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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Hieraus ergeben sich nun vielerlei Folgen. Die Gruppen,
zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinaten-
system, derart, dass jede neu hinzukommende ihn genauer
und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer
derselben lässt der Individualität noch einen weiten Spielraum;
aber je mehre es werden, desto unwahrscheinlicher ist es,
dass noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination
aufweisen werden, dass diese vielen Kreise sich noch einmal
in einem Punkte schneiden. Wie der konkrete Gegenstand
für unser Erkennen seine Individualität verliert, wenn man
ihn einer Eigenschaft nach unter einen allgemeinen Begriff
bringt, sie aber in dem Masse wiedergewinnt, in dem die
andern Begriffe hervorgehoben werden, unter die seine andern
Eigenschaften ihn einreihen, so dass jedes Ding, platonisch
zu reden, an so vielen Ideen Teil hat, wie es vielerlei Qua-
litäten besitzt, und dadurch seine individuelle Bestimmtheit
erlangt: gerade so verhält sich die Persönlichkeit gegenüber
den Kreisen, denen sie angehört. Innerhalb des psychologisch-
theoretischen Gebietes ist ganz das Analoge zu beobachten;
was wir das Objektive in unserm Weltbild nennen, was sich
als das Sachliche der Subjektivität des Einzeleindrucks gegen-
überzustellen scheint, das ist doch thatsächlich nur ein sehr
gehäuftes und wiederholtes Subjektives -- wie nach Hume's
Meinung die Kausalität, das sachliche Erfolgen nur in einem
oft wiederholten, zeitlich sinnlichen Folgen, und wie der sub-
stantielle Gegenstand uns gegenüber nur in der Synthese
sinnlicher Eindrücke besteht. So nun bilden wir aus diesen
objektiv gewordenen Elementen dasjenige, was wir die Sub-
jektivität kat exokhen nennen, die Persönlichkeit, die die Ele-
mente der Kultur in individueller Weise kombiniert. Nachdem
die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht,
erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und
höheres Subjektives -- wie die Persönlichkeit sich an den
socialen Kreis hingiebt und sich in ihm verliert; um dann
durch die individuelle Kreuzung der socialen Kreise in ihr
wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen. Übrigens wird ihre
zweckmässige Bestimmtheit so gewissermassen zum Gegenbild
ihrer kausalen: an ihrem Ursprung ist sie doch auch nur der
Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden, das Ergebnis der
Vererbung von verschiedensten Kreisen und Anpassungs-
perioden her, und wird zur Individualität durch die Besonder-
heit der Quanten und Kombinationen, in denen sich die
Gattungselemente in ihr zusammenfinden. Schliesst sie sich
nun mit der Mannichfaltigkeit ihrer Triebe und Interessen
wieder an sociale Gebilde an, so ist das sozusagen ein Aus-
strahlen und Wiedergeben dessen, was sie empfangen, in ana-
loger, aber bewusster und erhöhter Form.


X 1.

Hieraus ergeben sich nun vielerlei Folgen. Die Gruppen,
zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinaten-
system, derart, daſs jede neu hinzukommende ihn genauer
und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer
derselben läſst der Individualität noch einen weiten Spielraum;
aber je mehre es werden, desto unwahrscheinlicher ist es,
daſs noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination
aufweisen werden, daſs diese vielen Kreise sich noch einmal
in einem Punkte schneiden. Wie der konkrete Gegenstand
für unser Erkennen seine Individualität verliert, wenn man
ihn einer Eigenschaft nach unter einen allgemeinen Begriff
bringt, sie aber in dem Maſse wiedergewinnt, in dem die
andern Begriffe hervorgehoben werden, unter die seine andern
Eigenschaften ihn einreihen, so daſs jedes Ding, platonisch
zu reden, an so vielen Ideen Teil hat, wie es vielerlei Qua-
litäten besitzt, und dadurch seine individuelle Bestimmtheit
erlangt: gerade so verhält sich die Persönlichkeit gegenüber
den Kreisen, denen sie angehört. Innerhalb des psychologisch-
theoretischen Gebietes ist ganz das Analoge zu beobachten;
was wir das Objektive in unserm Weltbild nennen, was sich
als das Sachliche der Subjektivität des Einzeleindrucks gegen-
überzustellen scheint, das ist doch thatsächlich nur ein sehr
gehäuftes und wiederholtes Subjektives — wie nach Hume’s
Meinung die Kausalität, das sachliche Erfolgen nur in einem
oft wiederholten, zeitlich sinnlichen Folgen, und wie der sub-
stantielle Gegenstand uns gegenüber nur in der Synthese
sinnlicher Eindrücke besteht. So nun bilden wir aus diesen
objektiv gewordenen Elementen dasjenige, was wir die Sub-
jektivität κατ̕ ἐξοχήν nennen, die Persönlichkeit, die die Ele-
mente der Kultur in individueller Weise kombiniert. Nachdem
die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht,
erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und
höheres Subjektives — wie die Persönlichkeit sich an den
socialen Kreis hingiebt und sich in ihm verliert; um dann
durch die individuelle Kreuzung der socialen Kreise in ihr
wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen. Übrigens wird ihre
zweckmäſsige Bestimmtheit so gewissermaſsen zum Gegenbild
ihrer kausalen: an ihrem Ursprung ist sie doch auch nur der
Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden, das Ergebnis der
Vererbung von verschiedensten Kreisen und Anpassungs-
perioden her, und wird zur Individualität durch die Besonder-
heit der Quanten und Kombinationen, in denen sich die
Gattungselemente in ihr zusammenfinden. Schlieſst sie sich
nun mit der Mannichfaltigkeit ihrer Triebe und Interessen
wieder an sociale Gebilde an, so ist das sozusagen ein Aus-
strahlen und Wiedergeben dessen, was sie empfangen, in ana-
loger, aber bewuſster und erhöhter Form.


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[103/0117] X 1. Hieraus ergeben sich nun vielerlei Folgen. Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinaten- system, derart, daſs jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer derselben läſst der Individualität noch einen weiten Spielraum; aber je mehre es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, daſs noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, daſs diese vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkte schneiden. Wie der konkrete Gegenstand für unser Erkennen seine Individualität verliert, wenn man ihn einer Eigenschaft nach unter einen allgemeinen Begriff bringt, sie aber in dem Maſse wiedergewinnt, in dem die andern Begriffe hervorgehoben werden, unter die seine andern Eigenschaften ihn einreihen, so daſs jedes Ding, platonisch zu reden, an so vielen Ideen Teil hat, wie es vielerlei Qua- litäten besitzt, und dadurch seine individuelle Bestimmtheit erlangt: gerade so verhält sich die Persönlichkeit gegenüber den Kreisen, denen sie angehört. Innerhalb des psychologisch- theoretischen Gebietes ist ganz das Analoge zu beobachten; was wir das Objektive in unserm Weltbild nennen, was sich als das Sachliche der Subjektivität des Einzeleindrucks gegen- überzustellen scheint, das ist doch thatsächlich nur ein sehr gehäuftes und wiederholtes Subjektives — wie nach Hume’s Meinung die Kausalität, das sachliche Erfolgen nur in einem oft wiederholten, zeitlich sinnlichen Folgen, und wie der sub- stantielle Gegenstand uns gegenüber nur in der Synthese sinnlicher Eindrücke besteht. So nun bilden wir aus diesen objektiv gewordenen Elementen dasjenige, was wir die Sub- jektivität κατ̕ ἐξοχήν nennen, die Persönlichkeit, die die Ele- mente der Kultur in individueller Weise kombiniert. Nachdem die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht, erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und höheres Subjektives — wie die Persönlichkeit sich an den socialen Kreis hingiebt und sich in ihm verliert; um dann durch die individuelle Kreuzung der socialen Kreise in ihr wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen. Übrigens wird ihre zweckmäſsige Bestimmtheit so gewissermaſsen zum Gegenbild ihrer kausalen: an ihrem Ursprung ist sie doch auch nur der Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden, das Ergebnis der Vererbung von verschiedensten Kreisen und Anpassungs- perioden her, und wird zur Individualität durch die Besonder- heit der Quanten und Kombinationen, in denen sich die Gattungselemente in ihr zusammenfinden. Schlieſst sie sich nun mit der Mannichfaltigkeit ihrer Triebe und Interessen wieder an sociale Gebilde an, so ist das sozusagen ein Aus- strahlen und Wiedergeben dessen, was sie empfangen, in ana- loger, aber bewuſster und erhöhter Form.

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/117>, abgerufen am 23.11.2024.