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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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kubischen Raumes sich mit der Zeit in drei Gruppen teilen,
von denen jede parallel zu zwei Seitenflächen vor sich ginge;
dann würden eben gar keine Zusammenstösse der Moleküle
mehr untereinander, sondern nur noch mit je zwei einander
gegenüberliegenden Gefässwänden stattfinden und daher die
Zahl der Zusammenstösse auf ein Minimum reduziert sein.
Ganz analog sehen wir nun, wie die Verminderung der Zu-
sammenstösse, resp. der Reibung, innerhalb zusammengesetzterer
Organisationen so zustande kommt, dass sich die Wege der
einzelnen Elemente möglichst auseinanderlegen. Aus dem
wirren Durcheinander, das sie in jedem Augenblick an einen
Punkt zusammenführt, an dem also Reibung, Repulsion, Kraft-
aufhebung stattfindet, stellt sich der Zustand der gesonderten
Bahnen her, und man kann jene physikalische Tendenz ebenso
als Differenzierung, wie diese psychologisch sociale als Re-
duktion der Zusammenstösse bezeichnen. Zöllner selbst deutet
auf erkenntnistheoretische Gründe hin das Verhältnis so aus,
dass den äusseren Zusammenstössen der Dinge ein Unlust-
gefühl entspräche, und giebt der obigen physikalischen Hypo-
these deshalb diese metaphysische Form: Alle Arbeitsleistungen
der Naturwesen werden durch die Empfindungen der Lust
und Unlust bestimmt, und zwar so, dass die Bewegungen
innerhalb eines abgeschlossenen Gebietes von Erscheinungen
sich verhalten, als ob sie den unbewussten Zweck verfolgten,
die Summe der Unlustempfindungen auf ein Minimum zu
reduzieren.

Wie sich in dieses Prinzip das Differenzierungsstreben
einordnet, liegt auf der Hand. Man kann aber vielleicht in
der Abstraktion noch eine Stufe höher steigen und als all-
gemeinste formale Tendenz des Naturgeschehens die Kraft-
ersparnis ansehen; dies ersetzte den alten und jedenfalls höchst
missverständlich ausgedrückten Grundsatz, dass die Natur
immer den kürzesten Weg nimmt, durch die Maxime, dass
sie den kürzesten Weg sucht; zu welchen Zielen dieser führt,
ist dann Sache materialer Ausmachung und gestattet vielleicht
keine einheitliche Zusammenfassung. Die Herbeiführung von
Lust und die Vermeidung der Unlust wären dann nur ent-
weder eines dieser Ziele, oder für gewisse Naturwesen das
Zeichen gelungener Kraftersparnis, oder ein angezüchtetes
psychologisches Lock- und Hülfsmittel für dieselbe.

Ordnen wir nun die Differenzierung dem Prinzip der
Kraftersparnis unter, so ist von vornherein wahrscheinlich,
dass gelegentlich auch ihr entgegengesetzte Bewegungen und
Einschränkungen diesem höchsten Ziele werden dienen müssen.
Denn bei der Mannigfaltigkeit und Heterogeneität der mensch-
lichen Dinge wird kein höchstes Prinzip immer und überall
durch gleichgeartete Einzelvorgänge verwirklicht, sondern
wegen der Verschiedenheit der Ausgangspunkte und der Not-

X 1.
kubischen Raumes sich mit der Zeit in drei Gruppen teilen,
von denen jede parallel zu zwei Seitenflächen vor sich ginge;
dann würden eben gar keine Zusammenstöſse der Moleküle
mehr untereinander, sondern nur noch mit je zwei einander
gegenüberliegenden Gefäſswänden stattfinden und daher die
Zahl der Zusammenstöſse auf ein Minimum reduziert sein.
Ganz analog sehen wir nun, wie die Verminderung der Zu-
sammenstöſse, resp. der Reibung, innerhalb zusammengesetzterer
Organisationen so zustande kommt, daſs sich die Wege der
einzelnen Elemente möglichst auseinanderlegen. Aus dem
wirren Durcheinander, das sie in jedem Augenblick an einen
Punkt zusammenführt, an dem also Reibung, Repulsion, Kraft-
aufhebung stattfindet, stellt sich der Zustand der gesonderten
Bahnen her, und man kann jene physikalische Tendenz ebenso
als Differenzierung, wie diese psychologisch sociale als Re-
duktion der Zusammenstöſse bezeichnen. Zöllner selbst deutet
auf erkenntnistheoretische Gründe hin das Verhältnis so aus,
daſs den äuſseren Zusammenstöſsen der Dinge ein Unlust-
gefühl entspräche, und giebt der obigen physikalischen Hypo-
these deshalb diese metaphysische Form: Alle Arbeitsleistungen
der Naturwesen werden durch die Empfindungen der Lust
und Unlust bestimmt, und zwar so, daſs die Bewegungen
innerhalb eines abgeschlossenen Gebietes von Erscheinungen
sich verhalten, als ob sie den unbewuſsten Zweck verfolgten,
die Summe der Unlustempfindungen auf ein Minimum zu
reduzieren.

Wie sich in dieses Prinzip das Differenzierungsstreben
einordnet, liegt auf der Hand. Man kann aber vielleicht in
der Abstraktion noch eine Stufe höher steigen und als all-
gemeinste formale Tendenz des Naturgeschehens die Kraft-
ersparnis ansehen; dies ersetzte den alten und jedenfalls höchst
miſsverständlich ausgedrückten Grundsatz, daſs die Natur
immer den kürzesten Weg nimmt, durch die Maxime, daſs
sie den kürzesten Weg sucht; zu welchen Zielen dieser führt,
ist dann Sache materialer Ausmachung und gestattet vielleicht
keine einheitliche Zusammenfassung. Die Herbeiführung von
Lust und die Vermeidung der Unlust wären dann nur ent-
weder eines dieser Ziele, oder für gewisse Naturwesen das
Zeichen gelungener Kraftersparnis, oder ein angezüchtetes
psychologisches Lock- und Hülfsmittel für dieselbe.

Ordnen wir nun die Differenzierung dem Prinzip der
Kraftersparnis unter, so ist von vornherein wahrscheinlich,
daſs gelegentlich auch ihr entgegengesetzte Bewegungen und
Einschränkungen diesem höchsten Ziele werden dienen müssen.
Denn bei der Mannigfaltigkeit und Heterogeneität der mensch-
lichen Dinge wird kein höchstes Prinzip immer und überall
durch gleichgeartete Einzelvorgänge verwirklicht, sondern
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[127/0141] X 1. kubischen Raumes sich mit der Zeit in drei Gruppen teilen, von denen jede parallel zu zwei Seitenflächen vor sich ginge; dann würden eben gar keine Zusammenstöſse der Moleküle mehr untereinander, sondern nur noch mit je zwei einander gegenüberliegenden Gefäſswänden stattfinden und daher die Zahl der Zusammenstöſse auf ein Minimum reduziert sein. Ganz analog sehen wir nun, wie die Verminderung der Zu- sammenstöſse, resp. der Reibung, innerhalb zusammengesetzterer Organisationen so zustande kommt, daſs sich die Wege der einzelnen Elemente möglichst auseinanderlegen. Aus dem wirren Durcheinander, das sie in jedem Augenblick an einen Punkt zusammenführt, an dem also Reibung, Repulsion, Kraft- aufhebung stattfindet, stellt sich der Zustand der gesonderten Bahnen her, und man kann jene physikalische Tendenz ebenso als Differenzierung, wie diese psychologisch sociale als Re- duktion der Zusammenstöſse bezeichnen. Zöllner selbst deutet auf erkenntnistheoretische Gründe hin das Verhältnis so aus, daſs den äuſseren Zusammenstöſsen der Dinge ein Unlust- gefühl entspräche, und giebt der obigen physikalischen Hypo- these deshalb diese metaphysische Form: Alle Arbeitsleistungen der Naturwesen werden durch die Empfindungen der Lust und Unlust bestimmt, und zwar so, daſs die Bewegungen innerhalb eines abgeschlossenen Gebietes von Erscheinungen sich verhalten, als ob sie den unbewuſsten Zweck verfolgten, die Summe der Unlustempfindungen auf ein Minimum zu reduzieren. Wie sich in dieses Prinzip das Differenzierungsstreben einordnet, liegt auf der Hand. Man kann aber vielleicht in der Abstraktion noch eine Stufe höher steigen und als all- gemeinste formale Tendenz des Naturgeschehens die Kraft- ersparnis ansehen; dies ersetzte den alten und jedenfalls höchst miſsverständlich ausgedrückten Grundsatz, daſs die Natur immer den kürzesten Weg nimmt, durch die Maxime, daſs sie den kürzesten Weg sucht; zu welchen Zielen dieser führt, ist dann Sache materialer Ausmachung und gestattet vielleicht keine einheitliche Zusammenfassung. Die Herbeiführung von Lust und die Vermeidung der Unlust wären dann nur ent- weder eines dieser Ziele, oder für gewisse Naturwesen das Zeichen gelungener Kraftersparnis, oder ein angezüchtetes psychologisches Lock- und Hülfsmittel für dieselbe. Ordnen wir nun die Differenzierung dem Prinzip der Kraftersparnis unter, so ist von vornherein wahrscheinlich, daſs gelegentlich auch ihr entgegengesetzte Bewegungen und Einschränkungen diesem höchsten Ziele werden dienen müssen. Denn bei der Mannigfaltigkeit und Heterogeneität der mensch- lichen Dinge wird kein höchstes Prinzip immer und überall durch gleichgeartete Einzelvorgänge verwirklicht, sondern wegen der Verschiedenheit der Ausgangspunkte und der Not-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/141>, abgerufen am 27.11.2024.