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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Gottes näher zu bringen: da dies aber für sie nur in einer
Inspiration und nervösen Exaltation besteht, so muss offenbar
das blosse, auch schweigende Beieinandersein die letztere be-
günstigen. Ein englischer Quäker am Ende des 17. Jahr-
hunderts beschreibt ekstatische Erscheinungen, die an einem
Mitglied der Versammlung vorgehen, und fährt fort: In Kraft
der Verbindung aller Glieder einer Gemeinde zu einem Leibe
teile sich häufig ein solcher Zustand eines Einzelnen allen mit,
sodass eine ergreifende fruchtbare Erscheinung zu Tage ge-
fördert werde, die schon viele dem Vereine unwiderstehlich
gewonnen habe. Man kann geradezu von einer Nervosität
grosser Massen sprechen; eine Empfindlichkeit, eine Leiden-
schaft, eine Excentricität ist ihnen oft zu eigen, die an keinem
einzigen ihrer Mitglieder oder vielleicht nur an äusserst
wenigen, für sich allein betrachtet, zu konstatieren wäre.

Alle diese Erscheinungen weisen auf diejenige psycho-
logische Stufe hin, auf der das Seelenleben noch überwiegend
von der Association bestimmt wird. Höhere geistige Ent-
wicklung unterbricht die associativen Zusammenhänge, die
die Elemente des Seelenlebens so mechanisch untereinander
verknüpfen, dass sich an die Erregung irgendeines Punktes
oft die weitgehendste Erschütterung in einer Stärke und durch
Gebiete hindurch heftet, die in gar keinem sachlichen Ver-
hältnis zu jenem Ausgangspunkte stehen; steigende Differen-
zierung verselbständigt die einzelnen Bewusstseinselemente
derart, dass sie mehr und mehr nur logisch gerechtfertigte
Verbindungen eingehen und sich aus den Verwandtschaften
lösen, die aus der verschwimmenden Unklarheit und dem
Mangel scharfer Umgrenzung bei primitiven Vorstellungen
hervorgehen. Solange aber diese noch herrschen, ist auch
ein Überwiegen der Gefühle über die Verstandesfunktionen zu
beobachten. Denn wie viel oder wenig Wahrheit jene Lehre
haben mag, dass die Gefühle nur undeutliche Gedanken sind,
in jedem Falle bewirkt Verschwommenheit, unklares Durch-
einandergehen der Vorstellungsinhalte eine relativ lebhafte
Anregung des Gefühlsvermögens. Je niedriger also das in-
tellektuelle Niveau ist, je mehr unsichere Begrenzung der
Vorstellungsinhalte jeden derselben mit jedem irgendwie ver-
knüpft, desto erregbarer sind die Gefühle und desto weniger
werden namentlich Willensäusserungen durch scharf um-
grenzte und logisch gegliederte Vorstellungsreihen hervor-
gerufen werden, sondern durch jene Gesamterregung des
Geistes, die aus der Fortpflanzung eines gegebenen Anstosses
erfolgt und ebenso Ursache wie Folge von Fluktuierungen
des Gefühls ist. Indem also die Aufnahme eines Gedankens
oder Impulses durch eine grössere Menge ihm die begriffliche
Schärfe nimmt -- schon weil die Auffassung jedes Einzelnen
durch die seiner Genossen beeinflusst wird --, ist die psycho-

Forschungen (42) X 1. -- Simmel. 6

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Gottes näher zu bringen: da dies aber für sie nur in einer
Inspiration und nervösen Exaltation besteht, so muſs offenbar
das bloſse, auch schweigende Beieinandersein die letztere be-
günstigen. Ein englischer Quäker am Ende des 17. Jahr-
hunderts beschreibt ekstatische Erscheinungen, die an einem
Mitglied der Versammlung vorgehen, und fährt fort: In Kraft
der Verbindung aller Glieder einer Gemeinde zu einem Leibe
teile sich häufig ein solcher Zustand eines Einzelnen allen mit,
sodaſs eine ergreifende fruchtbare Erscheinung zu Tage ge-
fördert werde, die schon viele dem Vereine unwiderstehlich
gewonnen habe. Man kann geradezu von einer Nervosität
grosser Massen sprechen; eine Empfindlichkeit, eine Leiden-
schaft, eine Excentricität ist ihnen oft zu eigen, die an keinem
einzigen ihrer Mitglieder oder vielleicht nur an äusserst
wenigen, für sich allein betrachtet, zu konstatieren wäre.

Alle diese Erscheinungen weisen auf diejenige psycho-
logische Stufe hin, auf der das Seelenleben noch überwiegend
von der Association bestimmt wird. Höhere geistige Ent-
wicklung unterbricht die associativen Zusammenhänge, die
die Elemente des Seelenlebens so mechanisch untereinander
verknüpfen, daſs sich an die Erregung irgendeines Punktes
oft die weitgehendste Erschütterung in einer Stärke und durch
Gebiete hindurch heftet, die in gar keinem sachlichen Ver-
hältnis zu jenem Ausgangspunkte stehen; steigende Differen-
zierung verselbständigt die einzelnen Bewuſstseinselemente
derart, daſs sie mehr und mehr nur logisch gerechtfertigte
Verbindungen eingehen und sich aus den Verwandtschaften
lösen, die aus der verschwimmenden Unklarheit und dem
Mangel scharfer Umgrenzung bei primitiven Vorstellungen
hervorgehen. Solange aber diese noch herrschen, ist auch
ein Überwiegen der Gefühle über die Verstandesfunktionen zu
beobachten. Denn wie viel oder wenig Wahrheit jene Lehre
haben mag, daſs die Gefühle nur undeutliche Gedanken sind,
in jedem Falle bewirkt Verschwommenheit, unklares Durch-
einandergehen der Vorstellungsinhalte eine relativ lebhafte
Anregung des Gefühlsvermögens. Je niedriger also das in-
tellektuelle Niveau ist, je mehr unsichere Begrenzung der
Vorstellungsinhalte jeden derselben mit jedem irgendwie ver-
knüpft, desto erregbarer sind die Gefühle und desto weniger
werden namentlich Willensäuſserungen durch scharf um-
grenzte und logisch gegliederte Vorstellungsreihen hervor-
gerufen werden, sondern durch jene Gesamterregung des
Geistes, die aus der Fortpflanzung eines gegebenen Anstoſses
erfolgt und ebenso Ursache wie Folge von Fluktuierungen
des Gefühls ist. Indem also die Aufnahme eines Gedankens
oder Impulses durch eine gröſsere Menge ihm die begriffliche
Schärfe nimmt — schon weil die Auffassung jedes Einzelnen
durch die seiner Genossen beeinfluſst wird —, ist die psycho-

Forschungen (42) X 1. — Simmel. 6
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[81/0095] X 1. Gottes näher zu bringen: da dies aber für sie nur in einer Inspiration und nervösen Exaltation besteht, so muſs offenbar das bloſse, auch schweigende Beieinandersein die letztere be- günstigen. Ein englischer Quäker am Ende des 17. Jahr- hunderts beschreibt ekstatische Erscheinungen, die an einem Mitglied der Versammlung vorgehen, und fährt fort: In Kraft der Verbindung aller Glieder einer Gemeinde zu einem Leibe teile sich häufig ein solcher Zustand eines Einzelnen allen mit, sodaſs eine ergreifende fruchtbare Erscheinung zu Tage ge- fördert werde, die schon viele dem Vereine unwiderstehlich gewonnen habe. Man kann geradezu von einer Nervosität grosser Massen sprechen; eine Empfindlichkeit, eine Leiden- schaft, eine Excentricität ist ihnen oft zu eigen, die an keinem einzigen ihrer Mitglieder oder vielleicht nur an äusserst wenigen, für sich allein betrachtet, zu konstatieren wäre. Alle diese Erscheinungen weisen auf diejenige psycho- logische Stufe hin, auf der das Seelenleben noch überwiegend von der Association bestimmt wird. Höhere geistige Ent- wicklung unterbricht die associativen Zusammenhänge, die die Elemente des Seelenlebens so mechanisch untereinander verknüpfen, daſs sich an die Erregung irgendeines Punktes oft die weitgehendste Erschütterung in einer Stärke und durch Gebiete hindurch heftet, die in gar keinem sachlichen Ver- hältnis zu jenem Ausgangspunkte stehen; steigende Differen- zierung verselbständigt die einzelnen Bewuſstseinselemente derart, daſs sie mehr und mehr nur logisch gerechtfertigte Verbindungen eingehen und sich aus den Verwandtschaften lösen, die aus der verschwimmenden Unklarheit und dem Mangel scharfer Umgrenzung bei primitiven Vorstellungen hervorgehen. Solange aber diese noch herrschen, ist auch ein Überwiegen der Gefühle über die Verstandesfunktionen zu beobachten. Denn wie viel oder wenig Wahrheit jene Lehre haben mag, daſs die Gefühle nur undeutliche Gedanken sind, in jedem Falle bewirkt Verschwommenheit, unklares Durch- einandergehen der Vorstellungsinhalte eine relativ lebhafte Anregung des Gefühlsvermögens. Je niedriger also das in- tellektuelle Niveau ist, je mehr unsichere Begrenzung der Vorstellungsinhalte jeden derselben mit jedem irgendwie ver- knüpft, desto erregbarer sind die Gefühle und desto weniger werden namentlich Willensäuſserungen durch scharf um- grenzte und logisch gegliederte Vorstellungsreihen hervor- gerufen werden, sondern durch jene Gesamterregung des Geistes, die aus der Fortpflanzung eines gegebenen Anstoſses erfolgt und ebenso Ursache wie Folge von Fluktuierungen des Gefühls ist. Indem also die Aufnahme eines Gedankens oder Impulses durch eine gröſsere Menge ihm die begriffliche Schärfe nimmt — schon weil die Auffassung jedes Einzelnen durch die seiner Genossen beeinfluſst wird —, ist die psycho- Forschungen (42) X 1. — Simmel. 6

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/95>, abgerufen am 24.11.2024.