Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Sievers Briefe
Jch blieb nun allein ausgestreckt, wie ein Sultan auf
seinem Sopha, und überdachte das äußerst beglückte Le-
ben der Nomaden. Jndem sie die sorgenlosesten, frohe-
sten Stunden verleben, quält sich der Europäer, wie er
Ruhm, Ehre, Reichthümer, hohe Ehrenstellen u. s. w.
für ein spannenlanges Leben erwerben will. Hundertmal
kam mir der Gedanke in den Kopf, meine Stelle nieder-
zulegen und hieher wieder zurückzukehren, zu Völkern
wo, beynahe möchte ich sagen, ein sündloses Leben und
das wahre delicioso far niente der Jtaliäner herrscht.
Aber leider, fand ich, daß ich noch zu wenig Philosoph
war; der Hang zu den Europäern behielt für dasmal
noch die Oberhand. Was doch die Erziehung nicht
macht? --

Jch fieng beinahe an ganz unwillig zu werden, als
die reichsten, nach Hause kommenden Heerden von Zie-
gen, Schaafen, Pferden, Ochsen, Kühen und beson-
ders mehr wie 500 Kameele meinem Philosophiren ein
Ende machten. Jch gieng zum Zelt hinaus und sah
nun mit Vergnügen den Dirnen zu, die denen sich wil-
lig darbietenden Ziegen und Schaafen ihre Milch abza-
pften, indem sie sie erstlich, wie die Dragonerpferde, an
ein langes Seil in 2 Reihen Kopf neben Kopf festge-
knüpft hatten. Mir wässerte der Mund nach der schö-
nen Milch, ich lief geschwind nach einer Schaale, und
nun melkte mir ein ganz artiges Mädchen die Schaale
voll. Nicht für die Milch, sondern für die Schönheit
und Willfährigkeit des Mädchens, brachte ich ihr ein
kleines Geschenk, dadurch verdarb ich's aber ganz bey

den

Sievers Briefe
Jch blieb nun allein ausgeſtreckt, wie ein Sultan auf
ſeinem Sopha, und uͤberdachte das aͤußerſt begluͤckte Le-
ben der Nomaden. Jndem ſie die ſorgenloſeſten, frohe-
ſten Stunden verleben, quaͤlt ſich der Europaͤer, wie er
Ruhm, Ehre, Reichthuͤmer, hohe Ehrenſtellen u. ſ. w.
fuͤr ein ſpannenlanges Leben erwerben will. Hundertmal
kam mir der Gedanke in den Kopf, meine Stelle nieder-
zulegen und hieher wieder zuruͤckzukehren, zu Voͤlkern
wo, beynahe moͤchte ich ſagen, ein ſuͤndloſes Leben und
das wahre delicioſo far niente der Jtaliaͤner herrſcht.
Aber leider, fand ich, daß ich noch zu wenig Philoſoph
war; der Hang zu den Europaͤern behielt fuͤr dasmal
noch die Oberhand. Was doch die Erziehung nicht
macht? —

Jch fieng beinahe an ganz unwillig zu werden, als
die reichſten, nach Hauſe kommenden Heerden von Zie-
gen, Schaafen, Pferden, Ochſen, Kuͤhen und beſon-
ders mehr wie 500 Kameele meinem Philoſophiren ein
Ende machten. Jch gieng zum Zelt hinaus und ſah
nun mit Vergnuͤgen den Dirnen zu, die denen ſich wil-
lig darbietenden Ziegen und Schaafen ihre Milch abza-
pften, indem ſie ſie erſtlich, wie die Dragonerpferde, an
ein langes Seil in 2 Reihen Kopf neben Kopf feſtge-
knuͤpft hatten. Mir waͤſſerte der Mund nach der ſchoͤ-
nen Milch, ich lief geſchwind nach einer Schaale, und
nun melkte mir ein ganz artiges Maͤdchen die Schaale
voll. Nicht fuͤr die Milch, ſondern fuͤr die Schoͤnheit
und Willfaͤhrigkeit des Maͤdchens, brachte ich ihr ein
kleines Geſchenk, dadurch verdarb ich’s aber ganz bey

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0170" n="162"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Sievers Briefe</hi></fw><lb/>
Jch blieb nun allein ausge&#x017F;treckt, wie ein Sultan auf<lb/>
&#x017F;einem Sopha, und u&#x0364;berdachte das a&#x0364;ußer&#x017F;t beglu&#x0364;ckte Le-<lb/>
ben der Nomaden. Jndem &#x017F;ie die &#x017F;orgenlo&#x017F;e&#x017F;ten, frohe-<lb/>
&#x017F;ten Stunden verleben, qua&#x0364;lt &#x017F;ich der Europa&#x0364;er, wie er<lb/>
Ruhm, Ehre, Reichthu&#x0364;mer, hohe Ehren&#x017F;tellen u. &#x017F;. w.<lb/>
fu&#x0364;r ein &#x017F;pannenlanges Leben erwerben will. Hundertmal<lb/>
kam mir der Gedanke in den Kopf, meine Stelle nieder-<lb/>
zulegen und hieher wieder zuru&#x0364;ckzukehren, zu Vo&#x0364;lkern<lb/>
wo, beynahe mo&#x0364;chte ich &#x017F;agen, ein &#x017F;u&#x0364;ndlo&#x017F;es Leben und<lb/>
das wahre <hi rendition="#aq">delicio&#x017F;o far niente</hi> der Jtalia&#x0364;ner herr&#x017F;cht.<lb/>
Aber leider, fand ich, daß ich noch zu wenig Philo&#x017F;oph<lb/>
war; der Hang zu den Europa&#x0364;ern behielt fu&#x0364;r dasmal<lb/>
noch die Oberhand. Was doch die Erziehung nicht<lb/>
macht? &#x2014;</p><lb/>
          <p>Jch fieng beinahe an ganz unwillig zu werden, als<lb/>
die reich&#x017F;ten, nach Hau&#x017F;e kommenden Heerden von Zie-<lb/>
gen, Schaafen, Pferden, Och&#x017F;en, Ku&#x0364;hen und be&#x017F;on-<lb/>
ders mehr wie 500 Kameele meinem Philo&#x017F;ophiren ein<lb/>
Ende machten. Jch gieng zum Zelt hinaus und &#x017F;ah<lb/>
nun mit Vergnu&#x0364;gen den Dirnen zu, die denen &#x017F;ich wil-<lb/>
lig darbietenden Ziegen und Schaafen ihre Milch abza-<lb/>
pften, indem &#x017F;ie &#x017F;ie er&#x017F;tlich, wie die Dragonerpferde, an<lb/>
ein langes Seil in 2 Reihen Kopf neben Kopf fe&#x017F;tge-<lb/>
knu&#x0364;pft hatten. Mir wa&#x0364;&#x017F;&#x017F;erte der Mund nach der &#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
nen Milch, ich lief ge&#x017F;chwind nach einer Schaale, und<lb/>
nun melkte mir ein ganz artiges Ma&#x0364;dchen die Schaale<lb/>
voll. Nicht fu&#x0364;r die Milch, &#x017F;ondern fu&#x0364;r die Scho&#x0364;nheit<lb/>
und Willfa&#x0364;hrigkeit des Ma&#x0364;dchens, brachte ich ihr ein<lb/>
kleines Ge&#x017F;chenk, dadurch verdarb ich&#x2019;s aber ganz bey<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0170] Sievers Briefe Jch blieb nun allein ausgeſtreckt, wie ein Sultan auf ſeinem Sopha, und uͤberdachte das aͤußerſt begluͤckte Le- ben der Nomaden. Jndem ſie die ſorgenloſeſten, frohe- ſten Stunden verleben, quaͤlt ſich der Europaͤer, wie er Ruhm, Ehre, Reichthuͤmer, hohe Ehrenſtellen u. ſ. w. fuͤr ein ſpannenlanges Leben erwerben will. Hundertmal kam mir der Gedanke in den Kopf, meine Stelle nieder- zulegen und hieher wieder zuruͤckzukehren, zu Voͤlkern wo, beynahe moͤchte ich ſagen, ein ſuͤndloſes Leben und das wahre delicioſo far niente der Jtaliaͤner herrſcht. Aber leider, fand ich, daß ich noch zu wenig Philoſoph war; der Hang zu den Europaͤern behielt fuͤr dasmal noch die Oberhand. Was doch die Erziehung nicht macht? — Jch fieng beinahe an ganz unwillig zu werden, als die reichſten, nach Hauſe kommenden Heerden von Zie- gen, Schaafen, Pferden, Ochſen, Kuͤhen und beſon- ders mehr wie 500 Kameele meinem Philoſophiren ein Ende machten. Jch gieng zum Zelt hinaus und ſah nun mit Vergnuͤgen den Dirnen zu, die denen ſich wil- lig darbietenden Ziegen und Schaafen ihre Milch abza- pften, indem ſie ſie erſtlich, wie die Dragonerpferde, an ein langes Seil in 2 Reihen Kopf neben Kopf feſtge- knuͤpft hatten. Mir waͤſſerte der Mund nach der ſchoͤ- nen Milch, ich lief geſchwind nach einer Schaale, und nun melkte mir ein ganz artiges Maͤdchen die Schaale voll. Nicht fuͤr die Milch, ſondern fuͤr die Schoͤnheit und Willfaͤhrigkeit des Maͤdchens, brachte ich ihr ein kleines Geſchenk, dadurch verdarb ich’s aber ganz bey den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796/170
Zitationshilfe: Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796/170>, abgerufen am 21.11.2024.