Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. zusammenfallen, die im individuellen Geiste die Associationder Vorstellungen bewirken: einerseits die Gleichheit, anderer- seits der reale Zusammenhang. Trotzdem die Anpassung schliesslich, wie eben erwähnt, die erstere aus dem letzteren kann hervorgehen lassen, obgleich ferner die Entwickelung der gesellschaftlichen Gruppe aus der Familie eine gemeinsame Ursache für beiderlei Beziehungen schafft, so sind sie doch in hohem Grade von einander unabhängig; zwei Vorstellungen ebenso wie zwei Individuen können einander im höchsten Masse ähnlich sein, ohne dass irgend eine funktionelle Be- rührung zwischen ihnen existiert; nur in dem auffassenden Geiste entsteht der Zusammenhang und die vielfache Ver- schmelzung von Objekten, die nichts Anderes als gewisse Qualitäten gemeinsam haben. Durch diese Eigenschaft des Geistes, dass das gleich Erscheinende sich in ihm associiert und reproduziert, werden natürlich auch die Gefühle, die sich an einen der gleich qualifizierten Gegenstände oder Personen knüpften, auf den andern übertragen, der sachlich durchaus keine Veranlassung dazu gegeben hat. Kein Mensch wird sich ganz frei davon fühlen, dass er einem andern eine wenig freundliche und nicht ganz vorurteilslose Stimmung entgegen- bringt, der etwa mit seinem Todfeinde eine täuschende Ähnlichkeit hat. Umgekehrt fesseln uns einzelne Züge an Menschen oft mit einer Stärke, die aus ihren eigentlichen Werten und Reizen nicht verständlich ist, und die sich einem näheren Nachforschen oft so enthüllt, dass ein anderer uns teurer Mensch eben diese Eigenschaft besessen hat und nun die Gleichheit derselben die Übertragung des Gefühls ver- mittelt, das ehemals mit ihr verknüpft war, auch wenn die sachlichen Gründe, die es in jenem Falle erzeugten, in diesem völlig fehlen; die formale Gleichheit in einem Punkte genügt, um für unser Empfinden ein annäherndes Verhältnis zu dieser wie einst zu jener Person herzustellen. Wie sehr dies unser praktisches Verhalten beeinflusst, liegt auf der Hand. Freund- schaftliche wie feindselige Gesinnungen gegen eine Gruppe werden unzählige Male dadurch hervorgerufen oder verstärkt, dass ein einzelnes Mitglied derselben sachliche Veranlassung dazu gegeben hat, und nun die psychologische Association zwischen den gleich charakterisierten Vorstellungen das gleiche Gefühl auch auf alle diejenigen überträgt, die, wie es in einer Familie oder einem Volksstamme der Fall zu sein pflegt, durch Ähnlichkeit oder äussere Kennzeichen -- sei es auch nur die Führung des gleichen Namens -- diese Zusammen- schliessung im Geiste des Dritten begünstigen. Und, worauf es für unsere Beweisführung ankommt, dies wird in Zeiten eines unausgebildeteren und roheren Bewusstseins in erhöhtem Masse stattfinden, weil ein solches ganz besonders von der Association durch äusserliche Gleichheit beherrscht wird; so X 1. zusammenfallen, die im individuellen Geiste die Associationder Vorstellungen bewirken: einerseits die Gleichheit, anderer- seits der reale Zusammenhang. Trotzdem die Anpassung schlieſslich, wie eben erwähnt, die erstere aus dem letzteren kann hervorgehen lassen, obgleich ferner die Entwickelung der gesellschaftlichen Gruppe aus der Familie eine gemeinsame Ursache für beiderlei Beziehungen schafft, so sind sie doch in hohem Grade von einander unabhängig; zwei Vorstellungen ebenso wie zwei Individuen können einander im höchsten Maſse ähnlich sein, ohne daſs irgend eine funktionelle Be- rührung zwischen ihnen existiert; nur in dem auffassenden Geiste entsteht der Zusammenhang und die vielfache Ver- schmelzung von Objekten, die nichts Anderes als gewisse Qualitäten gemeinsam haben. Durch diese Eigenschaft des Geistes, daſs das gleich Erscheinende sich in ihm associiert und reproduziert, werden natürlich auch die Gefühle, die sich an einen der gleich qualifizierten Gegenstände oder Personen knüpften, auf den andern übertragen, der sachlich durchaus keine Veranlassung dazu gegeben hat. Kein Mensch wird sich ganz frei davon fühlen, daſs er einem andern eine wenig freundliche und nicht ganz vorurteilslose Stimmung entgegen- bringt, der etwa mit seinem Todfeinde eine täuschende Ähnlichkeit hat. Umgekehrt fesseln uns einzelne Züge an Menschen oft mit einer Stärke, die aus ihren eigentlichen Werten und Reizen nicht verständlich ist, und die sich einem näheren Nachforschen oft so enthüllt, daſs ein anderer uns teurer Mensch eben diese Eigenschaft besessen hat und nun die Gleichheit derselben die Übertragung des Gefühls ver- mittelt, das ehemals mit ihr verknüpft war, auch wenn die sachlichen Gründe, die es in jenem Falle erzeugten, in diesem völlig fehlen; die formale Gleichheit in einem Punkte genügt, um für unser Empfinden ein annäherndes Verhältnis zu dieser wie einst zu jener Person herzustellen. Wie sehr dies unser praktisches Verhalten beeinfluſst, liegt auf der Hand. Freund- schaftliche wie feindselige Gesinnungen gegen eine Gruppe werden unzählige Male dadurch hervorgerufen oder verstärkt, daſs ein einzelnes Mitglied derselben sachliche Veranlassung dazu gegeben hat, und nun die psychologische Association zwischen den gleich charakterisierten Vorstellungen das gleiche Gefühl auch auf alle diejenigen überträgt, die, wie es in einer Familie oder einem Volksstamme der Fall zu sein pflegt, durch Ähnlichkeit oder äuſsere Kennzeichen — sei es auch nur die Führung des gleichen Namens — diese Zusammen- schlieſsung im Geiste des Dritten begünstigen. Und, worauf es für unsere Beweisführung ankommt, dies wird in Zeiten eines unausgebildeteren und roheren Bewuſstseins in erhöhtem Maſse stattfinden, weil ein solches ganz besonders von der Association durch äuſserliche Gleichheit beherrscht wird; so <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0041" n="27"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/> zusammenfallen, die im individuellen Geiste die Association<lb/> der Vorstellungen bewirken: einerseits die Gleichheit, anderer-<lb/> seits der reale Zusammenhang. Trotzdem die Anpassung<lb/> schlieſslich, wie eben erwähnt, die erstere aus dem letzteren<lb/> kann hervorgehen lassen, obgleich ferner die Entwickelung der<lb/> gesellschaftlichen Gruppe aus der Familie eine gemeinsame<lb/> Ursache für beiderlei Beziehungen schafft, so sind sie doch in<lb/> hohem Grade von einander unabhängig; zwei Vorstellungen<lb/> ebenso wie zwei Individuen können einander im höchsten<lb/> Maſse ähnlich sein, ohne daſs irgend eine funktionelle Be-<lb/> rührung zwischen ihnen existiert; nur in dem auffassenden<lb/> Geiste entsteht der Zusammenhang und die vielfache Ver-<lb/> schmelzung von Objekten, die nichts Anderes als gewisse<lb/> Qualitäten gemeinsam haben. Durch diese Eigenschaft des<lb/> Geistes, daſs das gleich Erscheinende sich in ihm associiert<lb/> und reproduziert, werden natürlich auch die Gefühle, die sich<lb/> an einen der gleich qualifizierten Gegenstände oder Personen<lb/> knüpften, auf den andern übertragen, der sachlich durchaus<lb/> keine Veranlassung dazu gegeben hat. Kein Mensch wird<lb/> sich ganz frei davon fühlen, daſs er einem andern eine wenig<lb/> freundliche und nicht ganz vorurteilslose Stimmung entgegen-<lb/> bringt, der etwa mit seinem Todfeinde eine täuschende<lb/> Ähnlichkeit hat. Umgekehrt fesseln uns einzelne Züge an<lb/> Menschen oft mit einer Stärke, die aus ihren eigentlichen<lb/> Werten und Reizen nicht verständlich ist, und die sich einem<lb/> näheren Nachforschen oft so enthüllt, daſs ein anderer uns<lb/> teurer Mensch eben diese Eigenschaft besessen hat und nun<lb/> die Gleichheit derselben die Übertragung des Gefühls ver-<lb/> mittelt, das ehemals mit ihr verknüpft war, auch wenn die<lb/> sachlichen Gründe, die es in jenem Falle erzeugten, in diesem<lb/> völlig fehlen; die formale Gleichheit in einem Punkte genügt,<lb/> um für unser Empfinden ein annäherndes Verhältnis zu dieser<lb/> wie einst zu jener Person herzustellen. Wie sehr dies unser<lb/> praktisches Verhalten beeinfluſst, liegt auf der Hand. Freund-<lb/> schaftliche wie feindselige Gesinnungen gegen eine Gruppe<lb/> werden unzählige Male dadurch hervorgerufen oder verstärkt,<lb/> daſs ein einzelnes Mitglied derselben sachliche Veranlassung<lb/> dazu gegeben hat, und nun die psychologische Association<lb/> zwischen den gleich charakterisierten Vorstellungen das gleiche<lb/> Gefühl auch auf alle diejenigen überträgt, die, wie es in einer<lb/> Familie oder einem Volksstamme der Fall zu sein pflegt,<lb/> durch Ähnlichkeit oder äuſsere Kennzeichen — sei es auch<lb/> nur die Führung des gleichen Namens — diese Zusammen-<lb/> schlieſsung im Geiste des Dritten begünstigen. Und, worauf<lb/> es für unsere Beweisführung ankommt, dies wird in Zeiten<lb/> eines unausgebildeteren und roheren Bewuſstseins in erhöhtem<lb/> Maſse stattfinden, weil ein solches ganz besonders von der<lb/> Association durch äuſserliche Gleichheit beherrscht wird; so<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [27/0041]
X 1.
zusammenfallen, die im individuellen Geiste die Association
der Vorstellungen bewirken: einerseits die Gleichheit, anderer-
seits der reale Zusammenhang. Trotzdem die Anpassung
schlieſslich, wie eben erwähnt, die erstere aus dem letzteren
kann hervorgehen lassen, obgleich ferner die Entwickelung der
gesellschaftlichen Gruppe aus der Familie eine gemeinsame
Ursache für beiderlei Beziehungen schafft, so sind sie doch in
hohem Grade von einander unabhängig; zwei Vorstellungen
ebenso wie zwei Individuen können einander im höchsten
Maſse ähnlich sein, ohne daſs irgend eine funktionelle Be-
rührung zwischen ihnen existiert; nur in dem auffassenden
Geiste entsteht der Zusammenhang und die vielfache Ver-
schmelzung von Objekten, die nichts Anderes als gewisse
Qualitäten gemeinsam haben. Durch diese Eigenschaft des
Geistes, daſs das gleich Erscheinende sich in ihm associiert
und reproduziert, werden natürlich auch die Gefühle, die sich
an einen der gleich qualifizierten Gegenstände oder Personen
knüpften, auf den andern übertragen, der sachlich durchaus
keine Veranlassung dazu gegeben hat. Kein Mensch wird
sich ganz frei davon fühlen, daſs er einem andern eine wenig
freundliche und nicht ganz vorurteilslose Stimmung entgegen-
bringt, der etwa mit seinem Todfeinde eine täuschende
Ähnlichkeit hat. Umgekehrt fesseln uns einzelne Züge an
Menschen oft mit einer Stärke, die aus ihren eigentlichen
Werten und Reizen nicht verständlich ist, und die sich einem
näheren Nachforschen oft so enthüllt, daſs ein anderer uns
teurer Mensch eben diese Eigenschaft besessen hat und nun
die Gleichheit derselben die Übertragung des Gefühls ver-
mittelt, das ehemals mit ihr verknüpft war, auch wenn die
sachlichen Gründe, die es in jenem Falle erzeugten, in diesem
völlig fehlen; die formale Gleichheit in einem Punkte genügt,
um für unser Empfinden ein annäherndes Verhältnis zu dieser
wie einst zu jener Person herzustellen. Wie sehr dies unser
praktisches Verhalten beeinfluſst, liegt auf der Hand. Freund-
schaftliche wie feindselige Gesinnungen gegen eine Gruppe
werden unzählige Male dadurch hervorgerufen oder verstärkt,
daſs ein einzelnes Mitglied derselben sachliche Veranlassung
dazu gegeben hat, und nun die psychologische Association
zwischen den gleich charakterisierten Vorstellungen das gleiche
Gefühl auch auf alle diejenigen überträgt, die, wie es in einer
Familie oder einem Volksstamme der Fall zu sein pflegt,
durch Ähnlichkeit oder äuſsere Kennzeichen — sei es auch
nur die Führung des gleichen Namens — diese Zusammen-
schlieſsung im Geiste des Dritten begünstigen. Und, worauf
es für unsere Beweisführung ankommt, dies wird in Zeiten
eines unausgebildeteren und roheren Bewuſstseins in erhöhtem
Maſse stattfinden, weil ein solches ganz besonders von der
Association durch äuſserliche Gleichheit beherrscht wird; so
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |