſo far niente der Jtaliaͤner herrſcht.
Aber leider, fand ich, daß ich noch zu wenig Philoſoph
war; der Hang zu den Europaͤern behielt fuͤr dasmal
noch die Oberhand. Was doch die Erziehung nicht
macht? —
Jch fieng beinahe an ganz unwillig zu werden, als
die reichſten, nach Hauſe kommenden Heerden von Zie-
gen, Schaafen, Pferden, Ochſen, Kuͤhen und beſon-
ders mehr wie 500 Kameele meinem Philoſophiren ein
Ende machten. Jch gieng zum Zelt hinaus und ſah
nun mit Vergnuͤgen den Dirnen zu, die denen ſich wil-
lig darbietenden Ziegen und Schaafen ihre Milch abza-
pften, indem ſie ſie erſtlich, wie die Dragonerpferde, an
ein langes Seil in 2 Reihen Kopf neben Kopf feſtge-
knuͤpft hatten. Mir waͤſſerte der Mund nach der ſchoͤ-
nen Milch, ich lief geſchwind nach einer Schaale, und
nun melkte mir ein ganz artiges Maͤdchen die Schaale
voll. Nicht fuͤr die Milch, ſondern fuͤr die Schoͤnheit
und Willfaͤhrigkeit des Maͤdchens, brachte ich ihr ein
kleines Geſchenk, dadurch verdarb ich’s aber ganz bey
den
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