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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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dass die Nachahmung eines der hauptsächlichen Mittel gegen-
seitigen Verständnisses ist; vermöge der vorhin betonten Asso-
ciation zwischen der äusseren Handlung und dem ihr zu grunde
liegenden Bewusstseinsvorgang giebt uns die Nachahmung der
Handlung eines andern oft erst den Schlüssel zu ihrem inner-
lichen Verständnis, indem die Gefühle, die früher auch bei
uns die Handlung hervorriefen, erst durch jene psychologi-
sche Hülfe ihre Reproduktion erfahren. Dem volkstümlichen
Ausdruck, dass man, um irgendeine Handlungsweise eines
anderen recht zu begreifen, erst in seiner Haut stecken müsse,
liegt eine tiefe psychologische Wahrheit zu Grunde, und die
Nachahmung des anderen lässt uns wenigstens soweit in seiner
Haut stecken, als sie eine partielle Gleichheit mit ihm bedeutet;
wie sehr aber das gegenseitige Verständnis die Schranken
zwischen Mensch und Mensch niederreisst, wieviel es zur Her-
stellung eines gemeinsamen geistigen Besitzes beiträgt, bedarf
keiner Ausführung. Auch ist kein Zweifel, dass wir für die
ungeheure Mehrzahl unserer Thätigkeiten auf Nachahmung
vorgefundener Formen angewiesen sind, was uns nur nicht
ins Bewusstsein tritt, weil das uns und andere Interessierende
eben nicht dies, sondern das Eigene und Originelle an uns
ist. Ebenso sicher ist freilich die Niedrigkeit des Geistes,
dessen Bewegungen in der Form der Nachahmung befangen
bleiben, weil, bei der durchgehenden Tendenz auf diese, das
am häufigsten Geschehende, am häufigsten zur Nachahmung
Auffordernde die Norm des Handelns abgeben wird, das sich
demnach mit dem trivialsten Inhalt füllen wird. Wenn nun
auch diese Art des geistigen Lebens ihrem Begriffe nach die
weit überwiegende sein muss, so hat doch das wachsende
Streben nach Differenzierung eine Form geschaffen, die alle
Vorteile der Nachahmung und socialen Anlehnung, zugleich
aber auch den Reiz einer wechselvollen Differenzierung be-
sitzt: die Mode. Im Mitmachen der Mode auf jeglichem Ge-
biet ist der Einzelne sociales Wesen kat' exokhen. Die Qual
der Wahl, die Verantwortung derselben anderen gegenüber ist
ihm erspart; mit der Bequemlichkeit des Thuns verbindet sich
die Sicherheit der allgemeinen Billigung. Indem aber die
Mode nun ihrem Inhalte nach in stetem Wechsel begriffen
ist, befriedigt sie zugleich das Bedürfnis der Verschiedenheit
und stellt eine Differenzierung im Nacheinander dar; der Un-
terschied der heutigen Mode gegen die von gestern und vor-
gestern, die Zusammendrängung des auf sie gerichteten Be-
wusstseins an einem Punkt, der sich gegen das Vorher und
das Nachher oft aufs schärfste abscheidet, die Abwechselungen
und Übergänge in ihr, die an die Verhältnisse, Streitigkeiten,
Kompromisse zwischen Individualitäten erinnern, -- alles
dieses ersetzt vielen Geistern in der Mode die Reize eines

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daſs die Nachahmung eines der hauptsächlichen Mittel gegen-
seitigen Verständnisses ist; vermöge der vorhin betonten Asso-
ciation zwischen der äuſseren Handlung und dem ihr zu grunde
liegenden Bewuſstseinsvorgang giebt uns die Nachahmung der
Handlung eines andern oft erst den Schlüssel zu ihrem inner-
lichen Verständnis, indem die Gefühle, die früher auch bei
uns die Handlung hervorriefen, erst durch jene psychologi-
sche Hülfe ihre Reproduktion erfahren. Dem volkstümlichen
Ausdruck, daſs man, um irgendeine Handlungsweise eines
anderen recht zu begreifen, erst in seiner Haut stecken müsse,
liegt eine tiefe psychologische Wahrheit zu Grunde, und die
Nachahmung des anderen läſst uns wenigstens soweit in seiner
Haut stecken, als sie eine partielle Gleichheit mit ihm bedeutet;
wie sehr aber das gegenseitige Verständnis die Schranken
zwischen Mensch und Mensch niederreiſst, wieviel es zur Her-
stellung eines gemeinsamen geistigen Besitzes beiträgt, bedarf
keiner Ausführung. Auch ist kein Zweifel, daſs wir für die
ungeheure Mehrzahl unserer Thätigkeiten auf Nachahmung
vorgefundener Formen angewiesen sind, was uns nur nicht
ins Bewuſstsein tritt, weil das uns und andere Interessierende
eben nicht dies, sondern das Eigene und Originelle an uns
ist. Ebenso sicher ist freilich die Niedrigkeit des Geistes,
dessen Bewegungen in der Form der Nachahmung befangen
bleiben, weil, bei der durchgehenden Tendenz auf diese, das
am häufigsten Geschehende, am häufigsten zur Nachahmung
Auffordernde die Norm des Handelns abgeben wird, das sich
demnach mit dem trivialsten Inhalt füllen wird. Wenn nun
auch diese Art des geistigen Lebens ihrem Begriffe nach die
weit überwiegende sein muſs, so hat doch das wachsende
Streben nach Differenzierung eine Form geschaffen, die alle
Vorteile der Nachahmung und socialen Anlehnung, zugleich
aber auch den Reiz einer wechselvollen Differenzierung be-
sitzt: die Mode. Im Mitmachen der Mode auf jeglichem Ge-
biet ist der Einzelne sociales Wesen κατ᾽ ἐξοχήν. Die Qual
der Wahl, die Verantwortung derselben anderen gegenüber ist
ihm erspart; mit der Bequemlichkeit des Thuns verbindet sich
die Sicherheit der allgemeinen Billigung. Indem aber die
Mode nun ihrem Inhalte nach in stetem Wechsel begriffen
ist, befriedigt sie zugleich das Bedürfnis der Verschiedenheit
und stellt eine Differenzierung im Nacheinander dar; der Un-
terschied der heutigen Mode gegen die von gestern und vor-
gestern, die Zusammendrängung des auf sie gerichteten Be-
wuſstseins an einem Punkt, der sich gegen das Vorher und
das Nachher oft aufs schärfste abscheidet, die Abwechselungen
und Übergänge in ihr, die an die Verhältnisse, Streitigkeiten,
Kompromisse zwischen Individualitäten erinnern, — alles
dieses ersetzt vielen Geistern in der Mode die Reize eines

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[84/0098] X 1. daſs die Nachahmung eines der hauptsächlichen Mittel gegen- seitigen Verständnisses ist; vermöge der vorhin betonten Asso- ciation zwischen der äuſseren Handlung und dem ihr zu grunde liegenden Bewuſstseinsvorgang giebt uns die Nachahmung der Handlung eines andern oft erst den Schlüssel zu ihrem inner- lichen Verständnis, indem die Gefühle, die früher auch bei uns die Handlung hervorriefen, erst durch jene psychologi- sche Hülfe ihre Reproduktion erfahren. Dem volkstümlichen Ausdruck, daſs man, um irgendeine Handlungsweise eines anderen recht zu begreifen, erst in seiner Haut stecken müsse, liegt eine tiefe psychologische Wahrheit zu Grunde, und die Nachahmung des anderen läſst uns wenigstens soweit in seiner Haut stecken, als sie eine partielle Gleichheit mit ihm bedeutet; wie sehr aber das gegenseitige Verständnis die Schranken zwischen Mensch und Mensch niederreiſst, wieviel es zur Her- stellung eines gemeinsamen geistigen Besitzes beiträgt, bedarf keiner Ausführung. Auch ist kein Zweifel, daſs wir für die ungeheure Mehrzahl unserer Thätigkeiten auf Nachahmung vorgefundener Formen angewiesen sind, was uns nur nicht ins Bewuſstsein tritt, weil das uns und andere Interessierende eben nicht dies, sondern das Eigene und Originelle an uns ist. Ebenso sicher ist freilich die Niedrigkeit des Geistes, dessen Bewegungen in der Form der Nachahmung befangen bleiben, weil, bei der durchgehenden Tendenz auf diese, das am häufigsten Geschehende, am häufigsten zur Nachahmung Auffordernde die Norm des Handelns abgeben wird, das sich demnach mit dem trivialsten Inhalt füllen wird. Wenn nun auch diese Art des geistigen Lebens ihrem Begriffe nach die weit überwiegende sein muſs, so hat doch das wachsende Streben nach Differenzierung eine Form geschaffen, die alle Vorteile der Nachahmung und socialen Anlehnung, zugleich aber auch den Reiz einer wechselvollen Differenzierung be- sitzt: die Mode. Im Mitmachen der Mode auf jeglichem Ge- biet ist der Einzelne sociales Wesen κατ᾽ ἐξοχήν. Die Qual der Wahl, die Verantwortung derselben anderen gegenüber ist ihm erspart; mit der Bequemlichkeit des Thuns verbindet sich die Sicherheit der allgemeinen Billigung. Indem aber die Mode nun ihrem Inhalte nach in stetem Wechsel begriffen ist, befriedigt sie zugleich das Bedürfnis der Verschiedenheit und stellt eine Differenzierung im Nacheinander dar; der Un- terschied der heutigen Mode gegen die von gestern und vor- gestern, die Zusammendrängung des auf sie gerichteten Be- wuſstseins an einem Punkt, der sich gegen das Vorher und das Nachher oft aufs schärfste abscheidet, die Abwechselungen und Übergänge in ihr, die an die Verhältnisse, Streitigkeiten, Kompromisse zwischen Individualitäten erinnern, — alles dieses ersetzt vielen Geistern in der Mode die Reize eines

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/98>, abgerufen am 23.11.2024.