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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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X 1.
politische Einheitlichkeit der Familie und ihre Haftbarkeit
als Ganzes für jedes Mitglied einen guten Sinn hat und um
so rationeller erscheint, je mehr man die Wirkungen der Ver-
erbung einsehen lernt, entbehrt die Zusammenschweissung
einer stets gleichen Zahl von Männern zu einer -- in Bezug
auf Gliederung, Militärpflicht, Besteuerung, kriminelle Ver-
antwortung u. s. w. -- als Einheit behandelten Gruppe ganz
einer rationalen Wurzel, und trotzdem tritt sie, wo wir sie
verfolgen können, als Ersatz des Sippschaftsprinzipes auf und
dient einer höheren Kulturstufe. Die Rechtfertigung auch für
sie liegt nicht in dem terminus a quo -- in Hinsicht dieses
übertrifft das Familienprinzip als Differenzierungs- und Inte-
grierungsgrund jedes andere --, sondern im terminus ad quem;
dem höheren staatlichen Zweck ist diese, gerade wegen ihres
schematischen Charakters leicht überschaubare und leicht zu
organisierende Einteilung offenbar günstiger als jene ältere.
Es tritt hier eine eigenartige Erscheinung des Kulturlebens
ein: dass sinnvolle, tief bedeutsame Einrichtungen und Ver-
kehrungsweisen von solchen verdrängt werden, die an und
für sich völlig mechanisch, äusserlich, geistlos erscheinen;
nur der höhere, über jene frühere Stufe hinausliegende Zweck
giebt ihrem Zusammenwirken oder ihrem späteren Resultat
eine geistige Bedeutung, die jedes einzelne Element für sich
entbehren muss; diesen Charakter trägt der moderne Soldat
gegenüber dem Ritter des Mittelalters, die Maschinenarbeit
gegenüber der Handarbeit, die neuzeitliche Uniformität und
Nivellierung so vieler Lebensbeziehungen, die früher der freien
individuellen Selbstgestaltung überlassen waren; jetzt ist einer-
seits das Getriebe zu gross und zu kompliziert, um in jedem
seiner Elemente sozusagen einen ganzen Gedanken zum Aus-
druck zu bringen; jedes dieser kann vielmehr nur einen
mechanischen und für sich bedeutungslosen Charakter haben
und erst als Glied eines Ganzen seinen Teil zur Realisierung
eines Gedankens beitragen; andererseits wirkt vielfach eine
Differenzierung, die das geistige Element der Thätigkeit
herauslöst, sodass das Mechanische und das Geistige gesonderte
Existenz erhalten, wie z. B. die Arbeiterin an der Stick-
maschine eine viel geistlosere Thätigkeit übt, als die Stickerin,
während der Geist dieser Thätigkeit sozusagen an die Ma-
schine übergegangen ist, sich in ihr objektiviert hat. So
können sociale Einrichtungen, Abstufungen, Zusammenschlüsse
mechanischer und äusserlicher werden und doch dem Kultur-
fortschritt dienen, wenn ein höherer Socialzweck auftaucht,
dem sie sich einfach unterzuordnen haben und der nicht mehr
gestattet, dass sie für sich den Geist und Sinn bewahren, mit
dem ein früherer Zustand die teleologische Reihe abschloss;
und so erklärt sich jener Übergang des Sippschaftsprinzips
für die sociale Einteilung zum Zehntschaftsprinzip, obgleich

X 1.
politische Einheitlichkeit der Familie und ihre Haftbarkeit
als Ganzes für jedes Mitglied einen guten Sinn hat und um
so rationeller erscheint, je mehr man die Wirkungen der Ver-
erbung einsehen lernt, entbehrt die Zusammenschweiſsung
einer stets gleichen Zahl von Männern zu einer — in Bezug
auf Gliederung, Militärpflicht, Besteuerung, kriminelle Ver-
antwortung u. s. w. — als Einheit behandelten Gruppe ganz
einer rationalen Wurzel, und trotzdem tritt sie, wo wir sie
verfolgen können, als Ersatz des Sippschaftsprinzipes auf und
dient einer höheren Kulturstufe. Die Rechtfertigung auch für
sie liegt nicht in dem terminus a quo — in Hinsicht dieses
übertrifft das Familienprinzip als Differenzierungs- und Inte-
grierungsgrund jedes andere —, sondern im terminus ad quem;
dem höheren staatlichen Zweck ist diese, gerade wegen ihres
schematischen Charakters leicht überschaubare und leicht zu
organisierende Einteilung offenbar günstiger als jene ältere.
Es tritt hier eine eigenartige Erscheinung des Kulturlebens
ein: daſs sinnvolle, tief bedeutsame Einrichtungen und Ver-
kehrungsweisen von solchen verdrängt werden, die an und
für sich völlig mechanisch, äuſserlich, geistlos erscheinen;
nur der höhere, über jene frühere Stufe hinausliegende Zweck
giebt ihrem Zusammenwirken oder ihrem späteren Resultat
eine geistige Bedeutung, die jedes einzelne Element für sich
entbehren muſs; diesen Charakter trägt der moderne Soldat
gegenüber dem Ritter des Mittelalters, die Maschinenarbeit
gegenüber der Handarbeit, die neuzeitliche Uniformität und
Nivellierung so vieler Lebensbeziehungen, die früher der freien
individuellen Selbstgestaltung überlassen waren; jetzt ist einer-
seits das Getriebe zu groſs und zu kompliziert, um in jedem
seiner Elemente sozusagen einen ganzen Gedanken zum Aus-
druck zu bringen; jedes dieser kann vielmehr nur einen
mechanischen und für sich bedeutungslosen Charakter haben
und erst als Glied eines Ganzen seinen Teil zur Realisierung
eines Gedankens beitragen; andererseits wirkt vielfach eine
Differenzierung, die das geistige Element der Thätigkeit
herauslöst, sodaſs das Mechanische und das Geistige gesonderte
Existenz erhalten, wie z. B. die Arbeiterin an der Stick-
maschine eine viel geistlosere Thätigkeit übt, als die Stickerin,
während der Geist dieser Thätigkeit sozusagen an die Ma-
schine übergegangen ist, sich in ihr objektiviert hat. So
können sociale Einrichtungen, Abstufungen, Zusammenschlüsse
mechanischer und äuſserlicher werden und doch dem Kultur-
fortschritt dienen, wenn ein höherer Socialzweck auftaucht,
dem sie sich einfach unterzuordnen haben und der nicht mehr
gestattet, daſs sie für sich den Geist und Sinn bewahren, mit
dem ein früherer Zustand die teleologische Reihe abschloſs;
und so erklärt sich jener Übergang des Sippschaftsprinzips
für die sociale Einteilung zum Zehntschaftsprinzip, obgleich

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[114/0128] X 1. politische Einheitlichkeit der Familie und ihre Haftbarkeit als Ganzes für jedes Mitglied einen guten Sinn hat und um so rationeller erscheint, je mehr man die Wirkungen der Ver- erbung einsehen lernt, entbehrt die Zusammenschweiſsung einer stets gleichen Zahl von Männern zu einer — in Bezug auf Gliederung, Militärpflicht, Besteuerung, kriminelle Ver- antwortung u. s. w. — als Einheit behandelten Gruppe ganz einer rationalen Wurzel, und trotzdem tritt sie, wo wir sie verfolgen können, als Ersatz des Sippschaftsprinzipes auf und dient einer höheren Kulturstufe. Die Rechtfertigung auch für sie liegt nicht in dem terminus a quo — in Hinsicht dieses übertrifft das Familienprinzip als Differenzierungs- und Inte- grierungsgrund jedes andere —, sondern im terminus ad quem; dem höheren staatlichen Zweck ist diese, gerade wegen ihres schematischen Charakters leicht überschaubare und leicht zu organisierende Einteilung offenbar günstiger als jene ältere. Es tritt hier eine eigenartige Erscheinung des Kulturlebens ein: daſs sinnvolle, tief bedeutsame Einrichtungen und Ver- kehrungsweisen von solchen verdrängt werden, die an und für sich völlig mechanisch, äuſserlich, geistlos erscheinen; nur der höhere, über jene frühere Stufe hinausliegende Zweck giebt ihrem Zusammenwirken oder ihrem späteren Resultat eine geistige Bedeutung, die jedes einzelne Element für sich entbehren muſs; diesen Charakter trägt der moderne Soldat gegenüber dem Ritter des Mittelalters, die Maschinenarbeit gegenüber der Handarbeit, die neuzeitliche Uniformität und Nivellierung so vieler Lebensbeziehungen, die früher der freien individuellen Selbstgestaltung überlassen waren; jetzt ist einer- seits das Getriebe zu groſs und zu kompliziert, um in jedem seiner Elemente sozusagen einen ganzen Gedanken zum Aus- druck zu bringen; jedes dieser kann vielmehr nur einen mechanischen und für sich bedeutungslosen Charakter haben und erst als Glied eines Ganzen seinen Teil zur Realisierung eines Gedankens beitragen; andererseits wirkt vielfach eine Differenzierung, die das geistige Element der Thätigkeit herauslöst, sodaſs das Mechanische und das Geistige gesonderte Existenz erhalten, wie z. B. die Arbeiterin an der Stick- maschine eine viel geistlosere Thätigkeit übt, als die Stickerin, während der Geist dieser Thätigkeit sozusagen an die Ma- schine übergegangen ist, sich in ihr objektiviert hat. So können sociale Einrichtungen, Abstufungen, Zusammenschlüsse mechanischer und äuſserlicher werden und doch dem Kultur- fortschritt dienen, wenn ein höherer Socialzweck auftaucht, dem sie sich einfach unterzuordnen haben und der nicht mehr gestattet, daſs sie für sich den Geist und Sinn bewahren, mit dem ein früherer Zustand die teleologische Reihe abschloſs; und so erklärt sich jener Übergang des Sippschaftsprinzips für die sociale Einteilung zum Zehntschaftsprinzip, obgleich

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/128>, abgerufen am 23.11.2024.