Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite
VI.
Die Differenzierung und das Prinzip der Kraft-
ersparnis.


Alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Or-
ganismen kann betrachtet werden als beherrscht von der Ten-
denz zur Kraftersparnis. Das entwickeltere Wesen unter-
scheidet sich von dem niedrigeren so, dass es zunächst die
gleichen Funktionen wie dieses, ausserdem aber noch andere
auszuüben imstande ist. Das wird allerdings so möglich sein,
dass diesem Wesen ausgiebigere Kraftquellen zur Verfügung
stehen. Diese indes als gleich gesetzt, wird es das Plus an
Zweckthätigkeit dadurch erreichen, dass es die niederen
Funktionen mit einem geringeren Aufwand von Kraft voll-
bringen und auf diese Weise für die darüber hinausgehenden
Kraft gewinnen kann; Kraftersparnis ist die Vorbedingung
der Kraftausgabe. Jedes Wesen ist in dem Masse vollkom-
mener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren
Kraftquantum erreicht. Alle Kultur geht nicht nur dahin,
immer mehr Kräfte der untermenschlichen Natur unsern
Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch jeden dieser letz-
teren auf immer kraftsparenderem Wege durchzusetzen.

Es sind, wie ich glaube, dreierlei Hindernisse der Zweck-
thätigkeit, in deren Vermeidung die Kraftersparnis besteht:
die Reibung, der Umweg und die überflüssige Koordination
der Mittel. Was der Umweg im Nacheinander ist, das ist die
letztere im Nebeneinander; wenn ich zur Erreichung eines
Zweckes eine unmittelbare, darauf führende Bewegung be-
wirken könnte, statt dessen aber eine abseits gelegene einleite,
welche erst ihrerseits und vielleicht erst durch Erregung einer
dritten jene direkt zweckmässige anregt, so ist dies, auf die
Zeit übertragen, wie wenn ich neben der einen zum Zweck

VI.
Die Differenzierung und das Prinzip der Kraft-
ersparnis.


Alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Or-
ganismen kann betrachtet werden als beherrscht von der Ten-
denz zur Kraftersparnis. Das entwickeltere Wesen unter-
scheidet sich von dem niedrigeren so, daſs es zunächst die
gleichen Funktionen wie dieses, auſserdem aber noch andere
auszuüben imstande ist. Das wird allerdings so möglich sein,
daſs diesem Wesen ausgiebigere Kraftquellen zur Verfügung
stehen. Diese indes als gleich gesetzt, wird es das Plus an
Zweckthätigkeit dadurch erreichen, daſs es die niederen
Funktionen mit einem geringeren Aufwand von Kraft voll-
bringen und auf diese Weise für die darüber hinausgehenden
Kraft gewinnen kann; Kraftersparnis ist die Vorbedingung
der Kraftausgabe. Jedes Wesen ist in dem Maſse vollkom-
mener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren
Kraftquantum erreicht. Alle Kultur geht nicht nur dahin,
immer mehr Kräfte der untermenschlichen Natur unsern
Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch jeden dieser letz-
teren auf immer kraftsparenderem Wege durchzusetzen.

Es sind, wie ich glaube, dreierlei Hindernisse der Zweck-
thätigkeit, in deren Vermeidung die Kraftersparnis besteht:
die Reibung, der Umweg und die überflüssige Koordination
der Mittel. Was der Umweg im Nacheinander ist, das ist die
letztere im Nebeneinander; wenn ich zur Erreichung eines
Zweckes eine unmittelbare, darauf führende Bewegung be-
wirken könnte, statt dessen aber eine abseits gelegene einleite,
welche erst ihrerseits und vielleicht erst durch Erregung einer
dritten jene direkt zweckmäſsige anregt, so ist dies, auf die
Zeit übertragen, wie wenn ich neben der einen zum Zweck

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0131" n="[117]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">VI.<lb/>
Die Differenzierung und das Prinzip der Kraft-<lb/>
ersparnis.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Or-<lb/>
ganismen kann betrachtet werden als beherrscht von der Ten-<lb/>
denz zur Kraftersparnis. Das entwickeltere Wesen unter-<lb/>
scheidet sich von dem niedrigeren so, da&#x017F;s es zunächst die<lb/>
gleichen Funktionen wie dieses, au&#x017F;serdem aber noch andere<lb/>
auszuüben imstande ist. Das wird allerdings so möglich sein,<lb/>
da&#x017F;s diesem Wesen ausgiebigere Kraftquellen zur Verfügung<lb/>
stehen. Diese indes als gleich gesetzt, wird es das Plus an<lb/>
Zweckthätigkeit dadurch erreichen, da&#x017F;s es die niederen<lb/>
Funktionen mit einem geringeren Aufwand von Kraft voll-<lb/>
bringen und auf diese Weise für die darüber hinausgehenden<lb/>
Kraft gewinnen kann; Kraftersparnis ist die Vorbedingung<lb/>
der Kraftausgabe. Jedes Wesen ist in dem Ma&#x017F;se vollkom-<lb/>
mener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren<lb/>
Kraftquantum erreicht. Alle Kultur geht nicht nur dahin,<lb/>
immer mehr Kräfte der untermenschlichen Natur unsern<lb/>
Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch jeden dieser letz-<lb/>
teren auf immer kraftsparenderem Wege durchzusetzen.</p><lb/>
        <p>Es sind, wie ich glaube, dreierlei Hindernisse der Zweck-<lb/>
thätigkeit, in deren Vermeidung die Kraftersparnis besteht:<lb/>
die Reibung, der Umweg und die überflüssige Koordination<lb/>
der Mittel. Was der Umweg im Nacheinander ist, das ist die<lb/>
letztere im Nebeneinander; wenn ich zur Erreichung eines<lb/>
Zweckes eine unmittelbare, darauf führende Bewegung be-<lb/>
wirken könnte, statt dessen aber eine abseits gelegene einleite,<lb/>
welche erst ihrerseits und vielleicht erst durch Erregung einer<lb/>
dritten jene direkt zweckmä&#x017F;sige anregt, so ist dies, auf die<lb/>
Zeit übertragen, wie wenn ich neben der einen zum Zweck<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[117]/0131] VI. Die Differenzierung und das Prinzip der Kraft- ersparnis. Alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Or- ganismen kann betrachtet werden als beherrscht von der Ten- denz zur Kraftersparnis. Das entwickeltere Wesen unter- scheidet sich von dem niedrigeren so, daſs es zunächst die gleichen Funktionen wie dieses, auſserdem aber noch andere auszuüben imstande ist. Das wird allerdings so möglich sein, daſs diesem Wesen ausgiebigere Kraftquellen zur Verfügung stehen. Diese indes als gleich gesetzt, wird es das Plus an Zweckthätigkeit dadurch erreichen, daſs es die niederen Funktionen mit einem geringeren Aufwand von Kraft voll- bringen und auf diese Weise für die darüber hinausgehenden Kraft gewinnen kann; Kraftersparnis ist die Vorbedingung der Kraftausgabe. Jedes Wesen ist in dem Maſse vollkom- mener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren Kraftquantum erreicht. Alle Kultur geht nicht nur dahin, immer mehr Kräfte der untermenschlichen Natur unsern Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch jeden dieser letz- teren auf immer kraftsparenderem Wege durchzusetzen. Es sind, wie ich glaube, dreierlei Hindernisse der Zweck- thätigkeit, in deren Vermeidung die Kraftersparnis besteht: die Reibung, der Umweg und die überflüssige Koordination der Mittel. Was der Umweg im Nacheinander ist, das ist die letztere im Nebeneinander; wenn ich zur Erreichung eines Zweckes eine unmittelbare, darauf führende Bewegung be- wirken könnte, statt dessen aber eine abseits gelegene einleite, welche erst ihrerseits und vielleicht erst durch Erregung einer dritten jene direkt zweckmäſsige anregt, so ist dies, auf die Zeit übertragen, wie wenn ich neben der einen zum Zweck

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/131
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. [117]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/131>, abgerufen am 27.11.2024.