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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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der Einzelne seine egoistischen oder altruistischen Zwecke,
soweit er sie überhaupt durchsetzen kann, mit relativ ein-
fachen Mitteln erreichen. Je grösser sein socialer Kreis wird,
desto mehr Umwege braucht er dazu, weil die komplizierteren
Verhältnisse uns vielerlei Dinge wünschenswert machen, die
von unserer augenblicklichen Machtsphäre weit entfernt sind,
weil sie ferner an unsere Ziele manche Nebenerfolge knüpfen,
die vermieden werden müssen, weil endlich das einzelne von
so vielen Bewerbern gesucht wird, dass der direkte Weg auf
jenes zu oft das Letzte ist, und die Hauptsache in dem oft sehr
komplizierten Unschädlichmachen der Konkurrenten und in
der Gewinnung von Beiständen besteht, die ihrerseits wieder
nur indirekt erlangbar und verwendbar sind. Die Folge von
alledem ist, dass zum Erreichen des eigentlichen egoistischen
Zieles wir in grösseren Kreisen vielerlei thun müssen, was nicht
unmittelbar egoistisch ist, vielerlei Kräfte in Bewegung setzen,
die ihren eigenen Gesetzen und Zwecken folgen, wenn sie
auch schliesslich die unseren fördern. In je weiteren Ver-
hältnissen wir leben, desto weniger pflegt die Arbeit für das
eigene Glück dieses unmittelbar zu bereiten, sondern besteht
in der Bearbeitung äusserer und hauptsächlich menschlicher
Objekte, welche dann erst lusterweckend auf uns zurück-
wirken. Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein
-- zu den Mitteln müssen wir uns aus uns selbst entfernen.
Abgesehen nun davon, dass dies die Sittlichkeit der subjek-
tiven Gesinnung insofern fördert, als das so erforderliche
Kennenlernen objektiver Verhältnisse sehr oft auch ein In-
teresse für sie hervorruft und die Hingabe an andere Men-
schen und Dinge um selbstischer Endzwecke willen häufig in
einer selbstlosen Hingabe an sie gemündet hat -- abgesehen
hiervon, sind die Umwege zu jenem Endzwecke oft durchaus
sittlicher Natur; je grösser der sociale Kreis ist, je ent-
wickelter namentlich die wirtschaftlichen Beziehungen, desto
häufiger muss ich den Interessen anderer dienen, wenn ich
will, dass sie den meinen dienen sollen. Dies bringt eine
Versittlichung der gesamten socialen Lebensatmosphäre mit
sich, die nur deshalb im Unbewussten zu bleiben pflegt, weil
die Endzwecke, um derentwillen sie entsteht, egoistische
sind. Die innere Sittlichkeit des Individuums wird darum
zunächst noch keine höhere, weil über diese nicht die That
zu gunsten der anderen, sondern die Gesinnung entscheidet,
aus der heraus sie geschieht; dennoch müssen die thatsäch-
lichen Erfolge sittlich genannt werden, insofern sie die För-
derung anderer mit sich bringen; und da dies mit der Aus-
dehnung unserer Beziehungen immer notwendigeres Vehikel
zu unsern Zwecken wird, so lässt die Vergrösserung des
Kreises uns thatsächlich sittlicher handeln, ohne dass wir
eigentlich ein Verdienst daran hätten. Auch liegt die Ur-

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der Einzelne seine egoistischen oder altruistischen Zwecke,
soweit er sie überhaupt durchsetzen kann, mit relativ ein-
fachen Mitteln erreichen. Je gröſser sein socialer Kreis wird,
desto mehr Umwege braucht er dazu, weil die komplizierteren
Verhältnisse uns vielerlei Dinge wünschenswert machen, die
von unserer augenblicklichen Machtsphäre weit entfernt sind,
weil sie ferner an unsere Ziele manche Nebenerfolge knüpfen,
die vermieden werden müssen, weil endlich das einzelne von
so vielen Bewerbern gesucht wird, daſs der direkte Weg auf
jenes zu oft das Letzte ist, und die Hauptsache in dem oft sehr
komplizierten Unschädlichmachen der Konkurrenten und in
der Gewinnung von Beiständen besteht, die ihrerseits wieder
nur indirekt erlangbar und verwendbar sind. Die Folge von
alledem ist, daſs zum Erreichen des eigentlichen egoistischen
Zieles wir in gröſseren Kreisen vielerlei thun müssen, was nicht
unmittelbar egoistisch ist, vielerlei Kräfte in Bewegung setzen,
die ihren eigenen Gesetzen und Zwecken folgen, wenn sie
auch schlieſslich die unseren fördern. In je weiteren Ver-
hältnissen wir leben, desto weniger pflegt die Arbeit für das
eigene Glück dieses unmittelbar zu bereiten, sondern besteht
in der Bearbeitung äuſserer und hauptsächlich menschlicher
Objekte, welche dann erst lusterweckend auf uns zurück-
wirken. Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein
— zu den Mitteln müssen wir uns aus uns selbst entfernen.
Abgesehen nun davon, daſs dies die Sittlichkeit der subjek-
tiven Gesinnung insofern fördert, als das so erforderliche
Kennenlernen objektiver Verhältnisse sehr oft auch ein In-
teresse für sie hervorruft und die Hingabe an andere Men-
schen und Dinge um selbstischer Endzwecke willen häufig in
einer selbstlosen Hingabe an sie gemündet hat — abgesehen
hiervon, sind die Umwege zu jenem Endzwecke oft durchaus
sittlicher Natur; je gröſser der sociale Kreis ist, je ent-
wickelter namentlich die wirtschaftlichen Beziehungen, desto
häufiger muſs ich den Interessen anderer dienen, wenn ich
will, daſs sie den meinen dienen sollen. Dies bringt eine
Versittlichung der gesamten socialen Lebensatmosphäre mit
sich, die nur deshalb im Unbewuſsten zu bleiben pflegt, weil
die Endzwecke, um derentwillen sie entsteht, egoistische
sind. Die innere Sittlichkeit des Individuums wird darum
zunächst noch keine höhere, weil über diese nicht die That
zu gunsten der anderen, sondern die Gesinnung entscheidet,
aus der heraus sie geschieht; dennoch müssen die thatsäch-
lichen Erfolge sittlich genannt werden, insofern sie die För-
derung anderer mit sich bringen; und da dies mit der Aus-
dehnung unserer Beziehungen immer notwendigeres Vehikel
zu unsern Zwecken wird, so läſst die Vergröſserung des
Kreises uns thatsächlich sittlicher handeln, ohne daſs wir
eigentlich ein Verdienst daran hätten. Auch liegt die Ur-

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[42/0056] X 1. der Einzelne seine egoistischen oder altruistischen Zwecke, soweit er sie überhaupt durchsetzen kann, mit relativ ein- fachen Mitteln erreichen. Je gröſser sein socialer Kreis wird, desto mehr Umwege braucht er dazu, weil die komplizierteren Verhältnisse uns vielerlei Dinge wünschenswert machen, die von unserer augenblicklichen Machtsphäre weit entfernt sind, weil sie ferner an unsere Ziele manche Nebenerfolge knüpfen, die vermieden werden müssen, weil endlich das einzelne von so vielen Bewerbern gesucht wird, daſs der direkte Weg auf jenes zu oft das Letzte ist, und die Hauptsache in dem oft sehr komplizierten Unschädlichmachen der Konkurrenten und in der Gewinnung von Beiständen besteht, die ihrerseits wieder nur indirekt erlangbar und verwendbar sind. Die Folge von alledem ist, daſs zum Erreichen des eigentlichen egoistischen Zieles wir in gröſseren Kreisen vielerlei thun müssen, was nicht unmittelbar egoistisch ist, vielerlei Kräfte in Bewegung setzen, die ihren eigenen Gesetzen und Zwecken folgen, wenn sie auch schlieſslich die unseren fördern. In je weiteren Ver- hältnissen wir leben, desto weniger pflegt die Arbeit für das eigene Glück dieses unmittelbar zu bereiten, sondern besteht in der Bearbeitung äuſserer und hauptsächlich menschlicher Objekte, welche dann erst lusterweckend auf uns zurück- wirken. Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein — zu den Mitteln müssen wir uns aus uns selbst entfernen. Abgesehen nun davon, daſs dies die Sittlichkeit der subjek- tiven Gesinnung insofern fördert, als das so erforderliche Kennenlernen objektiver Verhältnisse sehr oft auch ein In- teresse für sie hervorruft und die Hingabe an andere Men- schen und Dinge um selbstischer Endzwecke willen häufig in einer selbstlosen Hingabe an sie gemündet hat — abgesehen hiervon, sind die Umwege zu jenem Endzwecke oft durchaus sittlicher Natur; je gröſser der sociale Kreis ist, je ent- wickelter namentlich die wirtschaftlichen Beziehungen, desto häufiger muſs ich den Interessen anderer dienen, wenn ich will, daſs sie den meinen dienen sollen. Dies bringt eine Versittlichung der gesamten socialen Lebensatmosphäre mit sich, die nur deshalb im Unbewuſsten zu bleiben pflegt, weil die Endzwecke, um derentwillen sie entsteht, egoistische sind. Die innere Sittlichkeit des Individuums wird darum zunächst noch keine höhere, weil über diese nicht die That zu gunsten der anderen, sondern die Gesinnung entscheidet, aus der heraus sie geschieht; dennoch müssen die thatsäch- lichen Erfolge sittlich genannt werden, insofern sie die För- derung anderer mit sich bringen; und da dies mit der Aus- dehnung unserer Beziehungen immer notwendigeres Vehikel zu unsern Zwecken wird, so läſst die Vergröſserung des Kreises uns thatsächlich sittlicher handeln, ohne daſs wir eigentlich ein Verdienst daran hätten. Auch liegt die Ur-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/56>, abgerufen am 24.11.2024.