Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Sievers Briefe
müdet vom Marsch erreichte ich eben mein Zelt, als die
Speisen zum Genießen fertig waren. Jch habe dabey
weiter nichts zu erinnern, als daß wir sämmtlich ver-
gnügt waren und ich mir die Liebe der ganzen Familie
erwarb. Nachmittages ließ ich einige Pud rohes Zie-
gen- und Schaaffleisch in schmale lange Riemen zer-
schneiden, salzen, und an der Sonne, aufgehängt, zur
weitern Reise nach dem Noorsaissan, austrocknen.

Unterdessen langten einige Fremde an, die etwas
entfernt von der Aul ein von rothem Soldatentuch ge-
machtes nicht großes Zelt aufschlugen. Der Zweck ihrer
Herreise war den Brautschatz (Kalüm) Der Zweck ihrer
Mädchen zu hohlen, die an einen Knaben von 12 Jah-
ren, ein Großkind des alten Sarembet, verheyrathet
werden sollte. Es ist die Gewohnheit der Kirgisen ihre
Kinder sehr früh mit einander zu versprechen, sie fragen
nicht die Neigung der letztern, denn die sind öfters noch
bey dergleichen Versprechungen in der Wiege; sondern
die Eltern sehen nur auf die gegenseitigen Reichthümer.
Sind diese annehmlich, so ist die Hochzeit so gut wie ge-
schehen und es fehlt dann nur an Braut und Bräutigam.
Erstere muß ihre Jungferschaft unversehrt mit ins Braut-
bette bringen, widrigenfalls ist sie in Gefahr auf eine
jämmerliche Art ihr Leben zu verlieren, wenn etwa ihr
Vater sich zu einer schweren Strafe nicht verstehen will,
d. i. den Kalüm doppelt oder vierfach zu bezahlen. Wenn
bis zum völligen Auswuchs etwa einer von den schon Ver-
sprochenen stirbt, so wird der Nachgebliebene an den
nächsten Anverwandten der oder des Verstorbenen ver-

heyra-

Sievers Briefe
muͤdet vom Marſch erreichte ich eben mein Zelt, als die
Speiſen zum Genießen fertig waren. Jch habe dabey
weiter nichts zu erinnern, als daß wir ſaͤmmtlich ver-
gnuͤgt waren und ich mir die Liebe der ganzen Familie
erwarb. Nachmittages ließ ich einige Pud rohes Zie-
gen- und Schaaffleiſch in ſchmale lange Riemen zer-
ſchneiden, ſalzen, und an der Sonne, aufgehaͤngt, zur
weitern Reiſe nach dem Noorſaiſſan, austrocknen.

Unterdeſſen langten einige Fremde an, die etwas
entfernt von der Aul ein von rothem Soldatentuch ge-
machtes nicht großes Zelt aufſchlugen. Der Zweck ihrer
Herreiſe war den Brautſchatz (Kaluͤm) Der Zweck ihrer
Maͤdchen zu hohlen, die an einen Knaben von 12 Jah-
ren, ein Großkind des alten Sarembet, verheyrathet
werden ſollte. Es iſt die Gewohnheit der Kirgiſen ihre
Kinder ſehr fruͤh mit einander zu verſprechen, ſie fragen
nicht die Neigung der letztern, denn die ſind oͤfters noch
bey dergleichen Verſprechungen in der Wiege; ſondern
die Eltern ſehen nur auf die gegenſeitigen Reichthuͤmer.
Sind dieſe annehmlich, ſo iſt die Hochzeit ſo gut wie ge-
ſchehen und es fehlt dann nur an Braut und Braͤutigam.
Erſtere muß ihre Jungferſchaft unverſehrt mit ins Braut-
bette bringen, widrigenfalls iſt ſie in Gefahr auf eine
jaͤmmerliche Art ihr Leben zu verlieren, wenn etwa ihr
Vater ſich zu einer ſchweren Strafe nicht verſtehen will,
d. i. den Kaluͤm doppelt oder vierfach zu bezahlen. Wenn
bis zum voͤlligen Auswuchs etwa einer von den ſchon Ver-
ſprochenen ſtirbt, ſo wird der Nachgebliebene an den
naͤchſten Anverwandten der oder des Verſtorbenen ver-

heyra-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0172" n="164"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Sievers Briefe</hi></fw><lb/>
mu&#x0364;det vom Mar&#x017F;ch erreichte ich eben mein Zelt, als die<lb/>
Spei&#x017F;en zum Genießen fertig waren. Jch habe dabey<lb/>
weiter nichts zu erinnern, als daß wir &#x017F;a&#x0364;mmtlich ver-<lb/>
gnu&#x0364;gt waren und ich mir die Liebe der ganzen Familie<lb/>
erwarb. Nachmittages ließ ich einige Pud rohes Zie-<lb/>
gen- und Schaafflei&#x017F;ch in &#x017F;chmale lange Riemen zer-<lb/>
&#x017F;chneiden, &#x017F;alzen, und an der Sonne, aufgeha&#x0364;ngt, zur<lb/>
weitern Rei&#x017F;e nach dem Noor&#x017F;ai&#x017F;&#x017F;an, austrocknen.</p><lb/>
          <p>Unterde&#x017F;&#x017F;en langten einige Fremde an, die etwas<lb/>
entfernt von der Aul ein von rothem Soldatentuch ge-<lb/>
machtes nicht großes Zelt auf&#x017F;chlugen. Der Zweck ihrer<lb/>
Herrei&#x017F;e war den Braut&#x017F;chatz (<hi rendition="#fr">Kalu&#x0364;m</hi>) Der Zweck ihrer<lb/>
Ma&#x0364;dchen zu hohlen, die an einen Knaben von 12 Jah-<lb/>
ren, ein Großkind des alten Sarembet, verheyrathet<lb/>
werden &#x017F;ollte. Es i&#x017F;t die Gewohnheit der Kirgi&#x017F;en ihre<lb/>
Kinder &#x017F;ehr fru&#x0364;h mit einander zu ver&#x017F;prechen, &#x017F;ie fragen<lb/>
nicht die Neigung der letztern, denn die &#x017F;ind o&#x0364;fters noch<lb/>
bey dergleichen Ver&#x017F;prechungen in der Wiege; &#x017F;ondern<lb/>
die Eltern &#x017F;ehen nur auf die gegen&#x017F;eitigen Reichthu&#x0364;mer.<lb/>
Sind die&#x017F;e annehmlich, &#x017F;o i&#x017F;t die Hochzeit &#x017F;o gut wie ge-<lb/>
&#x017F;chehen und es fehlt dann nur an Braut und Bra&#x0364;utigam.<lb/>
Er&#x017F;tere muß ihre Jungfer&#x017F;chaft unver&#x017F;ehrt mit ins Braut-<lb/>
bette bringen, widrigenfalls i&#x017F;t &#x017F;ie in Gefahr auf eine<lb/>
ja&#x0364;mmerliche Art ihr Leben zu verlieren, wenn etwa ihr<lb/>
Vater &#x017F;ich zu einer &#x017F;chweren Strafe nicht ver&#x017F;tehen will,<lb/>
d. i. den Kalu&#x0364;m doppelt oder vierfach zu bezahlen. Wenn<lb/>
bis zum vo&#x0364;lligen Auswuchs etwa einer von den &#x017F;chon Ver-<lb/>
&#x017F;prochenen &#x017F;tirbt, &#x017F;o wird der Nachgebliebene an den<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;ten Anverwandten der oder des Ver&#x017F;torbenen ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">heyra-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[164/0172] Sievers Briefe muͤdet vom Marſch erreichte ich eben mein Zelt, als die Speiſen zum Genießen fertig waren. Jch habe dabey weiter nichts zu erinnern, als daß wir ſaͤmmtlich ver- gnuͤgt waren und ich mir die Liebe der ganzen Familie erwarb. Nachmittages ließ ich einige Pud rohes Zie- gen- und Schaaffleiſch in ſchmale lange Riemen zer- ſchneiden, ſalzen, und an der Sonne, aufgehaͤngt, zur weitern Reiſe nach dem Noorſaiſſan, austrocknen. Unterdeſſen langten einige Fremde an, die etwas entfernt von der Aul ein von rothem Soldatentuch ge- machtes nicht großes Zelt aufſchlugen. Der Zweck ihrer Herreiſe war den Brautſchatz (Kaluͤm) Der Zweck ihrer Maͤdchen zu hohlen, die an einen Knaben von 12 Jah- ren, ein Großkind des alten Sarembet, verheyrathet werden ſollte. Es iſt die Gewohnheit der Kirgiſen ihre Kinder ſehr fruͤh mit einander zu verſprechen, ſie fragen nicht die Neigung der letztern, denn die ſind oͤfters noch bey dergleichen Verſprechungen in der Wiege; ſondern die Eltern ſehen nur auf die gegenſeitigen Reichthuͤmer. Sind dieſe annehmlich, ſo iſt die Hochzeit ſo gut wie ge- ſchehen und es fehlt dann nur an Braut und Braͤutigam. Erſtere muß ihre Jungferſchaft unverſehrt mit ins Braut- bette bringen, widrigenfalls iſt ſie in Gefahr auf eine jaͤmmerliche Art ihr Leben zu verlieren, wenn etwa ihr Vater ſich zu einer ſchweren Strafe nicht verſtehen will, d. i. den Kaluͤm doppelt oder vierfach zu bezahlen. Wenn bis zum voͤlligen Auswuchs etwa einer von den ſchon Ver- ſprochenen ſtirbt, ſo wird der Nachgebliebene an den naͤchſten Anverwandten der oder des Verſtorbenen ver- heyra-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796/172
Zitationshilfe: Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796/172>, abgerufen am 15.05.2024.