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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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blosses Mitglied der feindlichen Gruppe erblickt. Feindliche
Berührungen sind in viel höherem Masse kollektivistisch als
freundliche, und umgekehrt pflegen kollektivistische Be-
ziehungen der Gruppen zu einander überwiegend feindseliger
Natur zu sein und zwar bis in die höchsten Kulturen hinein,
weil auch in diesen noch jeder Staat absolut egoistisch ist;
wo selbst solche freundlicherer Art von Stamm zu Stamm
stattfinden, sind sie doch im ganzen nur die Grundlage für
individuelle Beziehungen -- Handel, Connubium, Gastfreund-
schaft u. s. w. --, räumen nur die Hindernisse weg, die diesen
sonst von Stammes wegen entgegenstehen; und wo sie positi-
veren Inhalt annehmen, wo die Vereinigung ganzer Stämme
mit einander anders als durch gewaltsame Unterwerfung und
Verschmelzung geschieht, da pflegt doch der Zweck davon
kein anderer als ein kriegerischer, eine gemeinsame Offensive
oder Defensive zu sein, so dass auch hier nicht nur dem
Dritten gegenüber der Einzelne seine Bedeutung nur als Mit-
glied des Stammes und durch die Solidarität mit diesem hat,
sondern auch die Verbündeten untereinander nur vom Stand-
punkt des Stammesinteresses aus miteinander zu thun haben;
was sie aber zusammenführt und verknüpft, ist nur das ge-
meinsame Verhältnis zum Feinde, und der Einzelne hat einen
Wert nur insofern, als die Gruppe hinter ihm steht. Diese
aus praktischen Gründen erforderte Solidarität hat nun man-
cherlei Folgen, die sich weit über Dauer und Umfang ihrer
ursprünglichen Veranlassung hinaus erstrecken. Es ist mit
Recht hervorgehoben worden, dass gerade bei den Völkern,
die sich durch Freiheitssinn auszeichneten, Griechen, Römern,
Germanen, die vornehme Geburt einen Wert besass, der weit
über die reale Macht und Bedeutung der Persönlichkeit
hinausreichte. Die edle Abstammung, die Ahnenreihe, die von
den Göttern ausgeht, erscheint fast als das höchste dessen,
was der griechische Dichter preist; für den Römer drückte
die unfreie Abstammung einen durch nichts zu tilgenden
Makel auf, und bei den Germanen begründete der Unter-
schied der Geburt zugleich einen rechtlichen Gegensatz. Dies
ist wohl die Nachwirkung der Zeit der unbedingten Familien-
solidarität, in der die ganze Familie zu Schutz und Trutz
hinter dem Einzelnen stand, welcher dadurch in demselben
Masse angesehener und bedeutender war, als seine Familie
gross und mächtig war. Wenn etwa bei den Sachsen das
Wehrgeld eines Adligen das Sechsfache dessen für einen Ge-
meinfreien betrug, so erscheint dies nur als rechtliche
Fixierung der Thatsache, dass eine grosse und mächtige Fa-
milie den Mord eines ihrer Mitglieder viel kräftiger und
schärfer rächen konnte und rächte als eine unbedeutendere.
Die Zugehörigkeit zu einer solchen Familie behielt diese so-
ciale Wirkung noch dann, als das eigentlich wirkende und

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bloſses Mitglied der feindlichen Gruppe erblickt. Feindliche
Berührungen sind in viel höherem Maſse kollektivistisch als
freundliche, und umgekehrt pflegen kollektivistische Be-
ziehungen der Gruppen zu einander überwiegend feindseliger
Natur zu sein und zwar bis in die höchsten Kulturen hinein,
weil auch in diesen noch jeder Staat absolut egoistisch ist;
wo selbst solche freundlicherer Art von Stamm zu Stamm
stattfinden, sind sie doch im ganzen nur die Grundlage für
individuelle Beziehungen — Handel, Connubium, Gastfreund-
schaft u. s. w. —, räumen nur die Hindernisse weg, die diesen
sonst von Stammes wegen entgegenstehen; und wo sie positi-
veren Inhalt annehmen, wo die Vereinigung ganzer Stämme
mit einander anders als durch gewaltsame Unterwerfung und
Verschmelzung geschieht, da pflegt doch der Zweck davon
kein anderer als ein kriegerischer, eine gemeinsame Offensive
oder Defensive zu sein, so daſs auch hier nicht nur dem
Dritten gegenüber der Einzelne seine Bedeutung nur als Mit-
glied des Stammes und durch die Solidarität mit diesem hat,
sondern auch die Verbündeten untereinander nur vom Stand-
punkt des Stammesinteresses aus miteinander zu thun haben;
was sie aber zusammenführt und verknüpft, ist nur das ge-
meinsame Verhältnis zum Feinde, und der Einzelne hat einen
Wert nur insofern, als die Gruppe hinter ihm steht. Diese
aus praktischen Gründen erforderte Solidarität hat nun man-
cherlei Folgen, die sich weit über Dauer und Umfang ihrer
ursprünglichen Veranlassung hinaus erstrecken. Es ist mit
Recht hervorgehoben worden, daſs gerade bei den Völkern,
die sich durch Freiheitssinn auszeichneten, Griechen, Römern,
Germanen, die vornehme Geburt einen Wert besaſs, der weit
über die reale Macht und Bedeutung der Persönlichkeit
hinausreichte. Die edle Abstammung, die Ahnenreihe, die von
den Göttern ausgeht, erscheint fast als das höchste dessen,
was der griechische Dichter preist; für den Römer drückte
die unfreie Abstammung einen durch nichts zu tilgenden
Makel auf, und bei den Germanen begründete der Unter-
schied der Geburt zugleich einen rechtlichen Gegensatz. Dies
ist wohl die Nachwirkung der Zeit der unbedingten Familien-
solidarität, in der die ganze Familie zu Schutz und Trutz
hinter dem Einzelnen stand, welcher dadurch in demselben
Maſse angesehener und bedeutender war, als seine Familie
groſs und mächtig war. Wenn etwa bei den Sachsen das
Wehrgeld eines Adligen das Sechsfache dessen für einen Ge-
meinfreien betrug, so erscheint dies nur als rechtliche
Fixierung der Thatsache, daſs eine groſse und mächtige Fa-
milie den Mord eines ihrer Mitglieder viel kräftiger und
schärfer rächen konnte und rächte als eine unbedeutendere.
Die Zugehörigkeit zu einer solchen Familie behielt diese so-
ciale Wirkung noch dann, als das eigentlich wirkende und

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[29/0043] X 1. bloſses Mitglied der feindlichen Gruppe erblickt. Feindliche Berührungen sind in viel höherem Maſse kollektivistisch als freundliche, und umgekehrt pflegen kollektivistische Be- ziehungen der Gruppen zu einander überwiegend feindseliger Natur zu sein und zwar bis in die höchsten Kulturen hinein, weil auch in diesen noch jeder Staat absolut egoistisch ist; wo selbst solche freundlicherer Art von Stamm zu Stamm stattfinden, sind sie doch im ganzen nur die Grundlage für individuelle Beziehungen — Handel, Connubium, Gastfreund- schaft u. s. w. —, räumen nur die Hindernisse weg, die diesen sonst von Stammes wegen entgegenstehen; und wo sie positi- veren Inhalt annehmen, wo die Vereinigung ganzer Stämme mit einander anders als durch gewaltsame Unterwerfung und Verschmelzung geschieht, da pflegt doch der Zweck davon kein anderer als ein kriegerischer, eine gemeinsame Offensive oder Defensive zu sein, so daſs auch hier nicht nur dem Dritten gegenüber der Einzelne seine Bedeutung nur als Mit- glied des Stammes und durch die Solidarität mit diesem hat, sondern auch die Verbündeten untereinander nur vom Stand- punkt des Stammesinteresses aus miteinander zu thun haben; was sie aber zusammenführt und verknüpft, ist nur das ge- meinsame Verhältnis zum Feinde, und der Einzelne hat einen Wert nur insofern, als die Gruppe hinter ihm steht. Diese aus praktischen Gründen erforderte Solidarität hat nun man- cherlei Folgen, die sich weit über Dauer und Umfang ihrer ursprünglichen Veranlassung hinaus erstrecken. Es ist mit Recht hervorgehoben worden, daſs gerade bei den Völkern, die sich durch Freiheitssinn auszeichneten, Griechen, Römern, Germanen, die vornehme Geburt einen Wert besaſs, der weit über die reale Macht und Bedeutung der Persönlichkeit hinausreichte. Die edle Abstammung, die Ahnenreihe, die von den Göttern ausgeht, erscheint fast als das höchste dessen, was der griechische Dichter preist; für den Römer drückte die unfreie Abstammung einen durch nichts zu tilgenden Makel auf, und bei den Germanen begründete der Unter- schied der Geburt zugleich einen rechtlichen Gegensatz. Dies ist wohl die Nachwirkung der Zeit der unbedingten Familien- solidarität, in der die ganze Familie zu Schutz und Trutz hinter dem Einzelnen stand, welcher dadurch in demselben Maſse angesehener und bedeutender war, als seine Familie groſs und mächtig war. Wenn etwa bei den Sachsen das Wehrgeld eines Adligen das Sechsfache dessen für einen Ge- meinfreien betrug, so erscheint dies nur als rechtliche Fixierung der Thatsache, daſs eine groſse und mächtige Fa- milie den Mord eines ihrer Mitglieder viel kräftiger und schärfer rächen konnte und rächte als eine unbedeutendere. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Familie behielt diese so- ciale Wirkung noch dann, als das eigentlich wirkende und

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/43>, abgerufen am 21.11.2024.