Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. sten Erkennen, Empfinden oder Handeln, ihre Zurückführungauf erste Prinzipien -- dies alles sind Angelegenheiten, die in einem ideellen Weltbild obenan stehen mögen, bei der that- sächlichen Bildung desselben aber sowohl der Zeit als der Wichtigkeit nach nur Epilog sind. Diesem geschichtlichen Gang sich entwickelnder Er- Dies im allgemeinen zugegeben, begründet doch der jetzige Ein besonderes Moment kommt noch für die Sociologie X 1. sten Erkennen, Empfinden oder Handeln, ihre Zurückführungauf erste Prinzipien — dies alles sind Angelegenheiten, die in einem ideellen Weltbild obenan stehen mögen, bei der that- sächlichen Bildung desselben aber sowohl der Zeit als der Wichtigkeit nach nur Epilog sind. Diesem geschichtlichen Gang sich entwickelnder Er- Dies im allgemeinen zugegeben, begründet doch der jetzige Ein besonderes Moment kommt noch für die Sociologie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0016" n="2"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/> sten Erkennen, Empfinden oder Handeln, ihre Zurückführung<lb/> auf erste Prinzipien — dies alles sind Angelegenheiten, die in<lb/> einem ideellen Weltbild obenan stehen mögen, bei der that-<lb/> sächlichen Bildung desselben aber sowohl der Zeit als der<lb/> Wichtigkeit nach nur Epilog sind.</p><lb/> <p>Diesem geschichtlichen Gang sich entwickelnder Er-<lb/> kenntnis entspräche es, wenn man insbesondere bei einer erst<lb/> beginnenden Wissenschaft, wie die Sociologie ist, alle Kraft<lb/> an die Einzelforschung setzte, um ihr zunächst einen Inhalt,<lb/> eine gesicherte Bedeutung zu geben, und die Fragen der<lb/> Methode und der letzten Ziele so lange bei Seite lieſse, bis<lb/> man hinreichendes thatsächliches Material für ihre Beantwor-<lb/> tung hat, auch weil man andernfalls in die Gefahr geräth,<lb/> eine Form zu schaffen, ohne die Sicherheit eines möglichen<lb/> Inhaltes, ein Gesetzbuch ohne Subjekte, die ihm gehorchen,<lb/> eine Regel ohne Fälle, aus denen sie gezogen wird und die<lb/> ihre Richtigkeit gewährleisteten.</p><lb/> <p>Dies im allgemeinen zugegeben, begründet doch der jetzige<lb/> Zustand der Wissenschaften einen Unterschied gegen die oben<lb/> charakterisierten früheren Arten, eine solche zustande zu<lb/> bringen. Wie sich moderne politische Revolutionen dadurch<lb/> von denen primitiverer Zeiten unterscheiden, daſs man heute<lb/> schon bekannte, anderwärts verwirklichte und erprobte Zu-<lb/> stände zu verwirklichen sucht, daſs eine bewuſste Theorie<lb/> vorangeht, der man die Praxis nachbildet: so wird es auch<lb/> durch die höhere Bewuſstheit des modernen Geistes gerecht-<lb/> fertigt, daſs man aus der Fülle vorhandener Wissenschaften<lb/> und bewährter Theorieen heraus die Umrisse, Formen und<lb/> Ziele einer Wissenschaft fixiere, bevor man an den thatsäch-<lb/> lichen Aufbau derselben geht.</p><lb/> <p>Ein besonderes Moment kommt noch für die Sociologie<lb/> hinzu. Sie ist eine eklektische Wissenschaft, insofern die<lb/> Produkte anderer Wissenschaften ihr Material bilden. Sie ver-<lb/> fährt mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung, der An-<lb/> thropologie, der Statistik, der Psychologie wie mit Halb-<lb/> produkten; sie wendet sich nicht unmittelbar an das primitive<lb/> Material, das andere Wissenschaften bearbeiten, sondern, als<lb/> Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz, schafft sie neue Syn-<lb/> thesen aus dem, was für jene schon Synthese ist. In ihrem<lb/> jetzigen Zustande giebt sie nur einen neuen Standpunkt für<lb/> die Betrachtung bekannter Thatsachen. Deshalb aber ist es<lb/> für sie besonders erforderlich, diesen Standpunkt zu fixieren,<lb/> weil die Wissenschaft allein von ihm ihren specifischen Cha-<lb/> rakter entlehnt, nicht aber von ihrem, den Thatsachen nach<lb/> sonst schon bekannten Material. In diesem Fall sind die all-<lb/> gemeinen Gesichtspunkte, die Einheit des letzten Zwecks, die<lb/> Art der Forschung mit Recht das Erste, was in das Bewuſst-<lb/> sein zu heben ist; denn dies muſs thatsächlich in ihm vor-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [2/0016]
X 1.
sten Erkennen, Empfinden oder Handeln, ihre Zurückführung
auf erste Prinzipien — dies alles sind Angelegenheiten, die in
einem ideellen Weltbild obenan stehen mögen, bei der that-
sächlichen Bildung desselben aber sowohl der Zeit als der
Wichtigkeit nach nur Epilog sind.
Diesem geschichtlichen Gang sich entwickelnder Er-
kenntnis entspräche es, wenn man insbesondere bei einer erst
beginnenden Wissenschaft, wie die Sociologie ist, alle Kraft
an die Einzelforschung setzte, um ihr zunächst einen Inhalt,
eine gesicherte Bedeutung zu geben, und die Fragen der
Methode und der letzten Ziele so lange bei Seite lieſse, bis
man hinreichendes thatsächliches Material für ihre Beantwor-
tung hat, auch weil man andernfalls in die Gefahr geräth,
eine Form zu schaffen, ohne die Sicherheit eines möglichen
Inhaltes, ein Gesetzbuch ohne Subjekte, die ihm gehorchen,
eine Regel ohne Fälle, aus denen sie gezogen wird und die
ihre Richtigkeit gewährleisteten.
Dies im allgemeinen zugegeben, begründet doch der jetzige
Zustand der Wissenschaften einen Unterschied gegen die oben
charakterisierten früheren Arten, eine solche zustande zu
bringen. Wie sich moderne politische Revolutionen dadurch
von denen primitiverer Zeiten unterscheiden, daſs man heute
schon bekannte, anderwärts verwirklichte und erprobte Zu-
stände zu verwirklichen sucht, daſs eine bewuſste Theorie
vorangeht, der man die Praxis nachbildet: so wird es auch
durch die höhere Bewuſstheit des modernen Geistes gerecht-
fertigt, daſs man aus der Fülle vorhandener Wissenschaften
und bewährter Theorieen heraus die Umrisse, Formen und
Ziele einer Wissenschaft fixiere, bevor man an den thatsäch-
lichen Aufbau derselben geht.
Ein besonderes Moment kommt noch für die Sociologie
hinzu. Sie ist eine eklektische Wissenschaft, insofern die
Produkte anderer Wissenschaften ihr Material bilden. Sie ver-
fährt mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung, der An-
thropologie, der Statistik, der Psychologie wie mit Halb-
produkten; sie wendet sich nicht unmittelbar an das primitive
Material, das andere Wissenschaften bearbeiten, sondern, als
Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz, schafft sie neue Syn-
thesen aus dem, was für jene schon Synthese ist. In ihrem
jetzigen Zustande giebt sie nur einen neuen Standpunkt für
die Betrachtung bekannter Thatsachen. Deshalb aber ist es
für sie besonders erforderlich, diesen Standpunkt zu fixieren,
weil die Wissenschaft allein von ihm ihren specifischen Cha-
rakter entlehnt, nicht aber von ihrem, den Thatsachen nach
sonst schon bekannten Material. In diesem Fall sind die all-
gemeinen Gesichtspunkte, die Einheit des letzten Zwecks, die
Art der Forschung mit Recht das Erste, was in das Bewuſst-
sein zu heben ist; denn dies muſs thatsächlich in ihm vor-
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